Venezuela: Die Versammlung entscheidet

Der zentral-westliche Bundesstaat Lara in Venezuela ist reich an Erfahrungen mit Selbstverwaltung

venezuela_cecosesola_markt_ii.jpg

Markt  der Kooperative Cecosesola
Markt der Kooperative Cecosesola

Erfolgreiche Projekte mit unterschiedlichem politischem Hintergrund bestehen hier nebeneinander. Sinnbildlich dafür stehen das unabhängige Kooperativennetzwerk Cecosesola und die sozialistische Comuna El Maizal.

Obst und Gemüse stapeln sich auf Tischen. An den Kassen der großen Markthalle bilden sich lange Schlangen. Abgesehen von einzelnen Ausnahmen wird alles zum Einheitspreis von umgerechnet etwa einem Euro pro Kilo verkauft. In einem kleineren Bereich daneben gibt es leicht lädierte Sorten für die Hälfte. Auch hier ist viel los. "Früher war dieser Nebenmarkt weniger voll", erklärt Georg "Jorge" Rath. "Aber durch die Krise haben die Menschen momentan kaum Kaufkraft, das merken wir auch hier."

In dem Gewerbegebiet im ärmeren Westen von Barquisimeto betreibt das Kooperativennetzwerk Cecosesola einen seiner fünf in der der venezolanischen Millionenstadt verteilten Wochenmärkte. Geliefert werden die Produkte ohne Zwischenhändler:innen direkt von Kooperativen aus der Region, neben Obst und Gemüse zählen dazu auch Pasta oder Honig. Dabei handelt es nicht etwa um eine kleine Nische. Etwa 70.000 Familien kaufen hier regelmäßig ein.

Nach Jahren der Krise, Hyperinflation, US-Sanktionen und intransparenter Wirtschaftsliberalisierung seitens der Regierung liegt der Mindestlohn derzeit bei umgerechnet 3,50 US-Dollar pro Monat. Hinzu kommen Lebensmittelgutscheine im Wert von 40 US-Dollar und ein "Wirtschaftskriegsbonus" von 90 Dollar. Bei einem Preisniveau, das bei vielen Produkten an Europa erinnert, kann davon allein niemand leben. Viele Venezolaner:innen müssen sich heute mit mehreren Jobs über Wasser halten oder bekommen Dollar von migrierten Angehörigen geschickt.

venezuela_rath_im_gesundheitszentrum.jpg

Georg Rath im Gesundheitszentrum von Cecosesola
Georg Rath im Gesundheitszentrum von Cecosesola

Wer bei Cecosesola einkauft, kriegt für das knappe Geld zumindest etwas mehr. Beim Rundgang auf dem Markt wird Jorge Rath ständig gegrüßt. Seit vielen Jahren arbeitet er bei Cecosesola, in Venezuela lebt der gebürtige Süddeutsche seit Ende der 1970er Jahre. "Es geht uns auch um einen Prozess der persönlichen und kulturellen Transformation", betont er. "Wir arbeiten daran, Beziehungen solidarischer und weniger individualistisch zu gestalten."

Das Kooperativennetzwerk funktioniert ohne Chefs und Hierarchien, dafür mit rotierenden Jobs und Einheitslohn. Regelmäßig finden Versammlungen statt, auf denen alle wichtigen Themen besprochen werden. Auch die Preise beschließen die Cooperativistas gemeinsam mit den angeschlossenen Produzent:innen. Neben den Märkten betreibt Cecosesola Gesundheitszentren, ein Spar- und Darlehenssystem sowie ein Beerdigungsinstitut. Genau genommen fing das Leben des Kooperativennetzwerkes mit dem Tod an. 1967 gründeten einige Jesuiten, die von der Befreiungstheologie inspiriert waren, das Bestattungsinstitut. Später versuchte Cecosesola, einen Teil des öffentlichen Nahverkehrs zu übernehmen. Das Projekt scheiterte jedoch, Anfang der 1980er Jahre drohte der Ruin. Die Rettung war ab Mitte der 1980er der Verkauf von Gemüse und Obst.

Aufgrund ihrer kommunitären Arbeit ist Cecosesola heute tief in der Region verwurzelt. Dies hilft dabei, auch in Krisenzeiten zu bestehen. "Im März 2019 hatten wir landesweit ein fünftägigen Stromausfall", erinnert sich Rath. "Die Kartenlesegeräte fielen aus und Bargeld gab es aufgrund der Hyperinflation nicht. 99 Prozent der Geschäfte ließen die Rollläden runter. Wir aber haben nach einer Lösung gesucht."

Diese war schnell gefunden. Cecosesola stellte Obst und Gemüse zur Verfügung und bat die Menschen darum zu bezahlen, sobald der Strom wieder da sei. Auch die Gesundheitsdienste liefen auf diese Art weiter. "Und das Erstaunliche war, dass hinterher 98 Prozent der Rechnungen beglichen wurden", so Rath. "Wenn so etwas klappt, dann wissen wir, dass wir wieder einen kleinen Schritt vorangekommen sind, ohne unsere Grundprinzipien zu verletzen."

International ist Cecosesola mit Kooperativen und Basisinitiativen vernetzt. Außerhalb der Szene bekannt wurde das Projekt spätestens vor zwei Jahren, als es den Right Livelihood Award verliehen bekam, auch bekannt als Alternativer Nobelpreis. "Das haben wir natürlich gefeiert", sagt Rath. "Vor allem aber bestärkt uns der Preis darin, unseren Prozess zu vertiefen und unser kommunitäres Engagement zu verstärken."

Dass sich ein Kooperativennetzwerk wie Cecosesola in Venezuela durch alle Krisen hindurch halten konnte, ist durchaus bemerkenswert. Noch beachtlicher ist, dass dies im Erdölland Venezuela ohne staatliche Unterstützung gelang. Auch nach der Regierungsübernahme von Hugo Chávez 1999 blieb Cecosesola auf Distanz zur Regierung, obwohl diese zwischenzeitlich massiv Geld in Genossenschaften investierte.

Das Kooperativengesetz von 2001 vereinfachte deren Gründung immens. Existierten bei Chávez`Amtsantritt 1999 landesweit gerade einmal 800 Kooperativen, vor allem im Transport- und Finanzsektor, stieg die Zahl bis 2009 auf über 270.000 an. Viele der neuen Genossenschaften entstanden im Dienstleistungs- und Agrarbereich. Doch war der Boom vor allem der finanziellen Förderung geschuldet. Die Mehrheit der neuen Betriebe überstand die Gründungsphase nicht oder war von vorn herein nur auf dem Papier geplant, um Fördermittel abzugreifen. Viele Kooperativen folgten zudem weiterhin kapitalistischen Logiken.

Zwar brachte Cecosesola wichtige Ideen in das Kooperativengesetz mit ein. In der Praxis blieb man aber stets unabhängig und wurde dafür seitens der Regierung teils kritisch beäugt. Dies lag zum einen daran, dass Cecosesola in zentralen staatlichen Politikfeldern wie Gesundheits- und Lebensmittelversorgung eigene nachhaltige Strukturen aufgebaut hatte. Zum anderen betonten die traditionellen Cooperativistas stets ihre Geschichte des langsamen und nachhaltigen Aufbaus und schauten daher teils skeptisch auf den Anspruch der Regierung, im Schnellverfahren bestimmte Verhaltensweisen als Modell zu etablieren. Nach den Kooperativen folgte die Förderung von Arbeitermitverwaltung, dann die Stärkung von Staatsunternehmen. Heute setzte die Regierung im Zuge der Krise überwiegend auf privates Unternehmertum.

venezuela_el_maizal.jpg

In der Kommune stehen 600 Hektar für die Aussaat von Mais und anderen Pflanzen wie Bohnen sowie Kaffee zur Verfügung.
In der Kommune stehen 600 Hektar für die Aussaat von Mais und anderen Pflanzen wie Bohnen sowie Kaffee zur Verfügung.

Etwa 60 Kilometer weiter südlich lässt sich beobachten, dass eine gewisse Nähe zur Regierung nicht zwangsläufig der Selbstorganisierung schaden muss. Kurz vor der Mautstation Simón Planas, auf der Straße zwischen den Großstädten Barquisimeto und Acarigua, zweigt ein schmaler Weg ab. Mit Gemüse beladene LKWs rauschen vorbei. Ein Schild am Eingang der "Sozialistischen Kommune El Maizal" fasst prägnant zusammen, worum es auf dem weiträumigen Gelände dahinter geht. "In dieser Comuna arbeiten wir, produzieren wir und leben den Geist von Chávez."

Tatsächlich ist die Geschichte von El Maizal (Das Maisfeld) ohne Hugo Chávez nicht zu verstehen. Seine Augen blicken von Wandbildern am Wegesrand, den zentralen Platz für Versammlungen ziert eine Büste des 2013 verstorbenen Ex-Präsidenten.

"Als Chávez am 5. März 2009 in dieser Gegend unterwegs war, berichtete ihm eine Gruppe von Kleinbauern von Problemen mit lokalen Großgrundbesitzern", erzählt der Comunero José Luís Sifontes. Er habe ihnen zugehört und anschließend 2.500 Hektar Agrarland enteignet. "Dies war gewissermaßen die Geburtsstunde von El Maizal." Das Land der Comuna erstreckt sich zwischen den agrarisch geprägten Bundesstaaten Lara, dessen Hauptstadt Barquisimeto ist, und Portuguesa im zentral-westlichen Venezuela. Nach der Enteignung übernahm es zunächst der Staat, seit 2014 befindet es sich in kollektivem Eigentum.

Gerade endet die Trockenzeit, die ersten Regenwolken ziehen über das ausgedörrte Land. Es ist bereits alles für die Aussaat des Mais vorbereitet, der der Comuna ihren Namen gegeben hat. Sifontes arbeitet in der Verwaltung von El Maizal, das heute neben einer Reihe weiterer Comunas als eines der erfolgreichsten chavistischen Basisprojekte in ganz Venezuela gilt. Stolz zeigt er, was sich die etwa 100 Comuneros in den vergangenen Jahren aufgebaut haben. 600 Hektar stehen für die Aussaat von Mais und anderen Pflanzen wie Bohnen sowie Kaffee zur Verfügung. Das übrige Land ist der Viehhaltung von zurzeit mehr als 700 Rindern vorbehalten.

Neben dem zentralen Versammlungsplatz besteht seit 2023 außerdem eine Grundschule für die Kinder der Comuneros. Zusätzlich zum staatlichen Rahmenlehrplan werden auch Landwirtschaft, kommunitäre Demokratie und die rebellische Geschichte Venezuelas unterrichtet. Zudem vertreibt El Maizal Gas und liefert dieses an andere Comunas in der Region. Darüber, was produziert wird und wie die Überschüsse verwendet werden, entscheidet das eigene Kommunale Parlament.

"Eine Comuna bedeutet für uns, dass die Instanzen der Selbstverwaltung funktionieren", betont Sifontes. "Doch ohne Produktion ist es eine tote Comuna, denn dann kannst du dich tausend Mal treffen, setzt aber kein Projekt um."

Das Kommunale Parlament besteht aus Delegierten der 27 Kommunalen Räte, die sich zur Comuna zusammengeschlossen haben. In den Räten definieren Nachbar:innen ihre Bedürfnisse selbst und können für konkrete Projekte staatliche Finanzmittel erhalten. Die Grundidee dahinter ist, dass die Menschen vor Ort am besten beurteilen können, was gebraucht wird und zudem die Verwaltung und Kontrolle der Mittel besser umsetzen können als Funktionär:innen in Behörden. In urbanen Räumen können sich in einem selbst definierten geografischen Territorium bis zu 400, in ländlichen 20 und in indigenen Gebieten zehn Haushalte zusammenschließen.

Die Projekte finanziert meist die Zentralregierung, die mangels transparenter Regeln für die Bewilligung durchaus von oben Einfluss nehmen kann. Laut offiziellen Zahlen von 2018 sind in Venezuela mehr als 47.000 Räte registriert. Das Spektrum reicht von sehr gut funktionierenden bis hin zu reinen Anhängseln des Staates.

Ab 2009 rief Chávez dazu auf, Comunas als Keimzelle des angestrebten "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" aufzubauen. Jeder beteiligte Rat schickt nach einem Gründungsreferendum eine:n Delegierte in das Kommunale Parlament, das die maßgeblichen Entscheidungen trifft. Bis 2016 waren offiziell mehr als 1.500 Comunas registriert, die sich mittlerweile teilweise miteinander vernetzten, um Wirtschaftsbeziehungen jenseits des Marktes aufzubauen. Dabei ist jede Comuna anders. Nicht jede ist unabhängig oder arbeitet intern zwangsläufig hierarchiefrei.

Vehement betonte Chávez damals, dass eine Comuna von unten entstehen müsse. In seiner letzten programmatischen Rede im Oktober 2012 konzentrierte er sich erneut auf das Thema und prägte den bis heute an der Basis verbreiteten Slogan "Comuna o Nada!" ("Kommune oder nichts").

venezuela_jose_luis_sifontes_el_maizal.jpg

José Luís Sifontes von der Comuna Socialista El Maizal
José Luís Sifontes von der Comuna Socialista El Maizal

Tatsächlich waren bis zu dem Zeitpunkt nur wenige Comunas gegründet, geschweige denn offiziell registriert worden. Chávez' Nachfolger Nicolás Maduro berief nach seinem Amtsantritt den anerkannten Basis-Chavisten Reinaldo Iturriza zum Minister für Comunas. Dieser ermöglichte erstmals eine breite offizielle Registrierung, konnte sich jedoch nur anderthalb Jahre im Amt halten.

Als Verfechter der Comuna-Idee, der es wirklich ernst meint, war Iturriza nicht wenigen Funktionär:innen ein Dorn im Auge. "Die Zentralregierung muss Kommunale Räte und Comunas unterstützen, darf sie aber nicht vereinnahmen", fasst er sein Verständnis der Basismacht zusammen. Auch Jahre später ist er noch davon überzeugt, dass es prinzipiell möglich sei, basisdemokratische Strukturen zu unterstützen, ohne sie zu vereinnahmen. "Wir haben durchgehend daran gearbeitet, den Abstand zwischen Ministerium und Bewegung so weit wie möglich zu verringern", erklärt er rückblickend. Dies allerdings habe eine Menge Probleme mit sich gebracht. "Es bedeutet, dass man mit einem Teil der Institutionen, die einen umgeben, in Konflikt gerät."

Zwischen 2018 und 2022 unterband die Zentralregierung die Erneuerung der Sprecher:innen in den Kommunalen Räten, weil sie Angst hatte, dass dort inmitten des politischen Machtkampfes oppositionelle Kräfte Boden gutmachen würden. Zudem blieben durch die Krise nicht nur die Gelder aus, die zuvor an Räte und Comunas flossen. Auch die Partizipation ging deutlich zurück, weil die meisten Menschen viel Zeit dafür aufbringen mussten, die Folgen der Krise zu bewältigen.

Die Regierung versucht, das Thema als Chávez' Vermächtnis einerseits nicht aufzugeben und andererseits einzuhegen. Auch El Maizal geriet wiederholt in Konflikt mit Institutionen, obwohl die Comuna abgesehen von der Finanzierung der eigenen Schulgebäude praktisch keine staatliche Unterstützung erhält.

Gemäß der chavistischen Bewegungsgeschichte strebt El Maizal aber keine absolute Autonomie an, sondern versucht, weitgehende Unabhängigkeit und möglichst gute Zusammenarbeit mit der Regierung zu verbinden.

Um den Draht zu den lokalen Behörden zu verbessern, kandidierte der Comunero Ángel Prado selbst für den Bürgermeisterposten des Munizips Simón Planas, auf dessen Gebiet der überwiegende Teil der Comuna liegt. 2017 trat er als chavistischer Dissident gegen die Regierungspartei an. Der Nationale Wahlrat erklärte aus umstrittenen formalen Gründen jedoch den Kandidaten der Regierungspartei PSUV zum Sieger.

Bei der Regionalwahl 2021 setzte sich Prado dann bei den internen Vorwahlen der Regierungspartei durch und gewann anschließend auch die Bürgermeisterwahl. Bei der anstehenden Präsidentschaftswahl am 28. Juli unterstützt El Maizal offiziell Maduro, auch wenn die Beziehung zum Staat nicht immer einfach ist.

Im Juni gelang Maduro dann ein kleiner Coup, indem er Prado zum Minister für Comunas ernannte (amerika21 berichtete) und damit einen prominenten Vertreter des rebellischen Basis-Chavismus in seine Regierung und den laufenden Wahlkampf einband. Viele Comuneros sind der Ansicht, dass sie im Falle eines oppositionellen Wahlsieges künftig deutlich weniger Spielraum hätten.

Cecosesola hingegen hält sich weitgehend aus der Politik raus und fährt damit seit mehreren Jahrzehnten gut. "Dank unserer Selbstverwaltung und Eigenfinanzierung können wir auch die Beziehungen zu staatlichen Stellen oder Kommunalen Räten auf Augenhöhe gestalten", so Rath. Dies bedeute aber, dass alles selbst erwirtschaftet werden muss. "Doch wir wollen keine Akkumulierung, sondern investieren Überschüsse in die Verbesserung der kommunitären Dienstleistungen."

Darin ähneln sich Cecosesola und El Maizal. Doch was Diskurs, politische Bündnisse und Gesellschaftsentwürfe angeht, unterscheiden sie sich deutlich. Sie respektieren sich, doch arbeiten nebeneinander her.