Seit 12 Jahren liegt Kueka, die steingewordene Großmutter der Pémon aus Venezuela im Berliner Tiergarten. Im Rahmen des Global-Stone-Projekts des Bildhauers Wolfgang Kraker von Schwarzenfeld soll Kueka als Beitrag der Amerikas zusammen mit vier Steinen aus den anderen Kontinenten einen Beitrag zu Völkerverständigung und Weltfrieden leisten. Unterstützt von deutschen Aktivisten und der venezolanischen Regierung fordern die Pémon die Rückkehr von Kueka in den Canaima Nationalpark.
Dieses Interview mit dem venezolanischen Kulturminister Pedro Calzadilla erschien in leicht gekürzter Fassung in der Novemberausgabe der Lateinamerika Nachrichten. Pedro Calzadilla ist seit Mai 2011 Kulturminister Venezuelas. Als Professor der Geschichtswissenschaft lehrte er an der Zentraluniversität in Caracas (UCV). Zudem leitete er das Nationale Zentrum für Geschichte (CNH).
Warum fordert die venezolanische Regierung den Stein Kueka nach mehr als 12 Jahren zurück?
Richtig ist, dass wir bereits seit 2003 versuchen, den Stein zurück zu bekommen. Der Stein wurde 1998 vom damaligen Leiter der Nationalparkbehörde, Hector Mujica, dem Künstler Wolfgang Schwarzenfeld offiziell geschenkt. Am 30. Juli 1998 verließ der Stein den Nationalpark. Als die Pémon-Gemeinde gesehen hat, dass ein LKW den Stein Kueka abtransportierte, haben sie diesen gestoppt. Der Stein wurde daraufhin sechs Monate von der Nationalgarde festgehalten. Die Pémon haben sich an den damaligen Kongress gewandt und einige Parlamentarier setzten sich für die Annullierung der Schenkung ein, die am Ende jedoch vom Kongress bestätigt wurde.
Seit 1971 besteht aber ein Nationalparkgesetz, das Venezuela im Rahmen Internationaler Abkommen zum Naturschutz, aber auch zum Schutz des Kulturerbes unterzeichnet hat. Nach diesem Gesetz hätte ein öffentlicher Beamter, wie der damalige Leiter des Nationalparks, gar keine Schenkung entscheiden dürfen. Ich möchte jedoch vor allem betonen, dass es neben den rechtlichen und diplomatischen Feinheiten in diesem Fall zunächst um das Recht eines Volkes auf sein Kulturerbe geht. Ein Recht das nicht verjährt. Ginge es hier nur um Rechtsfragen, dann könnten wir auch die Kolonisierung Lateinamerikas als legal beschreiben. Immerhin hat die damalige höchste Rechtsinstanz, der Papst, Spanien und Portugal seine Einverständnis erteilt.
Nun behauptet der Künstler jedoch, die Pémon hätten ihm ausdrücklich die Ausgrabung und Ausfuhr des Steins erlaubt. Lügt der Künstler?
Nehmen wir an, er sagt die Wahrheit. Wir waren nicht dabei und können es nicht widerlegen. Trotzdem ist ebenso wahr, dass ein Volk sein Kulturerbe zurückfordert. Die Pémon sagen, dass der Künstler ein paar Mitglieder der Gemeinde bezahlt hat, um den Stein zu bergen. Es hat zwischen 1999 und 2003 viele Demonstrationen der Pémon-Gemeinde vor der deutschen Botschaft in Caracas gegeben. Vom Einverständnis der gesamten Gemeinde kann also nicht ausgegangen werden.
Welche Schritte hat die venezolanische Regierung denn unternommen um den Stein zurück zu bekommen?
Es hat 2003 von unserer Seite aus eine offizielle Anfrage an die deutsche Regierung gegeben. Die venezolanische Botschaft in Berlin hat mehrere diplomatische Verbalnoten an das Kanzleramt und das Auswärtige Amt geschickt. Bis heute hat die venezolanische Regierung darauf keine offizielle Antwort erhalten. 2004 hat dann der Künstler Forderungen gestellt. Als erstes hat er eine Entschuldigung des venezolanischen Volkes gefordert. Er fühlte sich moralisch beleidigt. Dann wollte er einen Tausch des Steins vorschlagen, und zusätzlich eine Million Euro. Er wollte dieses Geld zwar für eine Stiftung mit sozialen Zielen, aber in erster Linie ging es ihm doch um persönliche Interessen. Im Moment warten wir weiterhin auf eine offizielle Antwort der deutschen Regierung. Wir sind jedoch dabei, in Gesprächen Alternativen zu finden. Der venezolanische Staat übernimmt gegenüber den Pémon die Verantwortung. Obwohl eine andere Regierung verantwortlich war, sind wir ja immer noch derselbe Staat. Konkret bieten wir der Bundesregierung an, die Kosten für die Rückkehr des Steins nach Venezuela zu übernehmen.
Der Fall Kueka steht Beispielhaft für Konflikte in einer postkolonialen Weltordnung. Immerhin waren es venezolanische Behörden die den Stein dem deutschen Künstler mit großer Unterstützung zur Verfügung stellten. Sehen sie Ansätze einer post-postkolonialen Kultur im heutigen Venezuela?
Wir haben uns vorgenommen den Sozialismus aufzubauen und sind dabei gefangen in der hegemoniellen Kultur des Kapitalismus. Unser Vorhaben ist also sehr schwierig. Wie erreichen wir die Überwindung dieser Hegemonie? Hegemonie ist ja nicht nur als eine politische oder wirtschaftliche Dominanz zu verstehen sondern im Sinne Gramcis als eine kulturelle Hegemonie. Dabei meine ich mit Kultur nicht nur den künstlerischen Ausdruck sondern das Wertesystem, Ethik, und vor allem unseren Lebensstil. Wir wollen einen Lebensstil entwickeln der im Einklang steht mit den Anderen, mit der Natur, ein bisschen wie die Idee des "Buen Vivir" der Aymara und Quechua. Wie machen wir das innerhalb des Kapitalimus? Das ist die Herausforderung. Wir machen es mit Demokratie und auf friedliche Weise. Es gibt Leute die sagen das es unmöglich ist. Wir sagen ist es möglich.
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Wenn wir über Alternative Entwicklung in Lateinamerika reden, so scheint es gerade einen Konflikt zwischen dem genannten Modell des "Buen vivir" und der Ausweitung des Ausbeutung von Bodenschätzen, wohlgemerkt unter staatlicher Kontrolle, aber für den Exportmarkt zu geben. Auch in Venezuela gibt es Konflikte zwischen der indigenen Bevölkerung und der Förderung von Kohle und Erdöl auf ihren angestammten Territorien. Ist der sogenannte Neoextraktivismus, wie ihn auch die venezolanische Regierung vorantreibt, tatsächlich eine Alternative zu bisherigen Entwicklungsmodellen?
Unsere Regierung hat den Kohletagebau in Perijá gestoppt. Es gibt dort natürlich weiterhin Konflikte. Landkonflikte, die Grenze mit Kolumbien, viele Interessen, die man mit Vorsicht angehen muss. Es geht in dieser Region nicht nur um die indigene Bevölkerung.
Dazu gibt es Radikalismus von vielen Seiten. Wir müssen ein Gleichgewicht schaffen in einem Modell, dass sich nicht davor verschließen kann, einer für den Moment rationalen Ausbeutung der Bodenschätze zuzustimmen. Trotzdem müssen wir eine neue Rationalität finden, die Beispielsweise in dem Konzept des "Buen Vivir" angedeutet wird, um eine Harmonie mit der Natur wiederherzustellen. Das ist der Kern der Revolutionen in Lateinamerika, auch in Venezuela.
Sie sagen also eine Gegenhegemonie ist auf dem Weg?
Es ist komplex. Wir haben kleine Fortschritte gemacht. Einem wichtigen Teil der Gesellschaft ist heute wenigstens bewusst, dass sie in einer kapitalistischen Gesellschaft leben, dass sie deshalb eine Kultur und Verhaltensmuster haben, die von diesem System geprägt sind. Das war vor einigen Jahren einfach nicht der Fall. Dass es darüber in der Bevölkerung heute zumindest eine kritische Reflexion gibt ist ein großer Fortschritt. Natürlich heißt das nicht, dass sich dadurch alles geändert hat. Aber immerhin gibt es ein Problembewusstsein. Ein wichtiger Schritt.
Der Bildhauer Wolfgang Schwarzenfeld wirft der venezolanischen Regierung in dem Konflikt um den Piedra Kueka einen Propaganda-Coup vor. Auch venezolanische Künstler und Kulturschaffende kritisieren die politische Vereinnahmung der Kunst. Ihrem Ministerium wird vorgeworfen, die Förderung von Künstlern und Kulturprojekten streng an ideologische Überzeugungen zu knüpfen. Der Sender Deutschlandradio Kultur zitierte im August, Héctor Manrique, Direktor des international bekannten Theaterkollektivs "Grupo Actoral 80". Er behauptet, ihm seien nach einer Aufführung eines Werkes des Chávez-Kritikers Mario Vargas Llosa die Mittel gestrichen worden. Gibt es im Sozialismus des 21. Jahrhunderts eine neue politische Zensur?
Venezuela erlebt heute vielleicht seine größte kulturelle Blütezeit. Das sage ich nicht nur, weil es das Ergebnis unserer Politik ist, der Förderung durch öffentliche Institutionen und den Staat. Es gibt eine Vielzahl privater Einrichtungen, mit unterschiedlicher politischer und ideologischer Ausrichtung, die sich künstlerisch ausdrücken und sich dabei vollkommen frei entfalten können. Die künstlerische Arbeit in Venezuela hat sich unter unserer Regierung verzehnfacht und dabei unsere Kulturproduktion obendrein demokratisiert. Sie hat die Mittelvergabe demokratisiert. In diesem Punkt haben andere Institutionen Fehler gemacht. Zum Beispiel das Ateneo in Caracas1. Das Ateneo ist eine private Stiftung, die wie ein Monopol die staatlichen Mittel der Kulturförderung verwaltet hat. Dies hat andere Projekte von Förderungen ausgeschlossen. Heute erhält das Ataneo keine öffentliche Förderung mehr. Dafür erhalten sie private Mittel und niemand schränkt sie in ihrer Arbeit ein.
Was verstehen Sie denn unter "kultureller Blütezeit"?
Noch nie wurden in Venezuela so viele Bücher wie heute veröffentlicht, noch nie wurden so viele Bücher verschenkt. Alleine in Caracas gibt es fünf Buchmessen. Alle sind voll mit Besuchern, auch die in den Stadtteilen der Opposition. Bis vor fünf Jahren, haben die internationalen Verlage, zum Beispiel Planeta aus Spanien, gesagt: Venezuela ist ein Land der Nichtleser. Der Buchmarkt war extrem klein. Heute widerrufen diese Verlage ihre Aussage. Leonardo Milla, der vor kurzem verstorbene Besitzer des bedeutenden spanisch-venzolanischen Alfa-Verlages, hat sich vor seinem Tod öffentlich über das venezolanische Phänomen gewundert. Plötzlich lesen die Leute Geschichte, Philosophie und Belletristik und der Verlag kann nun 5000er-Auflagen drucken lassen, ohne sich darum zu sorgen, ob sie sich verkaufen. Wie ist das möglich? Durch die Verfolgung des freien Denkens? Nein, durch die Demokratisierung und die Politisierung des Landes durch Regierung und Opposition gleichermaßen.
Das Recht des Bürgers auf Kultur hat in Venezuela Verfassungsrang. Das hat uns erlaubt, unser kulturelles Spektrum zu erweitern. Es ist klar, dass es bei der Durchsetzung des Rechts auf Kultur Meinungsverschiedenheiten gibt, die in erster Linie davon abhängen, welche Regierung an der Macht ist. Das ist normal.
Ihr Vorgänger im Amt des Kulturministers, Francisco Sesto Novás, sagte: "Die Kultur muss revolutionär sein". Denken sie auch, dass die Kunst eine politische Richtung haben muss, um gefördert zu werden?
Wir kommen aus einer Situation, in der ein Teil der Gesellschaft gegen die Institutionen des Staates gekämpft hat. Sie haben keine staatliche Institution mehr anerkannt, nicht die Verfassung, nicht die Gesetze, nicht die Wahlen. Das hatte natürlich Konsequenzen auf die Politik. Es gab einen Moment, in dem sich der Staat von diesen Sektoren distanzieren musste. Obwohl ich damals nicht Minister war, kann ich mir vorstellen, dass dabei auch viele Kunstschaffende ihren Einfluss im Kulturministerium verloren haben. Das ist aber ein sehr großer Unterschied zu einer Politisierung der Kunst.
Allerdings denke ich, dass Kultur immer auch eine soziale und kollektive Funktion erfüllt. Niemand, oder zumindest die wenigsten, schreiben ein Gedicht, um danach das Papier, auf dem es geschrieben wurde, in einer Zigarette zu rauchen. Normalerweise ist es doch gerade der Antrieb der Künstler, ihre Werke öffentlich zu machen. Genau deshalb ist für mich jede künstlerische Produktion auch politisch, zumindest im weitesten Sinne des Begriffs. Ich glaube alle Produktionen haben eine politische Orientierung und es ist gut, dass diese unterschiedlich sind. Was ich hingegen nicht gelten lasse, ist eine politische Naivität der Künstler, zu sagen, ich habe etwas geschaffen, das nichts mit meiner mich umgebenen Welt zu tun hat. Generell drückt der Künstler doch seine Gegenwart aus. Und er drückt diese auch politisch aus, ohne das notwendigerweise explizit zu machen oder sich darüber bewusst zu sein. Ich sage aber auch deutlich, dass jedwede Form der Kunst wichtig und legitim ist. In der venezolanischen Gesellschaft, und ich habe nicht den geringsten Zweifel das zu sagen, ist jedwede Kunst willkommen.
Zum Beispiel haben wir im Theater "Teresa Careño" in Caracas vom Kulturministerium neulich die Koproduktion der Aufführung des Musicals "The Sound of Music" übernommen. Die radikale Linke hat mich daraufhin kritisiert, die Aufführung eines in den USA uraufgeführten und geschriebenen Musicals mit öffentlichen Geldern zu unterstützen. Natürlich hätte es auch andere Möglichkeiten gegeben. Am Ende soll aber der Zuschauer entscheiden und nicht ich. Was ich aber nicht mache, ist öffentliche Gelder für Theaterstücke freizugeben, die den Sturz der venezolanischen Regierung fordern.
Eine öffentliche Förderung eines Theaterstücks nach Vorlage von Chávez-Kritiker Mario Vargas Llosa wäre also kein Problem?
Nein, wir importieren doch auch Bücher von Vargas Llosa nach Venezuela. Das Problem ist vielmehr, dass diese, genauso wie die Werke von Gabriel Garcia Marquez, unglaublich hohe Lizenzgebühren kosten. Wir wollten über die öffentliche Filmförderung eine Verfilmung von Garcia Marquez' "Der General in seinem Labyrinth" finanzieren. Eine Million Euro hätte uns das an Lizenzgebühren gekostet. Nur für einen Film. Davon können wir fünf Filme produzieren.
- 1. u.a. Spielstätte des Grupo Actoral 80, Anm. des Interviewers