Mexiko / Politik

Wahlen in Mexiko: Eine neue Geschichtsschreibung?

Es gilt als fast sicher, dass Linkskandidat Amlo und seine Partei Morena die Wahlen für sich entscheiden können. Doch frei von Widersprüchen ist seine Politik nicht

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Nach allen Voraussagen wird er der nächste Präsident von Mexiko: Andrés Manuel López Obrador, hier bei einer Wahlkampfveranstaltung am 16. Juni in Oaxaca
Nach allen Voraussagen wird er der nächste Präsident von Mexiko: Andrés Manuel López Obrador, hier bei einer Wahlkampfveranstaltung am 16. Juni in Oaxaca

Ramón (Name geändert) ist nervös. Auf einem bunten Markt im Zentrum Mexiko-Stadts betreibt er einen kleinen Fleischstand. Es kommen viele Kunden, das Geschäft läuft gut. Überhaupt scheint alles wie immer. Und doch: "Bald kommt er ins Amt …", fängt Ramón an. Er redet über Andrés Manuel López Obrador, genannt Amlo, Präsidentschaftskandidat der linksgerichteten Partei Bewegung zur Nationalen Erneuerung (Morena). "Dann ruiniert er unsere Wirtschaft – dabei geht es Mexiko gerade so gut. Alle kaufen doch. Es gibt keine Krise. Welche Krise?", fährt Ramón fort. Seine Worte erinnern an den infamen Ausspruch von Mexikos scheidendem Präsidenten Enrique Peña Nieto im März 2017: "Wer sagt, wir leben in einem Land in der Krise, der hat diese Krise mit Sicherheit nur im Kopf. Aber das ist nicht das, was hier passiert."

Tatsächlich befindet sich Mexiko vor den Wahlen am 1. Juli in einem katastrophalen Zustand. Statistiken weisen das Jahr 2017 mit rund 25.000 Ermordeten als das gewaltvollste Jahr der neueren Landesgeschichte aus, die vergangenen Jahrzehnte zählen mehr als 35.000 verschwundengelassene Personen. In beiden Fällen übertrifft aktuell nur das sich im anhaltenden Bürgerkrieg befindende Syrien die mexikanischen Opferzahlen. Hinzu kommen eine stagnierende Wirtschaft, hohe Straflosigkeit sowie allgegenwärtiger Korruption. Ramón ist dennoch überzeugt: Sollte López Obrador am 1. Juli die Wahl gewinnen, geht es in Mexiko erst wirklich bergab. Amlo bezeichnet er als "Diktator", der den "Sozialismus" in Mexiko einführen und der Wirtschaft großen Schaden zufügen werde.

Zumindest ein Punkt von dem, was Ramón sagt, ist unbestritten: Alles deutet darauf hin, dass Amlo die Wahl am 1. Juli gewinnt und nach zwei gescheiterten Anläufen in den Jahren 2006 und 2012 – damals noch als Kandidat der sozialdemokratischen Partei der demokratischen Revolution (PRD) – tatsächlich Präsident Mexikos wird. Bis zu 52 Prozent der Stimmen werden ihm in einer Umfrage der mexikanischen Tageszeitung Reforma von Ende Mai prognostiziert. Ricardo Anaya, sein schärfster Konkurrent und Kandidat der klerikal-konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) in Koalition mit der PRD und dem Movimiento Ciudadano, kommt auf lediglich 26 Prozent der Stimmen. Weit dahinter sind Antonio Meade, Kandidat der derzeit noch regierenden Partei der Institutionellen Revolution (PRI), mit 19 Prozent und der unabhängige Kandidat Jaime Rodríguez mit nur drei Prozent. Andere Umfragen liefern ähnliche Ergebnisse. Die fünfte Kandidatin Margarita Zavala zog derweil ihre Kandidatur zurück und gab die Benachteiligung von unabhängigen Kandidaten beim Zugang zu Ressourcen und Sendezeit als Gründe an. Auf eine Wahl-Empfehlung für einen der anderen Kandidaten verzichtete die ehemalige Politikerin der Partei Nationale Aktion (PAN) und Ehefrau von Ex-Präsident Felipe Calderón.

Nach 71 Jahren PRI-Regierung, gefolgt von zwölf Jahren PAN und zuletzt wieder sechs Jahren PRI, scheint Mexiko also zum ersten Mal einen linksgerichteten Präsidenten zu wählen. Bei einer simulierten Wahl innerhalb von sechs Universitäten in Mexiko-Stadt kam Amlo sogar auf 70 Prozent der Stimmen. "Zusammen schreiben wir Geschichte" heißt die Regierungskoalition aus Morena, der Arbeiterpartei PT und der evangelikal-rechten Partei der sozialen Begegnung (PES). Amlo verkörpere einen Wandel, eine Zäsur, eine Absage an die Politik der vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Dies zumindest suggeriert der Name.

Dass Amlo vielen mexikanischen Wirtschaftseliten unangenehm ist, zeigte sich deutlich im Mai. Verschiedene einflussreiche Personen mexikanischer Großkonzerne positionierten sich offen gegen López Obrador und schürten bei ihren Mitarbeitern Angst vor den Folgen seiner möglichen Präsidentschaft. Germán Larrea, CEO von Mexikos größter Bergbau-Firma und zweitreichster Mann des Landes, rief seine Mitarbeitern beispielsweise dazu auf, ihre persönlichen Ausgaben im Auge zu behalten und Geld zu sparen, denn, sollte López Obrador die Wahl gewinnen, könne eine wirtschaftliche Schieflage entstehen. Die sozialdemokratischen Wirtschaftspläne des Morena-Kandidaten bezeichnete er als populistisch, sie würden unter anderem Investitionen gefährden und den Peso schwächen.

Ähnlich äußerten sich andere Großkonzerne Mexikos gegenüber ihren Mitarbeitern. Die PAN schaltete passend zu den Mitteilungen der Konzerne Werbespots, die Amlo mit Hugo Chávez vergleichen und im Falle seiner Wahl zum Präsidenten für Mexikos Zukunft einen wirtschaftlichen Absturz wie in Venezuela heraufbeschwören. Das Investigativ-Magazin Proceso bezeichnet diese Aussagen als "Angst-Kampagne" gegen Amlo. Doch auch wenn sie bei manchen Wirkung erzielen, scheinen sie keine ernsthafte Gefahr mehr für die Umfragewerte López Obradors zu sein.

Der Präsident der Mexikanischen Börse, Jaime Ruiz Sacristán, forderte derweil dazu auf, den Kandidaten zu wählen, den man persönlich bevorzuge. Es gebe keinerlei Anzeichen für Kursschwankungen oder einen Absturz des mexikanischen Peso, sollte Amlo gewinnen, stellte er klar. Nach einem Treffen Anfang Juni zwischen dem Morena-Kandidaten und dem mexikanischen Wirtschaftsrat (Consejo Mexicano de Negocios), in welchem die größten Konzerne des Landes vertreten sind, bezeichnete López Obrador die Gespräche als "sehr gut" und stellte trocken klar: "Wir haben Unebenheiten geglättet."

Als das Glätten von Unebenheiten und Absicherung innerhalb einer konservativen Elite ist sicherlich auch die Koalition mit der ultrarechten PES zu bewerten. Dass dies bereits klare Auswirkungen auf die Kampagne López Obradors hat, zeigt sich am Thema Abtreibung. In einer kürzlich veröffentlichten Mitteilung von zivilen Organisationen und individuellen Feministinnen an alle Präsidentschafts-Kandidaten fordern diese unter anderem die Ausweitung des Rechts auf legale und kostenlose Abtreibungen. Bisher besteht diese Möglichkeit – mit diversen Einschränkungen – lediglich für Frauen in Mexiko-Stadt. Doch während diverse Mitglieder von Morena diese Positionen im Gegensatz zu anderen Parteien unterstützen, bezieht Amlo bisher keine Stellung. In einem Interview mit dem Journalisten Jorge Ramos für Univisión sagte er lediglich vage: "Das müssen die Bürger lösen. Wir haben vorgeschlagen, dass diese Dinge beratschlagt werden." Für die PES ist hingegen klar, dass sie sich strikt gegen Abtreibungen und ebenso gegen gleichgeschlechtliche Ehen stellt. Einen Schritt in Richtung Gleichstellung stellt immerhin das von Amlo vorgestellte Kabinett vor, welches aus acht Frauen sowie acht Männern bestehen soll.

Auch beim Thema Sicherheit gibt es Unklarheiten. Zwar betont López Obrador hier vor allem die Prävention durch bessere Ausbildungschancen und Armutsbekämpfung, doch darüber hinaus sollen Polizei- und Militärkräfte innerhalb des Landes zu einer Nationalgarde zusammengelegt werden. Inwieweit dies Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Militär vorbeugen und zu einer besseren Sicherheit führen kann, wird nicht weiter ausgeführt. Die Normalisierung der Präsenz von Militärs innerhalb dieser Nationalgarde zur inländischen Sicherheit wirft weitere Fragen auf.

Bei dem Treffen des Kollektivs Ve'i Ñuu Savi in Mexiko-Stadt, welches sich für die Rechte und Sprachen der indigenen Bevölkerung einsetzt, lässt sich nur wenig Enthusiasmus für Amlo finden. "Ich werde wahrscheinlich für ihn stimmen, aber so richtig weiß ich auch nicht, was ich mir davon erwarten kann", sagt eines der Mitglieder der Gruppe. Feindseligkeiten zwischen der politisch organisierten indigenen Bevölkerung Mexikos und Amlo gab es schon 2006 aufgrund der damaligen sogenannten„Anderen Kampagne (Otra Campaña) der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) und bei dieser Wahl durch die Ankündigung einer unabhängigen Kandidatin durch den Nationalen Indigenen Rat (CNI). "Die EZLN war 2006 das ‘Ei der Schlange’. Damals, ganz ‘radikal’, riefen sie dazu auf, nicht abzustimmen und jetzt postulieren sie eine unabhängige Kandidatin", twitterte Amlo Ende 2016. In seinen Kreisen befürchtete man, die unabhängige Kandidatin würde das linke Votum spalten. Der CNI wiederum erteilte der Unterstützung Amlos eine Absage, nachdem die indigene Kandidatin María de Jesús Patricio, bekannt als Marichuy, wegen mangelnder Unterschriften von Unterstützern nicht zur Wahl zugelassen wurde. Amlo sei längst ein weiterer Kandidat des Systems, so die Begründung.

Selbst vorsichtige Polit-Analysten bezweifeln nicht mehr, dass López Obrador die Wahl gewinnen wird. Doch ob die Koalition tatsächlich gemeinsam Geschichte schreiben wird und eine linke bis sozialdemokratische Politik im Land durchsetzen und Auswege aus der Krise Mexikos finden kann, wird sich erst danach zeigen.

Zunächst wäre der Wahlausgang ein deutliches Zeichen. Ein Zeichen dafür, dass sich die etablierten Parteien über die letzten Jahre eigenständig diskreditiert haben. Ein Zeichen dafür, dass Gewalt, Kriminalität, Straffreiheit und Korruption die Mehrheit der Mexikaner dazu bewegt haben, neue Wege zu betreten. Ein Zeichen, dass López Obrador und die erst 2014 offiziell anerkannte Partei Morena samt ihrer Koalition zumindest als eine Möglichkeit des Wandels wahrgenommen werden.

Und hoffentlich auch ein Zeichen, dass der mexikanische Staat in der Lage ist, das Votum seiner Bürger zu respektieren und einen für viele Politik- und Wirtschaftseliten zunächst unliebsamen Kandidaten gewinnen zu lassen, insofern dieser die Mehrzahl der abgegebenen Stimmen auf sich vereint. Nach der inzwischen eingestandenen Wahlfälschung 1988 zu Lasten des Kandidaten Cuauhtémoc Cárdenas und dem damit verbundenen Sieg des PRI-Kandidaten Carlos Salinas de Gortari, aber auch Unregelmäßigkeiten bei den vergangenen zwei Präsidentschaftswahlen, scheint dies die letzte große Unbekannte.

Im Falle einer erfolgreichen Wahl hätte López Obrador sechs Jahre Zeit, als Präsident Mexikos die nationale und internationale politische Landschaft mitzugestalten. Das Land aus seiner derzeitigen Lage zu führen und zu einem (geschlechter-)gerechten, sicheren und wirtschaftlich stabileren Land zu machen, bleibt eine Mammutaufgabe und hängt sicherlich von mehr als nur dem Präsidenten ab.

Der Text ist in der Ausgabe Nr. 528 der Lateinamerika Nachrichten erschienen