"Casa de la memoria": Erinnerungsarbeit in Guatemala

Das "Haus der Erinnerung" in Guatemala-Stadt gibt denen eine Stimme, die in der offiziellen Geschichtsschreibung nicht zu Wort kommen

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Außenansicht des Casa de la Memoria
Außenansicht des Casa de la Memoria

Seit wann gibt es das Casa de la Memoria und was war der Grund für die Eröffnung?

Die Ausstellung existiert seit 2014. Allerdings war sie damals noch an einem anderen Ort. Das Casa de la Memoria ist Teil der Arbeit von CALDH (Centro para la Acción Legal en Derechos Humanos) – einer Menschenrechtsorganisation, die den Völkermordprozess [gegen den Ex-Diktator Efraín Rios Montt und andere] und weitere Prozesse im Rahmen von Transitional Justice in Guatemala juristisch begleitet hat. Das Casa de la Memoria entstand aus der Idee, nicht nur juristisch tätig zu sein, sondern auch der Erinnerungsarbeit und den Stimmen der Überlebenden einen Raum zu geben, speziell an Schüler und Jugendliche heranzutreten. 2015 gab es die Möglichkeit dieses Haus am heutigen Standort direkt neben dem Büro des CALDH in der 6a Avenida im Zentrum von Guatemala-Stadt zu beziehen.

Im Casa de la Memoria werden die verschieden Etappen der Geschichte Guatemalas von der Zeit vor der spanischen Eroberung bis zum Bürgerkrieg und der heutigen Zeit in verschiedenen Ausstellungsräumen dargestellt. Welche Punkte sind Ihnen besonders wichtig?

Ich glaube, man kann keinen Zeitpunkt oder Etappe besonders hervorheben. Alles was in Guatemala auch heute noch geschieht, kann man nur verstehen, wenn man die Geschichte als Ganzes sieht. Zum Bürgerkrieg und zum Völkermord an den indigenen Völkern während des Bürgerkrieges konnte es nur kommen wegen dem was vorher geschah.

Können Sie das näher erläutern?

Mit dem Beginn der Invasion durch die Spanier wurde eine bestehende Zivilisation unterbrochen. In der Maya-Zivilisation gab es nicht nur positive Aspekte, es gab auch interne Kriege etc., aber es war eine funktionierende Sozialstruktur, welche wichtige wissenschaftliche Beiträge geleistet hat und die zerstört wurde. Mit dem Kolonialstaat entwickelte sich ein fest etablierter Rassismus. Ohne diesen Rassismus wäre der Völkermord in den 1980er Jahren nicht möglich gewesen. Diese Kontinuität zu kennen ist wichtig, um zu verstehen warum Guatemala heute strukturiert ist, wie es ist, warum es noch immer so viel Armut und Rassismus gibt.

Wichtig ist uns aber auch darzustellen, das es auch immer Widerstand gab. Bis heute gab es in jeder historischen Etappe gegen die herrschenden Systeme Widerstand, der zum Beispiel eine gerechtere Verteilung der natürlichen Ressourcen und einen gerechteren Umgang mit den verschiedenen Bevölkerungsgruppen einforderte. Wir versuchen im Casa de la Memoria, die Geschichte nicht als zeitlichen Ablauf, sondern als zirkulären Prozess zu verstehen.

Der Bürgerkrieg ist jetzt gut 26 Jahre zu Ende. Die schlimmste Phase ereignete sich in den 1980er Jahren, etwa vor 40 Jahren. Was weiß die heutige Generation über den Bürgerkrieg?

Ich denke es gibt verschiedene Grade von Wissen. Bezogen auf die jüngere Generation gibt es Viele, die wissen dass da "irgendwas" passiert ist, ohne es genauer einordnen zu können. Dieses Wissen kommt aus verschiedenen Quellen, vielleicht weil sie einen guten Lehrer hatten, der das thematisiert hat, oder auch in der Familie, weil vielleicht ein Angehöriger immer noch gesucht wird, oder ein Verwandter im Exil lebt, manchmal ist auch gerade das Schweigen darüber in der Familie ausschlaggebend. Andere haben ihr Wissen, weil ihr Vater oder Großvater vielleicht beim Militär oder "Patrullero" war [Mitglieder der Zivilen Selbstverteidigungspatrouillen, PAC, eine paramilitärische Struktur während des Bürgerkrieges mit bis zu einer Million Mitgliedern, der zahlreiche Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt werden].

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Zentrales Wandbild im Casa de la Memoria
Zentrales Wandbild im Casa de la Memoria

Dann gibt es Jugendliche, die gut und detailliert informiert sind, über die Schule, über Kurse oder persönliches Interesse. Bei der älteren Generation würde ich sagen, es gibt dort die, die tatsächlich nichts oder wenig wissen, dann die, die gut informiert sind, vielleicht weil sie selbst im Widerstand aktiv waren, und eine dritte Gruppe, die leugnen oder verdrehen was geschehen ist. Sie leugnen die Massaker entweder ganz oder verdrehen die Tatsachen.

Eine Version die ich häufig höre ist, die Maya-Völker hätten sich gegenseitig bekämpft oder die Geschehnisse werden als militärisch notwendige Aktionen der Armee gegen die Guerilla dargestellt. Manche behaupten gar, die Massaker hätte es zwar gegeben, aber es war nicht das Militär, sondern die Guerilla. Wir orientieren uns dagegen an dem, was die Wahrheitsberichte wie "Guatemala nunca mas" und "Memoria del Silencio" als historische Wahrheit definiert haben.

In diese gesellschaftliche Situation werden heutige Jugendliche hineingeboren, und da kann unser Museum viel zur Bewusstseinsbildung und Klärung beitragen. Bei Schülern, die kommen, gibt es welche die zum ersten mal vom Bürgerkrieg hören, andere wussten bereits etwas und der Besuch hilft ihnen das besser einzuordnen, dann gibt es auch Jugendliche, die negieren was sie hier hören.

Wir wollen denen eine Stimme geben die in der offiziellen Geschichtsschreibung und in den Geschichtsbüchern nicht zu Wort kommen, das sind für uns vor allem die Frauen und die indigenen Völker.

Wie laufen die Besuche ab?

Schulklassen oder Gruppen werden in der Regel von Studenten und Studentinnen begleitet, die das freiwillig machen, nicht von mir oder meiner Kollegin. Die Idee ist, dass gerade die Information von Menschen aus der jüngeren Generation an junge Menschen weitergeben werden sollen. Wichtig ist uns, den Schülern zu vermitteln, dass die Situation heute in Guatemala, die Gewalt, die Armut, der Rassismus, nicht zufällig entstanden, sondern Resultat der historischen Geschehnisse sind. Und dass die Jugendlichen auch die Möglichkeit haben, und sei es mit kleinen Beiträgen, auf die Situation heute in Guatemala einzuwirken. Wir merken zum Beispiel, dass sich Jugendliche durch den Besuch mit ihren Wurzeln als Angehörige der Maya-Völker beschäftigen, sich bewusst machen, ich habe einen Maya-Familiennamen.

Welche Bevölkerungsgruppen besuchen das Museum?

Menschen aus den reicheren Bevölkerungsschichten kommen eher selten. Das ist auch bei den Schulen zu merken, es sind überwiegend öffentlichen Schulen oder die günstigeren Privatschulen, die uns besuchen. Der Besuch war durch die Pandemie etwas eingebrochen, aber vor der Pandemie hatten wir Tage, an denen 300 Schüler kamen, jährlich hatten wir vor der Pandemie etwa 10.000 - 12.000 Besucher. Der überwiegende Teil kommt aus der Hauptstadt, neben Schulklassen auch Studentengruppen von der staatlichen Universität oder auch von privaten Universitäten. Aus dem Landesinneren ist der Besuch selten, manchmal kommen Überlebende der Massaker.

An bestimmten Jahrestagen versuchen wir nach außen zu gehen, vor allem am 25. Februar, dem Tag der "Würde der Opfer des internen Konfliktes" und dem 10. Mai, dem Tag des Gerichtsurteils wegen Völkermord gegen den ehemaligen Diktator Rios Montt [Er wurde am 10. Mai 2013 wegen Völkermord zu 80 Jahren Haft verurteilt, das Verfassungsgericht hob das Urteil wenige Tage später wegen angeblicher Verfahrensfehler wieder auf]. An diesen Tagen haben wir die Ausstellung einmal auf dem zentralen Platz in der Hauptstadt gezeigt oder die freiwilligen Studenten bringen die Ausstellung in der virtuellen Form in ländliche Regionen.

Wie finanziert sich das Casa de la Memoria, bekommt es Gelder aus dem Staatshaushalt in Guatemala?

Nein, von der Regierung bekommen wir keine Unterstützung. Die Finanzierung erfolgt hauptsächlich durch Spenden und auch internationale Organisationen. Der Eintritt ist kostenlos, um allen Personen den Zugang zu ermöglichen. Direkten Kontakt mit den Autoritäten des Bildungssystems gibt es keinen. Offiziell leugnet die Regierung die Verbrechen und deren Verantwortlichkeiten während des Bürgerkrieges. Es gibt in Guatemala, anders als beispielsweise in Chile oder Argentinien, keine öffentliche Politik zur Erinnerungsarbeit .

Das passt zu meiner letzten Frage. In den letzten Jahren entwickelt sich Guatemala wieder zunehmend autoritär und undemokratisch. Wie sehen Sie die Situation und wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?

Die politische Situation ist sehr angespannt. Wir sehen ganz klare demokratische Rückschritte. Und wir sehen auch Versuche, die Fortschritte wieder rückgängig zu machen, die im demokratischen Bereich und in der Erinnerungsarbeit erreicht wurden. Mit Blick auf die Wahlen im Juni sehen wir ein klares Panorama, welches der Erinnerungsarbeit eher abträglich ist und unsere Arbeit im Casa de la Memoria erschweren wird, dafür allerdings umso wichtiger macht.

Karolin Loch, Fachkraft von Agiamondo e.V., ist im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes (ZFD) in der Partnerorganisation CALDH in Guatemala tätig

Das Interview erschien in gekürzter Fassung zuerst in der Tageszeitung junge Welt vom 17. Mai 2023