Sexualisierte Gewalt in Chile: "Das Schweigen ist fatal"

Interview mit Sandra Palestro vom Chilenischen Netzwerk 
gegen Gewalt an Frauen

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Sandra Palesto (links) und Yoselin Fernánfez vom Chilenischen Netzwerk 
gegen Gewalt an Frauen bei einer Veranstaltung der Universidad Abierta
Sandra Palesto (links) und Yoselin Fernánfez vom Chilenischen Netzwerk 
gegen Gewalt an Frauen bei einer Veranstaltung der Universidad Abierta

Im Kontext der aktuellen Proteste in Chile und der Repression, mit der die Regierung von Sebastián Piñera auf diese reagiert, ist auch die Zahl der angezeigten Fälle von politischer sexualisierter Gewalt enorm gestiegen: Das Nationale Institut für Menschenrechte (INDH) hat für den Zeitraum von vier Monaten seit Ausbruch der Proteste 197 Fälle von sexualisierter Gewalt in Polizeiwachen registriert. Feministische Organisationen und Aktivistinnen wie Sandra Palestro setzen sich dafür ein, diese Form der Gewalt sichtbar zu machen, kämpfen gegen die Straffreiheit und dafür, dass politische sexualisierte Gewalt strafrechtlich als genderspezifisches Verbrechen eingeordnet wird.

Warum zielt die Bestrafung des Patriarchats für die politische Partizipation von Frauen auf ihre Sexualität ab?

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass du so deine Intimität verlierst. Selbst brutale Schläge vergehen mit der Zeit, verwischen in der Erinnerung. Aber die sexuelle Aggression bleibt ein Leben lang in der Erinnerung. Das liegt wohl daran, dass die Sexualität etwas sehr Intimes ist, etwas, worüber wir die Kontrolle haben möchten, von dem wir wollen, dass es nur uns gehört und nur wir darüber entscheiden. Die Männer wissen, dass die sexualisierte Gewalt die stärkste Aggression ist, die wir Frauen erleben können und deshalb setzen sie sie als Waffe bei Verhaftungen, in Kriegen und in bewaffneten Konflikten ein. Auch, um eine Botschaft an die Männer der Gruppe, zu der die Frauen gehören, zu senden: In Kriegen und Konflikten werden Frauen wie Beute behandelt.

Sie wurden während der Pinochet-Diktatur inhaftiert und haben politische sexualisierte Gewalt erfahren. Wie haben Sie es geschafft, aus der Position des Opfers herauszukommen und eine Kämpferin zu bleiben?

Das war sehr schwierig. Ich wurde im Oktober 1973, fast direkt nach dem Putsch, für einen Monat lang im Nationalstadion gefangen gehalten. Das war brutal. Mein Leben teilt sich in ein Vorher und ein Nachher, ich kann mich davon nicht mehr erholen. Ich habe viele Jahre gebraucht, um mich wieder aufzubauen. 14 Jahre lang habe ich niemandem erzählt, was passiert ist. Dann bin ich zum Psychiater gegangen, weil ich körperliche Symptome hatte: Etwas drückte auf meinen Kopf, ich litt unter Schlaflosigkeit. Ich war drei Jahre lang in Therapie und als es mir endlich gelang, das freizugeben, was mein Gehirn mir nicht zeigen wollte, habe ich die Überlebensphase begonnen.

Den Aktivismus haben Sie dennoch nie aufgegeben…

Während der 14 Jahre habe ich habe mich bis zur Erschöpfung in den Aktivismus gestürzt. Ich war zehn Jahre im Exil, 1983 kam ich zurück nach Chile. Ich habe mich mit allem in die Proteste gegen die Diktatur eingebracht und mich nicht um mich gekümmert. Erst später habe ich gemerkt, dass mir mein Aktivismus dazu diente, nicht darüber nachzudenken, was ich erlebt hatte. Ich habe auch verstanden, dass sie mich, wenn ich nicht mit dem Aktivismus weitermachen würde, tatsächlich besiegen würden. Deshalb habe ich trotz allem, trotz der Angst, weiter in Chile gekämpft. Erst 30 Jahre nach dem Putsch, als ich im Abschlussbericht der Wahrheitskommission Valech die Zeugenaussagen der Frauen gelesen habe, habe ich verstanden: Das ist uns allen passiert. Das Ungeheure daran war das jahrelange Schweigen der Frauen darüber.

Woher kommt dieses Schweigen?

Frauen erzählen nicht. Freundinnen von mir, die auch während der Diktatur inhaftiert waren, haben bis heute nie erzählt, was sie erlebt haben. Ich denke, das hat viel mit der Sozialisierung von Frauen und der androzentrischen Kultur zu tun. Wir stellen uns selbst immer hinten an. Als ich den Valech-Bericht gelesen habe, habe ich das deutlich gespürt: Viele von uns dachten, dass das, was uns passiert war, weniger wichtig war als die gewaltsam Verschwundenen und Hingerichteten. Wir haben also nie über die Folter und die sexualisierte Gewalt gesprochen, weil es noch Schlimmeres gab.

Frauen werden zum Muttersein sozialisiert, zur Fürsorge für die anderen. Ihnen wird ansozialisiert, dafür zu sorgen, dass die eigenen Kinder oder die Nichten und Neffen nicht erfahren, dass es diese Grausamkeiten gibt. Das ist Teil der patriarchalen Kultur. Aber wenn Frauen nicht reden und die Gewalt nicht thematisieren, dann tut sich nichts, dann bleibt sie verborgen. Es ist so schwer darüber zu reden, es zu sagen. Aber das Schweigen ist in jeder Hinsicht fatal. Wir müssen reden, wir müssen aussprechen, was mit uns geschieht. Wir müssen keine Schuld oder Scham empfinden, nicht wir sind dafür verantwortlich, sondern andere.

Halten Sie es für wichtig, die Erinnerung an politische sexualisierte Gewalt während der Diktatur mit dem Kampf gegen die heutige zu verbinden?

Ich glaube, es ist besser, die politische sexualisierte Gewalt als ein Kontinuum zu denken. Denn es gibt eine Tendenz, zu vergleichen und dann zu sagen, dass wir uns jetzt auch in einer Diktatur befinden. Ich glaube aber, dass sich die Gesellschaft seit der Diktatur bis heute sehr verändert hat. Die Diktatur dauerte 17 Jahre und hat nichts respektiert, es gab nicht eine funktionierende Institution. Es gab keinerlei Volksvertretung, selbst Klagen wurden vom Obersten Gerichtshof abgewiesen, niemand hat uns verteidigt. Jetzt haben wir die Möglichkeit, uns zu äußern, anzuklagen, zu fordern, es gibt das Nationale Institut für Menschenrechte, es gibt internationale Beobachter. Durch die Technik gibt es heute die Möglichkeit, zu filmen und Beweise zu liefern. Ich glaube, die Aggressionen sind nicht miteinander vergleichbar, aber sie haben den gleichen Inhalt: Sie sollen Frauen eintrichtern, dass ihnen der öffentliche Raum, der Raum für Protest und Anklage, nicht zusteht. Dass ihr Raum im Haus ist, wo sie sich um die Kinder kümmern sollen.

Sie sind sind Teil des Chilenischen Netzwerks gegen Gewalt an Frauen. Wie bekämpfen das Netzwerk und andere feministische Organisationen diese Form der Gewalt?

Wir können die Gewalt nicht verhindern, weil es nicht in unserer Hand liegt, die Polizei zu beeinflussen. Aber wir können den Frauen sagen, wie sie sich verteidigen, wie sie sich schützen und wie sie sich selbst bestärken können. In den letzten Jahrzehnten hat der Feminismus in Chile einen enormen Aufschwung erlebt. Zuletzt haben die feministischen Uni-Besetzungen 2018 und das Ausmaß der Demonstrationen und Streiks am 8. März 2019 ganz Chile überrascht. Und was man bei den jetzigen Protesten am häufigsten sieht, sind die grünen Tücher der Feministinnen und Mapuche-Flaggen. Es macht sich ein Wandel in der Gesellschaft bemerkbar: Frauen nehmen jetzt als Frauen Teil, sie sind Feministinnen, sie demonstrieren und wissen, wofür sie dabei kämpfen. Das ist ein Wandel, den vor allem wir Feministinnen über Jahre hinweg bewirkt haben. Wir können zwar nicht direkt auf die Institutionen einwirken, aber wir beeinflussen die Gesellschaft und die Kultur.

Die Regierung reagiert auf die aktuellen Proteste wieder mit Repression und Menschenrechtsverletzungen. Wie gehen Sie damit um?

Die ersten Tage der Proteste, als die Regierung das Militär auf die Straßen schickte, waren ein Schock für mich. Ich hatte eine schreckliche Angst um die jungen Leute, die die Erfahrung der Diktatur nicht gemacht haben und waghalsiger sind. Sie blieben trotz der Sperrstunde draußen und ich hatte Angst, dass die Militärs sie töten würden. Diese Tage waren sehr hart. Die Systematik der politischen sexualisierten Gewalt und der Augenverstümmelungen. Das alles wieder? Mir kam die Grausamkeit in den Sinn, die ich damals im Stadion erlebt habe: eine unverständliche und unbekannte Grausamkeit. Wir waren damals sehr jung, ich war 22 Jahre alt. Eine solche Grausamkeit kannten wir nicht. Ich habe über all die Jahre der Demokratie nachgedacht, in denen versucht wurde, die Parole „nie wieder“ zu verbreiten. Und jetzt: wieder diese Grausamkeit, wieder diese Gewalt. Das macht mich ein bisschen hoffnungslos. Es ist, als ob die Geschichte sich im Kreis drehen würde. Es dient mir aber auch dazu, den Kampf fortzusetzen, nachzudenken und aufgrund meiner eigenen Erfahrungen darüber zu sprechen.

Welchen Einfluss hat die politische sexualisierte Gewalt auf die aktuellen Proteste?

Mich besorgt, dass wir Demonstrierenden durch die politische sexualisierte Gewalt oder die Verstümmelung von Menschen eine immer defensivere Haltung einnehmen. Der Fokus hat sich verschoben, es geht jetzt nicht mehr um unsere sozialpolitischen Forderungen – wie ein besseres Renten- und Gesundheitssystem, eine nicht-sexistische Erziehung und so weiter – sondern vor allem um Menschenrechte, um Strafanzeigen und Anklagen. Wir verlieren also. Wir waren Kämpferinnen gegen ein schikanierendes System und werden nun durch die Repression zu Opfern, das ist sehr beunruhigend. Das ist ein Konflikt, in dem die Regierung an Boden gewinnt. Ich denke, die Menschen, die gestorben sind oder verstümmelt wurden, müssen uns dazu motivieren, weiter für die Anliegen zu kämpfen, die die Protestbewegung ausgelöst haben.

Das Interview erscheint in den Lateinamerika Nachrichten Nummer 549