Alarmierende Entwicklung von Armut in Argentinien

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Unicef-Bericht zu Armut in Argentinien und die Auswirkungen für Kinder
Unicef-Bericht zu Armut in Argentinien und die Auswirkungen für Kinder

Buenos Aires. Nach Erhebungen der Katholischen Universität (Universidad Católica Argentina, UCA) leiden fast sechs von zehn Argentinier:innen an Armut. Sie haben nicht genug Einkommen, um ihren täglichen Grundbedarf – Lebensmittel, Transport, Kleidung, Medikamente – zu decken. Die Zahl der Armen stieg seit Amtsantritt des rechtsradikalen Staatspräsidenten Javier Milei sprunghaft an, um mehr als 3,5 Millionen auf nun 27 Millionen. In Argentinien leben etwa 46 Millionen Menschen.

Die von der Forschungsstelle "Observatorio de deuda social argentina" ermittelten Zahlen sind die schlimmsten seit 20 Jahren. Im ersten Halbjahr 2023 waren 40,1 Prozent, im Dezember 2023 49,5 Prozent und im Januar 2024 57,4 Prozent der argentinischen Bevölkerung von Armut betroffen. 15 Prozent sind gar völlig mittellos.

Einer der Gründe für den alarmierenden Anstieg: Die Haushaltseinkommen wachsen weit langsamer als die Inflation. 2023 stiegen die Preise um 211,4, die Gehälter allerdings nur um 152,7 und im informellen Sektor sogar nur um rund 115 Prozent. Betrug die Monatsinflation im Januar 2023 nominal 20, stieg sie im Jahresvergleich um 250 Prozent, der höchste Wert weltweit. 

Der Wert des Grundkorbs an Nahrungsmitteln und Dienstleistungen, monatlich vom öffentlichen Statistikamt (Instituto Nacional de Estatística y Censos) ermittelt, betrug im Januar 2024 umgerechnet etwa 700 Dollar. Dies entsprach 3,8 Mindestlöhnen. Die Preise für Lebensmittel sind 2023 um rund 300 Prozent gestiegen. Bei vielen Produkten liegt das Preisniveau auf dem Spaniens. Der Mindestlohn ist in Argentinien allerdings achtmal niedriger. 

In Buenos Aires ist es inzwischen alltäglich, dass Menschen – oft auch Kinder – in Müllcontainern nach Lebensmitteln oder Verkaufsmaterialien suchen, von Haus zu Haus betteln oder die kostenlosen Suppenküchen aufsuchen.

Staatspräsident Javier Milei lehnt jegliche Verantwortung für den Armutsanstieg ab und macht das "Erbe des Kastenmodells" dafür verantwortlich. Trotz der dramatischen Daten bekräftigte er unlängst: "Wir werden nicht das mittelmäßige Spiel der Politik spielen; wir sind gekommen, um das Land zu verändern."

Besonders betroffen von der Armut sind Kinder. Laut Bericht des Kinderhilfswerks Unicef stieg der Anteil von bedürftigen Kindern in Argentinien im ersten Halbjahr 2023 auf 14,3 Prozent. Das sind rund 1,8 Millionen Mädchen und Jungen, 250.000 mehr als 2022. Ende 2023 habe sich das Szenario noch weiter verschärft, da nun 20 Prozent der Kinder bedürftig sind.

630.000 Kinder lebten in Haushalten, die den Grundnahrungsmittelkorb nicht bezahlen können. 57 Prozent der Mädchen und Jungen im Land sind von Geldarmut betroffen, was 7,1 Millionen Kindern entspricht. Laut Bericht ist die Armut besonders häufig, wenn die Haushaltsmitglieder in Elendsvierteln leben (84 Prozent), ein Umfeld sehr niedriger Bildung haben (83 Prozent) oder Alleinerziehende sind (68 Prozent).

Demgegenüber sind im diesjährigen Staatshaushalt die Ausgaben für Kinderschutz um 75 Prozent gefallen sind. "Der Haushalt ist ein zentrales Instrument, um durch Transferleistungen die Rechte von Kindern und Jugendlichen zu gewährleisten", so Luisa Brumana von Unicef Argentinien. In der Folge wurden viele Kinderschutzinitiativen nicht umgesetzt. Zugleich sind die Bedarfe für Kindergeld und Essenszuschüsse so groß, dass die im Budget vorgesehenen Beträge absehbar nicht ausreichen.

Diese sind allerdings zur Bekämpfung der Armut notwendig: "Die extreme Armutsquote, aktuell zehn Prozent, würde ohne diese direkten Transfers an Haushalte höher sein", sagte Sebastián Waisgrais von Unicef ​​​​Argentinien. Ohne Ausgleichsmaßnahmen würden rund 270.000 mehr Mädchen und Jungen in Armut leben, eine Million mehr würden mittellos sein.

"Falls die aktuellen Trends anhalten, könnte die Armut bei Kindern und Jugendlichen bis Ende des ersten Quartals 2024 etwa 70 Prozent und die Bedürftigkeit 34 Prozent erreichen", ergänzt Waisgrais. Angesichts dessen seien Transferleistungen an arme Haushalte unabdingbar, auch wenn deren Kaufkraft durch die Hyperinflation gesunken sei.

Nach Waisgrais sei es möglich, Kinder auch in einem Anpassungskontext zu schützen, sofern die Transferlistungen über der Inflationsrate erhöht würden. "Die Beseitigung der extremen Armut ist bei politischem Konsens auch bei Haushaltsrestriktionen machbar".

Laut einer von der NGO "Universidad Popular del Barrios de Pie" durchgeführte Studie zur Ernährungssituation in Elendsvierteln, an der knapp zehntausend Kinder und Jugendliche teilnahmen, ist praktisch jedes zweite Kind, das in den "villas" groß wird, unterernährt. 7,4 Prozent der Kinder und 21,7 Prozent der Babys haben eine Körpergröße unter ihrem Altersdurchschnitt, was oft an der chronischen Unterernährung liegt.

Die Erhebungen wurden zwischen September und November 2023 in Elendsvierteln von Buenos Aires sowie in den Provinzen Córdoba, Corrientes, Formosa, Jujuy, Mendoza, Río Negro und Santa Fe durchgeführt.

"Im Vergleich mit dem Wert von vor der Pandemie (44,1 Prozent im Jahr 2019) stagniert die Unterernährung auf einem hohen Niveau", sagte Norma Morales, Leiterin von Barrios de Pie. Bei der Vorstellung des Berichts an der Universität von Buenos Aires wurde unter anderem die Ausrufung des Lebensmittelnotstands und die Einrichtung eines Ministertisches zur Ernährungspolitik gefordert. Aber "wir haben vielerorts die leeren Töpfe sichtbar gemacht, ohne dass die Regierung reagiert", erklärte Morales.