Haiti am Rand des Bürgerkriegs

Das Niveau der sozialen Gewalt und der polizeilichen und parapolizeilichen Repression mündet immer mehr in einen Bürgerkrieg

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Demonstranten forderten am 11.Oktober in Port-au-Prince erneut den Rücktritt der Regierung Moise
Demonstranten forderten am 11.Oktober in Port-au-Prince erneut den Rücktritt der Regierung Moise

Seit geraumer Zeit ist die kritische Situation in Haiti reif für einen Wandel. Aber die Reife beginnt zu faulen. Die Krise scheint kein Ende zu nehmen und die wirtschaftliche, politische und soziale Situation scheint selbst für diese gewöhnlich von Unruhen erschütterte karibische Nation von einer beispiellosen Schwere zu sein. Vier Wochen schon sind seit Beginn des letzten Zyklus intensiver gesellschaftlicher Konflikte vergangen, sechs Wochen seit Beginn der Energiekrise und mehr als anderthalb Jahre seit Beginn der allgemeinen politischen und sozialen Instabilität.

Drei Tendenzen ergeben sich aus der aktuellen Lage: die zunehmend unwahrscheinlichere Möglichkeit einer konservativen Stabilisierung mit gleichbleibendem Präsidenten oder einem kontrollierten Wechsel der Figuren; der Beginn einer politischen Transition des Bruchs, der die Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Sektoren, Klassen und Interessen innerhalb einer widersprüchlichen Opposition öffentlich macht; oder der fatale Beginn eines Bürgerkriegs, in den das Niveau der sozialen Gewalt und der polizeilichen und parapolizeilichen Repression langsam mündet.

Die Unmöglichkeit einer Stabilisierung

Hinter den Versuchen einer konservativen Stabilisierung stehen zwei große Promotoren. Einerseits Präsident Jovenel Moïse und sein Mentor, der Ex-Präsident Michel Martelly. Mit dabei auch Parlamentspräsident Murat Canave, der sich für einen Dialog im Land aussprach, kurz bevor die Regierung eine weitere, umgehend rundherum abgelehnte weitere Kommission für den Dialog bekanntgab. Sämtliche ihre Mitglieder wären Teil der jetzigen oder der Vorgängerregierung gewesen.

Auf der anderen Seite antwortete die in der sogenannten Alternative Consensuelle organisierte konservative Opposition rasch mit einer parallelen Bewegung, der "Kommission für die Erleichterung und Übergabe der Macht". Diese versichert, nur die Bedingungen für einen "raschen und geordneten" Rücktritt des aktuellen Präsidenten Jovenel Moïse und seine Ersetzung mit einem Richter des Kassationshofs zu verhandeln. Eine andere Figur, der mehr Macht zugetraut wird als dem Richter, wäre ein Premierminister aus den Reihen des Sécteur Démocratique et Populaire, der stärksten und dynamischsten Kraft innerhalb der Alternative Consensuelle. Diese Lösung würde einen reinen Präsidentenaustausch implizieren und die wichtigsten Elemente der Austeritätspolitik, die das Land an den Rand des Abgrunds geführt hat, intakt lassen. Hinter dieser Strategie stehen einflussreiche Länder wie Frankreich und Kanada, die im Forum Économqiue du Sécteur Privé zusammengeschlossenen Handelskammern und diverse Familien der traditionellen Oligarchie, für die Réginald Boulos steht, der wichtige Supermarktketten und Autokonzessionen besitzt.

Politische Transition des Bruchs

Aber alles deutet daraufhin, dass die tiefen Gründe für die das Land erschütternden Proteste den alleinigen Bezug auf den Rücktritt des Präsidenten transzendieren und andere Forderungen mitbeinhalten. Das nach dem Sturz der Duvalier-Diktatur errichtete politische System mit seiner während Jahren praktisch ununterbrochener, vom Internationalen Währungsfonds und dem US-Außenministerium diktierten neoliberalen Politik ist ein Auslaufmodell. Die letzten Mobilisierungen waren in zehn Departements des Landes klar antiimperialistisch ausgerichtet: Sie richteten sich gegen die internationale Einmischung. Denn die Core Group (USA, Frankreich, Kanada, Brasilien, Deutschland, Spanien und UNO-Vertreter) hatte gerade ihre Unterstützung für Moïse Jovenel unterstrichen. Deswegen gingen verschiedene Demos direkt vor den Sitz der UNO-Justiz-Mission in Haiti (MINUJUSTH) und die US-Botschaft.

Der andere große, während der Krise gegründete oppositionelle Zusammenschluss, das Forum Patriotique, schlägt eine "Transition des Bruchs" vor. Diese Struktur tagte Ende August im ländlichen Papaye und schuf einen Ausschuss, das Comité du Suivi National, um die wichtigsten gefassten Beschlüsse umzusetzen. Der Ökonom Camille Chalmers, Vertreter des Forums, betonte in diesem Zusammenhang die Schaffung von Departementskomitees, um die Mobilisierungen zu zentralisieren und zu potenzieren. Er schlug auch die Schaffung eines Triumvirats statt eines Präsidenten für die Übergangsregierung und eines aus Vertretern der Departements gebildeten Kontrollorgans vor. "So haben wir", sagte Chalmers, "die Garantie einer von den nationalen AkteurInnen kontrollierten Transition und den Beginn eines tiefgreifenden Wandels des politischen und ökonomischen Systems". Das Forum vertritt mehr als 60 Organisationen, darunter soziale Bewegungen auf dem Land und in der Stadt, Linksparteien, Gewerkschaften, Jugend- und Frauenorganisationen, demokratische und fortschrittliche Vereinigungen etc.

Polizeirepression und Krieg niederer Intensität

Die Ereignisse in Haiti beginnen, einem Bürgerkrieg niedriger Intensität zu gleichen, in dem allerdings nicht eine Armee einer anderen gegenübersteht, sondern eine Regierung samt Staatsmaschinerie einer übergroßen Mehrheit der Bevölkerung. Gestern wurde ein weiterer Journalist ermordet. Seine Leiche, gefunden im Kofferraum seines Wagens im Ort Bayas, wies zwei Kopfschüsse auf. Es handelt sich um Nehémié Joseph von Radio Panik FM und Korrespondent von Radio Méga im Landeszentrum. Er hatte zuvor von Mitgliedern der Regierungspartei Drohungen erhalten. Seine Analysen und schneidenden Korrespondentenberichte hatten die Behörden verärgert. Es war auch zu Protesten gekommen, um seine Ernennung in der Regionalvertretung der Rentenbehörde ONA zu verhindern.

Dem Réseau National de Défense des Droits Humains zufolge sind in diesem Jahr bisher 77 Menschen im Zusammenhang mit den Protesten ermordet worden, in ihrer Mehrheit durch die Polizei oder irreguläre Gruppen. Während des Verfassens dieses Artikels ist ein anderer junger Mann in Saint Marc im Departement Artibonite von der Polizei getötet worden. Es gibt sogar Warnungen, dass erneut US-Söldner ins Land eingeschleust werden, um eine selektive Repression in den engagiertesten Gemeinschaften und Vierteln auszuüben. Es ist zwar schwer, diese These zu verifizieren, aber es ist festzuhalten, dass genau das letzten Februar geschehen war, als eine Gruppe von ehemaligen US-Soldaten mit großkalibrigen Waffen und Spitzenmilitärtechnologie in Haiti verhaftet wurde.

Gestern haben kriminelle Gruppen auch einen Wagen angegriffen und einen Bus, der nach Jérémie, der Departementshauptstadt von Grand-Anse, unterwegs war, in ihre Gewalt gebracht. Es kam dabei zu vier Verletzten. Wie schon im Oktober und November letzten Jahres – in Zeiten intensivierter Mobilisierungen – wird die direkt mit der politischen Macht verbundene organisierte Kriminalität dazu angespornt, in der Bevölkerung Terror zu verbreiten und die Proteste zu erschweren. Trotz der zunehmenden Repression nehmen nur wenige internationale Menschenrechtsorganisationen Stellung zur Krise. Die nationalen Akteure befürchten ihrerseits, dass die entfesselte Gewalt weitere internationale, die nationale Souveränität verletzende Interventionen legitimieren soll.

Lautaro Rivara aus Brasilien ist Soziologe und Mitglied der Solidaritätsbrigade Dessalines der Via Campesina Brasilien

Der Beitrag ist am 12. Oktober bei Radio Mundo Real erschienen