Kein Bonus für die neuen Gehaltsregelungen in Venezuela

Vertraglich garantierte Löhne werden systematisch durch inoffizielle, intransparente und oft sporadische Boni (am Arbeitsplatz oder auch anderswo) ersetzt

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Ein wachsender Prozentsatz des Einkommens kommt in Form von Boni
Ein wachsender Prozentsatz des Einkommens kommt in Form von Boni

Die Verbesserung der Lebensqualität der städtischen und ländlichen Arbeiter Venezuelas war zu Recht ein zentrales Element im Bolivarischen Prozess seit dessen Anfängen. In vielen Studien sind die unbestreitbar fortschrittlichen Reformen dokumentiert, welche die Arbeiterklasse in der Regierungszeit von Hugo Chávez (1999-2013) bei Löhnen, Arbeitsplatzbedingungen, Basisorganisation und sozialer Sicherheit erreichte und deren positive Auswirkungen auf das Land und die Region sich in sozialen Indikatoren widerspiegelten.

In letzter Zeit haben Arbeiter jedoch zunehmend gegen eine Reihe von Rückschritten und niedrige Löhne protestiert, wobei einige sogar den Klassenstandpunkt von Chávez' Nachfolger in Frage stellen.

Es ist sicherlich wahr, dass Nicolás Maduro (der häufig seine eigene Herkunft aus der Arbeiterklasse betont) gezwungen war, pragmatisch mit massiven fiskalischen Zwängen umzugehen, die durch stagnierende Öleinkünfte, die lähmende imperialistische Blockade und sieben aufeinanderfolgende Jahre wirtschaftlicher Rezession verursacht wurden.

Es ist jedoch auch wahr, dass seine Regierung versucht hat, sich durch Austeritätsmaßnahmen und arbeiterfeindliche Aktionen Spielräume zu verschaffen, anstatt der Blockade durch die Vertiefung des revolutionären Prozesses und Ermächtigung des Volkes zu begegnen.

Privatisierungen und neoliberale volkswirtschaftliche Reformen, regressive Steuerpolitik mit Steuerbefreiungen und Dollarisierung, ferner die Verfolgung von Arbeitern, die Verletzung kollektiver Tarifverträge1 und die fast vollständige Abschaffung von Preiskontrollen und Subventionen sind in der Regierungspolitik seit Beginn der Blockade 2017 zunehmend präsent.

Die Rückschritte, zusammen mit einer oft verwirrenden und widersprüchlichen Regierungsrhetorik, Erklärungen zur Unterstützung der Arbeiterklasse und gleichzeitige Zugeständnisse ans Privatkapital (sowohl national als auch transnational) waren ein Hauptfaktor für den Bruch in der Pro-Regierungskoalition im letzten Jahr. Eine Handvoll linker Organisationen, darunter die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV), entschied sich schließlich, auf Distanz zu gehen und einen Schlussstrich unter diese Art Politik zu ziehen.

Diese Einschätzung mag diejenigen schockieren, die reflexartig in einer überalterten Sicht auf die sozioökonomisch-politische Situation des Landes gefangen sind. Dennoch ‒ und ohne die Bedingungen zu ignorieren, die durch die US-Sanktionen und andere imperialistische Versuche, Venezuelas linken Weg nach rechts zu drängen, noch verschärft wurden ‒ sprechen die realen arbeiterfeindlichen Kehrtwendungen der Regierung bedauerlicherweise für sich selbst.

Von sicheren Lohneinkommen zu unsicheren Bonuszahlungen

Einer der weniger gut dokumentierten Rollbacks war die jüngste Umstrukturierung der Löhne, ein Prozess, der als "bonificación" bekannt ist.

"Bonificación" ist das systematische Ersetzen von vertraglich geregelte Löhnen durch inoffizielle, intransparente und oft genug sporadische Boni (am Arbeitsplatz oder auch anderswo). Dieser Ersatz wird durch das Einfrieren der Vertragslöhne erreicht oder durch Löhne unterhalb des Inflationsausgleichs, also reale Lohnsenkungen, und gleichzeitiges Aufstocken von Bonus-Schemata. Das Ergebnis ist, dass die Boni einen immer größeren Anteil am Nettoeinkommen der Menschen ausmachen und die Vertragslöhne immer unbedeutender werden.

Am Rande der venezolanischen Verfassung und tariflicher Arbeitsverträge wurde das Bonussystem seit 2016 vorwiegend auf Beschäftigte im öffentlichen Dienst angewandt2. Früher einmal entstanden aus dem gut gemeinten Bestreben, die venezolanischen Arbeiter vor der Wirtschaftskrise zu schützen, zeigt sein gegenwärtiger Umfang und Ausmaß, dass das Bonussystem für die Behörden längst zu einem Instrument der Lohnstrukturierung geworden ist.

Bei den aktiv Arbeitenden hat die Unsicherheit, die diese Politik schafft, die Angst und Verzweiflung noch verstärkt, die verursacht werden durch inflationsgeschädigte Löhne, Folgen der Wirtschaftskrise und die Notwendigkeit, Zweitjobs anzunehmen oder die Ausgaben der Familie zu kürzen. Darüber hinaus gerieten Rentner, die kaum Boni bekamen, in schwere wirtschaftliche Notlagen.

Diese Umstrukturierung verschlechtert die Arbeitnehmerrechte, die Liberalisierung und das Aufweichen der Arbeitsbeziehungen stellen die Lohneinkommen ins Belieben ‒ also kaum eine Politik, die man mit einer sozialistischen Regierung in Verbindung bringen möchte.

Die systematische Anwendung dieser Politik, die verdeckt und schleichend ohne offizielle Ankündigungen oder Mitteilungen am Arbeitsplatz umgesetzt wurde, wirft die Frage auf, ob womöglich hinter verschlossenen Türen eine strategische Planung des Arbeitsmarktes dahinterstand.

Gewerkschafter, Basisorganisationen und die PCV kritisierten diese Politik, wobei letztere bereits 2016 vor einem "gefährlichen Zwei-zu-Eins-Verhältnis [Bonus zu Lohn]" warnte. Die Kommunistische Partei prangerte den "Betrug" im diesjährigen Tarifvertrag der Ölarbeiter an, bei dem "der überwiegende Teil des Einkommens über Boni erzielt wird, die keinen Lohncharakter haben".

Das Bonussystem als "psychologisches Instrument" zur Manipulation

Eine von denen, die diesem stillen Wandel ausgesetzt sind, ist Gabriela Rodríguez3. Die linke Aktivistin Rodríguez ist Lehrerin mit neun Jahren Berufserfahrung. Sie arbeitet derzeit an der staatlichen Samuel-Robinson-Hochschule für Lehrerbildung.

Sie erzählte VA, dass ihr derzeitiges monatliches Nettoeinkommen bei etwa zwölf US-Dollar liegt (das entspricht etwa drei großen Kartons Eiern4). Derzeit kommen 20 Prozent dieses Einkommens aus ihrem vertraglichen Lohn und 80 Prozent aus zusätzlichen Boni. Dies ist ein deutlicher Unterschied zu 2016, als sie 99 Prozent ihres Einkommens von etwa 100 US-Dollar über ihren Lohn erhielt5.

Ohne Ankündigung gab es in den letzten sechs Monaten eine Reihe neuer Boni auf ihrem Gehaltsscheck, etwa der "Bonus Simón Rodríguez" für Bildungsarbeiter (3,68 Dollar monatlich) oder der "Bonus Quédate en Casa" für pandemiebedingte Fernschulung (1,38 Dollar sporadisch). Zusätzlich erhält sie Boni über das "Carnet de la patria"6, wie den "Bonus Economía Familiar" (variabel je nach Familiengröße, aber in ihrem Fall 0,82 Dollar monatlich). Dafür jedoch sind hart erkämpfte Rechte am Arbeitsplatz, wie beispielsweise eine Kranken- oder Bestattungsversicherung, fast alle verschwunden.

Obgleich sie die wohltuende Wirkung des zusätzlichen Einkommens anerkennt, steht Rodríguez der "bonificación" trotzdem kritisch gegenüber, da sie darin nur die "Kehrseite" des Regierungversagens beim rasanten Rückgang des Reallohns erkennt.

Des Weiteren schildert sie, wie durch die sporadische Natur und die ungewisse Dauer der Boni die Abhängigkeit zwischen Belegschaft und den Bossen (in ihrem Fall dem Staat) vertieft wurde. Sie fühlt sich durch die Boni politisch und am Arbeitsplatz unter Druck gesetzt, durch die "indirekte Drohung", dass das zusätzliche Einkommen jederzeit wegfallen kann.

"Es gibt eine direkte Verbindung zwischen den Boni und der Regierungspolitik. Die Regierung versucht, die Arbeitskräfte bei Stimmung zu halten, aber gleichzeitig manipuliert sie durch ihre Politik die am meisten prekär Beschäftigten", erklärt sie. "Die Leute werden sich kaum beschweren können, wenn die Boni verschwinden, da sie kein formaler Lohnbestandteil sind", fügt sie hinzu. Sie sieht in dieser Politik ein "psychologisches Instrument".

Rodríguez schildert, wie ihr Familienleben betroffen ist. "Da die Einnahmen nicht mehr wie ein Lohn fixiert sind, wissen wir nie, wann oder ob überhaupt etwas kommt. Ich kann mich auf dieses Einkommen nicht verlassen, es ist nicht garantiert." Sie erklärt, dass sie Schuldscheine (IOU) in ihrem örtlichen Lebensmittelgeschäft hinterlegen muss, bis der nächste Bonus kommt.

Zutiefst unpopulär und ein Banner des Klassenkampfs

Auch Yosmely Dávila äußert Kritik. Sie hat acht Jahre als Kundenbetreuerin bei der staatlichen Telekommunikationsfirma Movilnet gearbeitet.

Nur 2,6 Prozent (etwa 1,80 Dollar) ihres monatlichen Nettoeinkommens von 70 US-Dollar kommen aus ihrem Vertragslohn. Der Rest setzt sich aus kürzlich eingeführten Arbeitsplatzprämien und den monatlichen Lebensmittelpaketen mit einem Marktwert von etwa 50 Dollar sowie aus den Boni des Carnet de la patria zusammen. Wie bei Rodríguez kamen 2016 noch 99 Prozent ihres monatlichen Nettoeinkommens aus ihrem regulären Lohn.

Dávila erzählte VA, dass sie seit Februar keinen Lohn mehr bekommen hat und dass sie aufgrund der bonificación befürchtet, Arbeitsplatzboni und Lebensmittelpakete zu verlieren, wenn die Rückstände endlich eintreffen. Im Ergebnis hat die alleinerziehende Mutter in den letzten drei Monaten rund 88 Prozent ihres monatlichen Nettoeinkommens verloren.

Wie im Bildungsbereich ist auch bei Movilnet der Tarifvertrag abgelaufen und wird derzeit erneuert. Die Gewerkschaftsvertreter kämpfen für ein Ende der bonificación, welche in der Belegschaft des Unternehmens zutiefst unpopulär ist, wie Dávila uns erzählt.

"Die Boni sind nicht [vertraglich] abgesichert, (...) wir [die Movilnet-Belegschaft] wissen nicht, ob sie uns weiter bezahlen werden. Jeden Monat gibt es die Ungewissheit, in der wir uns fragen: Wie viel werden wir bekommen, welche Boni kommen überhaupt?", fragte sie und beklagte die mangelnde politische Transparenz.

Laut der Telekommunikations-Arbeiterin ist diese unstete Zahlungspolitik "arbeiterfeindlich und illegal", sie soll die Verantwortung der Regierung bei der Arbeitspolitik angesichts der Geldprobleme und der wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes verwässern. Diese Strategie, argumentiert sie, steht in krassem Gegensatz zu den kapitalfreundlichen Zugeständnissen, die die Regierung den Unternehmern und der Bourgeoisie gemacht hat.

"Wenn die Regierung wirklich auf Seiten der Arbeiterklasse wäre, so würde sie versuchen, die [vertraglichen] Gehälter zu verbessern, anstatt Boni zu verteilen. Schließlich ist die Arbeiterklasse die ursprüngliche Basis von Sozialismus und Revolution", erklärte sie.

Gegen Arbeiterrechte

Genau diese Position vertritt auch die Mitarbeiterin des Nationalen Fraueninstituts Inamujer (Instituto Nacional de la Mujer) Andrea Gómez, aus deren Sicht die Politik "verunglimpfend" und "populistisch" ist.

Gómez hat selber erlebt, wie ihr monatliches Nettoeinkommen von etwa 40 Dollar im Jahr 2016 auf 1,38 Dollar gesunken ist, obwohl sie seit 15 Jahren in ihrem Job tätig ist. Im Gespräch mit VA beklagte sie, dass die Bonuskultur inzwischen alle Bereiche der Gesellschaft durchdrungen hat, dass sie aber gegen die hohen Lebenshaltungskosten wenig bewirkt.

Ein Beispiel, das die feministische Aktivistin hervorhob, ist der "Bonus Parto Humanizado" (variabel, aber im Durchschnitt 0,75 bis 1 Dollar monatlich), der schwangeren Frauen ein zusätzliches Einkommen verschaffen soll. Nach Gómez' Meinung verblasst der magere Wert des Bonus gegenüber dem unzureichenden Mutterschutz und den unbezahlbaren privaten Arztrechnungen werdender Mütter, die mit dem Verfall des öffentlichen Gesundheitssystems in die Höhe getrieben wurden.

Sie hob auch die Auswirkungen des Bonussystems auf Renten und Abfindungen hervor, die auf der Grundlage der vertraglichen Löhne und nicht der Nettoeinkommen berechnet werden.

"Wenn die Leute ihr Rentenalter erreichen, bekommen sie die meisten Boni nicht mehr. Was sie wollen, sind die gesetzlichen Sozialleistungen, wie zum Beispiel eine Rente, die sie nach jahrelanger Arbeit genießen können. Das ist auch, was wir Arbeiter wollen, aber keine Boni mehr", erklärte sie.

Die Ablehnung der Bonussystems durch die venezolanische Arbeiterklasse ist klar und schlüssig. Dies zeigt sich bei den Protesten und Streiks autonomer linker Gewerkschaften und Arbeiterorganisationen, die sich in ihrer Forderung nach transparentem, ausreichendem, regelmäßigem und vertraglichem Lohn einig sind.

Es mag unterschiedliche Vorstellungen bei den Arbeitern darüber geben, wie bessere vertragliche Gehälter angesichts der wirtschaftlichen Auseinandersetzungen zu finanzieren sind. Einige drängen auf Steuerreformen, auf Anti-Korruptionsmaßnahmen und Arbeiterkontrolle, während andere sich auf die Rückgewinnung beschlagnahmter ausländischer Vermögenswerte konzentrieren.

Aber woher die Mittel auch kommen mögen, die Zusammenfassung aller Kräfte beim Kampf für eine andere Regierungspolitik und die Arbeiterrechte ist essentiell, um Venezuelas sozialistisches Projekt wieder auf den Weg zu bringen und den Traum von Chávez zu vollenden.

  • 1. Das Memorandum 2792 wurde im Oktober 2019 vom Arbeitsministerium herausgegeben und legalisiert (kurz zusammengefasst) die Verletzung von Tarifverträgen sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich. Häufige Gewerkschaftsproteste waren die Folge.
  • 2. Die Regierung hat auch Beschäftigten im privaten Sektor und Selbstständigen Prämien angeboten. Die Substitution von Lohneinkommen durch Prämien scheint jedoch im privaten Sektor, wo inflationsgebundene, dollarisierte Löhne üblicher sind, nie systematisch verfolgt worden zu sein
  • 3. Alle in diesem Artikel erwähnten Personen haben darum gebeten, ihre Namen zu ändern.
  • 4. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels kostete ein Karton mit 30 Eiern etwa 4 US-Dollar, ein Liter Benzin 0,50 Dollar, ein Kilo Reis 1 Dollar und eine Passverlängerung 100 Dollar.
  • 5. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts entsprach 1 Dollar 2.500.000 BsS (Bolívar Soberano).
  • 6. "Carnet de la patria" ist eine Initiative der Regierung mit dem Ziel, Boni, Sozialversicherungen, soziale Einrichtungen, kommunale Programme und andere staatliche Förderungen zu organisieren und zu steuern. Dieser "Ausweis" ist allen Venezolanern zugänglich, darauf werden Daten etwa über bezogene staatliche Leistungen gespeichert. So soll insbesondere das System der Sozialprogramme effizienter gestaltet werden.