Operation Carne Fraca in Brasilien: Warum die großen Medien sich um unser Essen nicht kümmern

Die industrielle Agrarwirtschaft gehört weltweit zu den größten Verursachern von Landkonflikten und schlechter Ernährung, aber die Medien ignorieren das

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Brasiliens De-facto-Präsident Michel Temer beim demonstrativen Fleischverzehr wenige Tage nach Bekanntwerden des Skandals
Brasiliens De-facto-Präsident Michel Temer beim demonstrativen Fleischverzehr wenige Tage nach Bekanntwerden des Skandals

Eine Stimmung von "das haben wir ja immer gesagt" beherrscht die sozialen Netzwerke nach Bekanntwerden der Operation Carne Fraca (Operation Gammelfleisch) der Bundespolizei, durch die ein System von illegalen Fleischverkäufen brasilianischer Kühlketten aufgedeckt wurde.

Seit dem 17. März 2017 wird in den sozialen Netzwerken gestritten, Vegetarier und Veganer auf der einen Seite, Leute, die Fleisch essen, auf der anderen Seite.

Auf Facebook wurde mit dem Entsetzen der Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung gespielt, der klargeworden war, halbverfaultes Fleisch zu essen, das mit einer Überdosis Askorbinsäure, also Vitamin C, aufgeschönt worden war.

Nach der Aktion der Bundespolizei schien das Land im Schockzustand, eben weil es um Fleisch ging; Fleisch, wie es jedermann wahllos konsumiert, unterschiedlich nur nach der jeweils sozioökonomischen familiären Situation.

Allerdings brachte die Geschichte einiges ans Licht, was über das übliche Maß von Schmiergeld und Betrug hinausging. Das Niveau an Kenntnis der Brasilianerinnen und Brasilianer über die Lebensmittel auf ihren Esstischen ist lächerlich gering.

Dieses Defizit ist nur ein Teil eines umfassenderen Panoramas, denn aus den traditionellen Medien bekommt die Bevölkerung kaum Informationen über die Dynamik des Agrobusiness, also über industriell betriebene Viehhaltung und Landwirtschaft.

Und diese Missachtung des Rechts auf Information und Kommunikation hat erheblich mehr mit dem Kühlhausskandal zu tun als die lediglich persönliche Entscheidung, Fleisch zu essen oder nicht.

Das Agrobusiness macht über 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes des Landes aus, es bekommt massive Investitionen von Seiten der brasilianischen Regierung.

Nicht zufällig wird ihm die größte Gruppe im Kongress zugeordnet, die sogenannte Agrarlobby, die sich sofort der Verteidigung der nationalen Industrie annahm, sowie des Justizministers, Osmar Serraglio. Der wiederum stand in Verbindung mit einem Kontrolleur einer Landwirtschaftsbehörde, der einer der Führenden im Schmiergeldsystem des Ministeriums für Landwirtschaft war.

Dies alles vor dem Hintergrund eines stabilen inneren brasilianischen Marktes, in dem die Menschen viel mehr Fleisch essen als gut ist, und der eine starke Position als Exporteur für Lebensmittel in industriellem Maßstab hat und Rohstoffe wie Erze.

Es ist andererseits zu kurz gegriffen, das weltweite Problem des Agrobusiness auf Brasilien zu reduzieren, damit würde man nicht bis zur Quelle des Problems vordringen.

Was wir hier sehen, sind die Folgen eines schädlichen weltweiten Systems von Produktion und Verbrauch von Lebensmitteln, in dem Mengen und Profit im Vordergrund stehen und wo Qualität seit langem keine Priorität mehr hat. Dazu kommen lokale Einflüsse wie die schrankenlose politische Macht des Agrobusiness.

Es ist nicht zu bestreiten, dass über die aktuellen Vorwürfe hinaus, die die Fleischqualität der wichtigsten brasilianischen Kühlhausketten betreffen, Dinge ans Licht kamen, die den enormen Widerhall der ersten Erkenntnisse von Operation Carne Fraca verständlich machen.

Teil des Skandals ist die Verwicklung von Kontrolleuren des Ministeriums für Landwirtschaft, die Schmiergelder für den Verzicht auf Fleischkontrollen in einigen Kühlhäusern bekamen, in ein Betrugssystem, zu dem laut Bundespolizei Unternehmer des Agrobusiness und politische Parteien gehören, insbesondere PP1 und PMDB2.

Hinter der Polizeiaktion stehen ein langer Weg und eine Vielzahl von Fakten öffentlichen Interesses, die vor der breiten Bevölkerung jedoch weiterhin verborgen werden.

Genau deswegen gab es den gewaltigen Schock, als die Menschen zu verstehen begannen, wie mit Fleisch minderer Qualität umgegangen wurde, wie Ascorbinsäure und Tierknochen in die Lebensmittel kamen. Hinzu kamen Interviews über den übertriebenen Einsatz von Antibiotika.

Das meiste ist keine Überraschung. Außer den Menschen, die ohnehin kein Fleisch essen und sagen "das habe ich alles ja gewusst", gibt es eine Vielzahl von sozialen Bewegungen, die seit Jahren zu diesem Thema arbeiten. Außerdem gibt es alternative lokale Medien, die in täglichem Einsatz versuchen, der Bevölkerung Informationen über diese Thematik nahezubringen.

Seit Jahrzehnten weiß man, wie Lebensmittelproduktion in industriellem Maßstab die Gesundheit im Land beeinträchtigt - aber es ist weit schlimmer.

Das Agrobusiness ist neben dem Bergbau einer der primären Verursacher der brasilianischen Landkonflikte. Brasilien ist das Land mit den weltweit meisten Mordanschlägen gegen Land- und Umweltaktivisten, wie aus einer Aufstellung der Nichtregierungsorganisation Global Witness hervorgeht, die im vergangenen Jahr großes Aufsehen erregte.

Laut Veröffentlichung der kirchlichen Landkommission vom 17. Januar 2017 wurden im Jahr 2016 bei der Verteidigung von Land indigener und afro-brasilianischer Gemeinden, bei der Unterstützung von Landzuteilung und Agrarreform, ferner bei der Verteidigung der Rechte der betroffenen Bevölkerung 59 Personen getötet.

Im Globalen Atlas der Umweltkonflikte, der von der Autonomen Universität Barcelona erstellt wird, erscheint das Land an dritter Stelle bei der Häufigkeit von Umweltkonflikten, mit stark ansteigender Tendenz.

Über solche Informationen wird in den traditionellen Medien punktuell berichtet, aber möglichst ohne bei der Bevölkerung großes Aufsehen zu erregen.

Stimmen von Bewegungen und Organisationen, die zu dieser Thematik arbeiten, werden bagatellisiert, ganz im Gegensatz zu den Stimmen von Spitzen der Agrarindustrie, wie die des aktuellen Landwirtschaftsministers, Blairo Maggi, Geschäftsmann und Eigentümer einer ausgedehnten Sojaproduktion, oder die Ex-Ministerin Kátia Abreu.

Man sollte daran erinnern, dass brasilianische Großkonzerne wie JBS (mit Marken wie Friboi) oder BRF (unter anderem Sadia, Perdigão und Seara) laut Ranking von Agências & Anunciantes im Jahr 2005 zu den zehn größten Anzeigenkunden in den brasilianischen Medien gehören.

Öffentliche Personen wie Fátima Bernardes, Ana Maria Braga, Roberto Carlos und Tony Ramos3

Mit Bedacht gaben die meisten brasilianischen Zeitungen breiten Raum zur Verteidigung der vom Skandal betroffenen Firmen. Deren Repräsentanten bemühten sich, die Bevölkerung und ausländische Käufer zu überzeugen, es handele sich um isolierte Einzelfälle – was scheinbar aber wenig Wirkung zeigte.

Nach Publikwerden der von der Bundespolizei ausgelösten Turbulenzen und ohne viele weitere Erklärungen verfügten China und Hongkong die zeitweilige Suspendierung der Einfuhr von brasilianischem Fleisch4.

All dies bedeutet nicht, dass es in der Angelegenheit keine seriösen Informationen gegeben hätte. 2012 startete Repórter Brasil die Webseite Moendo Gente‚ (Leute zermalmen), auf der die ungesunden Arbeitsbedingungen in den brasilianischen Kühlhäusern angeprangert wurden.

Im Jahr davor waren dieselben Beschuldigungen von der gleichen Institution schon im Dokumentarfilm Carne e Osso (Fleisch und Knochen) verbreitet worden.

Im gleichen Jahr hatte der Filmemacher Silvio Tendler O Veneno Está na Mesa (Das Gift ist auf dem Tisch) herausgebracht, in dem der Gebrauch und die Folgen von Pflanzenschutzmitteln gezeigt werden. Es kam sogar ein Fortsetzung des Films heraus, mit nationaler und internationaler Wirkung.

Das Instituto Alana beklagt mit seinem 2008 erschienen Dokumentarfilm Criança, a Alma do Negócio (Das Kind, die Seele vom Geschäft) seit fast zehn Jahren die schädliche Wirkung von Werbung und Konsum ungesunder Lebensmittel auf Kinder. In diesem Film geht es nicht nur um den Konsum von Nahrungsmitteln (wie 2012 in Muito Além do Peso), er zeigt die Wirksamkeit von Lebensmittelreklame auf Kinder, die die Marken der industrialisierten Lebensmittel bald besser kennen als die Namen von Früchten und Gemüse.

Es lohnt sich daran zu erinnern, dass seit 2001 im Parlament ein Gesetzesprojekt vorliegt, das Regeln für Reklame festlegen soll, die sich an Personen unter zwölf Jahren richtet. Der Nationale Rat für die Rechte von Kindern und Jugendlichen erklärt in seiner Resolution 163 alle an Kinder gerichtete Werbung für missbräuchlich.

Speziell zum Agrobusiness entstehen Blogs und journalistische Projekte, die aber Schwierigkeiten haben, Aufmerksamkeit zu finden. Einer von ihnen ist De Olho nos Ruralistas (Die Großgrundbesitzer im Blick), in dem politischer Einfluss und die Macht der Landbesitzer im Kongress die zentralen Fragen sind.

Seit den siebziger Jahren, als die industrialisierte Fleischproduktion in Brasilien begann, bemühen sich soziale Bewegungen, die Bevölkerung auf dieses Thema aufmerksam zu machen.

Heutzutage ist Brasilien eine weltweit führende Referenz für Agrar-Ökologie. Es ist eine Bewegung, die das System der Ernährung umgestalten will, die ausgehend von lokalem Handel, von Wertschätzung für kleine Produzenten, ohne Giftstoffe und ohne Antibiotika eine gesunde und sozial gerechte Ernährung zum Ziel hat.

Die Nationale Bewegung der Agrar-Ökologie ist ein wichtiger Bezugspunkt nicht nur in Brasilien, sondern in ganz Lateinamerika. Ferner hat das Brasilianische Forum für Lebensmittel- und Ernährungssicherheit und Souveränität landesweite Bedeutung, es informiert und ist Teil der Kampagne "Nahrung ist kulturelles Erbe", die über den Verlust von Lebensmittelvielfalt als Folge der Ausweitung des Agrokommerzes aufklären will.

Das Landlosenbewegung MST ist die Referenz für das Recht auf eigenen Boden als Grundlage für weitere Rechte wie das landesweite Recht auf gesunde Ernährung.

Aber nichts von alldem hatte in den Medien einen derartigen Widerhall wie die Operation Carne Fraca. Als hätten wir erst jetzt entdeckt, wie schlecht wir essen, als wäre die Bundespolizei zum Spezialisten für alle wichtigen Fragen geworden.

In Szenarien à la Hollywood wurden Polizeioperationen begleitet, die Medien waren stets zur Stelle, Anschuldigungen von Korruption wurden erhoben und Leute tauchten auf, die schockiert waren über die Qualität des Fleisches, das sie im Supermarkt gekauft hatten.

Aber abgesehen vom Betrug, der für sich genommen schon schlimm genug ist, wird uns nach wie vor der 'modus operandi' dieser exzessiven Fleischproduktion nicht offengelegt. Dieser ist mit einem riesigen Landverbrauch verbunden, was Landkonflikte verursacht und Umweltaktivisten tötet, insbesondere im Norden des Landes. Dieser Modus gehört zu den wichtigsten Verursachern des Treibhauseffekts und er ist anfällig dafür, Gesundheitsschäden zu verursachen.

Mit oder ohne Operation Carne Fraca, dies ist die Realität.

Und das nicht nur in Brasilien. Die Art und Weise, Fleisch zu produzieren, wie es derzeit gemacht wird, ist ein weltweites Problem. In Deutschland trieb es im Januar dieses Jahres 100.000 Menschen mit dem Motto 'Wir Haben es satt' zu einer Kundgebung gegen Agrokommerz auf die Straße, und das nicht von ungefähr in einem Land, wo Wurst seit dem zweiten Weltkrieg eines der populärsten Nahrungsmittel ist.

Weniger Sensationsgier und mehr Fakten, das wäre in der Angelegenheit das Gebot der Stunde. Denn über Gesundheitsrisiken wussten viele Menschen ja schon Bescheid.

Camila Nobrega ist Journalistin und gehört zum Intervozes-Kollektiv. Mitarbeiterinnen waren Marina Pita und Mônica Mourão, Journalistinnen und Mitglieder im Direktorat von Intervozes. Den Originaltext finden Sie hier.

  • 1. Die rechtskonservative Fortschrittspartei
  • 2. Die Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung von De-facto Präsident Michel Temer
  • 3. Bekannte TV-und Film bzw. Fußballstars[/fn ] gehören zu den Berühmtheiten, die ihre Gesichter und ihr Statement zur Verfügung stellten, um Vertrauen in die Reklame dieser Kühlhausketten zu schaffen.
  • 4. Auch die Europäische Union verhängte am 25. März einen Importstopp für Ware aus 21 Fleisch- und Wurstunternehmen Brasiliens
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