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Wie Hugo Chávez zu Chávez wurde

Ignacio Ramonet über prägende Erfahrungen in der Kindheit und Jugend von Hugo Chávez

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Im Jahr 1971 geht Hugo Chávez zum Militär, wo er sich Anfang der 80er Jahre mit anderen fortschrittlichen Militärs politisch organisiert.
Im Jahr 1971 geht Hugo Chávez zum Militär, wo er sich Anfang der 80er Jahre mit anderen fortschrittlichen Militärs politisch organisiert.

So wie ihn selbst, ändert es schließlich die Ewigkeit
Stéphane Mallarmé, Le tombeau d`Edgar Poe (1877)

Hugo Chávez, am vergangenen 5. März auf der Höhe seines politischen Erfolgs gestorben, wird im kollektiven Gedächtnis der Menschen in Lateinamerika für immer verbunden sein mit der kleinen Gruppe der großen Verteidiger der Sache der Völker: Emiliano Zapata, Che Guevara, Salvador Allende...

Er war zweifellos der bekannteste Politiker seiner Zeit. Was nicht bedeutet, dass seine Ideen und sein Werk anerkannt wurden. Denn er war gleichzeitig auch ein Politiker, der von den herrschenden Medien der Massenkommunikation mit dem größten Hass angegriffen und verteufelt wurde. Sein politischer Werdegang seit seinem Wahlerfolg in Venezuela im Jahr 1999 ist relativ gut bekannt, nicht jedoch sein Leben vor dieser Zeit. Wie wurde aus Chávez der politische Mensch? Wo wurde er geformt? Wer oder was beeinflusste ihn? Wann beschloss er, die Macht zu erobern? An diese Aspekte seiner Person wollen wir hier erinnern.

Nichts deutete zu Beginn auf einen so einzigartigen Lebensweg hin. Chávez kam in einer sehr armen Familie in der hintersten Ecke des "weiten Westens" Venezuelas zur Welt, in Sabaneta, einem kleinen Ort in den Llanos, diesen unendlich weiten Ebenen, die sich bis zum Fuß der Anden erstrecken. Als er im Jahr 1954 zur Welt kam, waren seine Eltern noch nicht einmal zwanzig Jahre alt. Vorübergehend als schlecht bezahlte Lehrer in einem verlassenen kleinen Ort tätig, mussten sie ihre beiden jüngsten Kinder (Hugo und seinen älteren Bruder Adán) in der Obhut der Großmutter der Kinder lassen. Rosa Inés, eine afro-indigene Mestizin, zog sie bis zum Alter von 15 Jahren auf. Als eine sehr intelligente, pädagogisch geschickte Frau, ausgestattet mit einer beachtlichen Vernunft und Besonnenheit, übte sie einen großen Einfluss auf die Erziehung des kleinen Hugo aus.

Rosa bewohnt am Rande des Dorfes ein indianisches Haus mit Lehmboden, Wänden aus Lehmziegeln und einem Dach aus Palmblättern. Es gab weder fließendes Wasser noch Elektrizität. Ohne irgendwelche finanziellen Mittel, lebte sie vom Verkauf von Süßigkeiten, die sie selber aus den Früchten ihres kleinen Gartens herstellte. So lernte Hugo von seiner jüngsten Kindheit an, das Land zu bearbeiten, Pflanzen zu beschneiden, Mais anzubauen, Obst zu ernten, die Tiere zu versorgen...

Er saugte das uralte landwirtschaftliche Wissen von Rosa Inés auf. Er beteiligte sich an allen Aufgaben im Haushalt, ging Wasser holen, fegte das Haus, half bei der Herstellung der Süßigkeiten... Und als er sieben oder acht Jahre alt war, lief er durch die Straßen von Sabaneta und verkaufte die Süßigkeiten vor dem Kino, vor der Hahnenkampfarena oder der Kegelbahn, auf dem Markt. Dieses Dorf, "vier ungepflasterte Straßen", wie Chávez später einmal erzählte, die sich im Winter in apokalyptische Schlammlöcher verwandelten1, bedeuteten für den jungen Hugo die ganze Welt – mit ihren sozialen Hierarchien: die "Reichen" wohnten im inneren Teil der Stadt in Steinhäusern mit mehreren Etagen, die Armen an den Abhängen des Hügels in strohgedeckten Hütten. Mit ihren Unterschieden in Abstammung und Klasse: die Familien europäischer Herkunft (Italiener, Spanier, Portugiesen) besaßen die wichtigsten Betriebe wie das Sägewerk, während die Mestizen die Mehrzahl der Arbeiter stellten.

Der erste Schultag hat sich für immer in das Gedächtnis dieses "unbedeutenden"2 Venezolaners eingegraben: er wurde von der Schule verwiesen, weil er Schuhe aus Stroh trug und keine Lederschuhe, wie es sich gehörte... Aber er wusste sich zu wehren. Seine Großmutter brachte ihm Lesen und Schreiben bei. Sehr schnell wurde er zum besten Schüler seines Jahrgangs und zum Liebling der Lehrerinnen. Während eines Besuchs des örtlichen Bischofs wurde er sogar von den Lehrern ausgewählt, die Begrüßungsrede für den kirchlichen Würdenträger vorzulesen. Seine erste politische Rede...

Seine Großmutter erzählte ihm auch viel aus der Geschichte des Landes und zeigte ihm ihre Spuren in Sabaneta: der große hundert Jahre alte Baum, in dessen Schatten sich Simón Bolívar vor seinem großen Zug über die Anden 1819 ausruhte; die Straßen, in denen noch das Galoppieren der finsteren Reiter von Ezequiel Zamora zu hören war, als sie 1859 auf dem Weg zur Schlacht von Santa Inés waren. So wuchs der kleine Hugo im Andenken an diese Personen auf: der Befreier, Vater der Unabhängigkeit; der Held der "föderalen Kriege", Verfechter einer radikalen Agrarreform zugunsten der armen Bauern, dessen Kriegsruf war: "Land und freie Menschen!" Chávez erfuhr so auch, dass einer seiner Vorfahren an dieser berühmten Schlacht teilgenommen hatte und dass der Großvater seiner Mutter, Oberst Pedro Pérez Delgado alias Maisanta, 1924 im Gefängnis gestorben war und ein in der Gegend sehr beliebter Guerrillero war, eine Art Robin Hood, der die Reichen beraubte und damit die Armen versorgte. Es gibt keinen automatischen sozialen Determinismus.

Und Hugo Chávez hätte mit dieser Kindheit und Jugend auch einen ganz anderen Weg einschlagen können. Aber seine Großmutter hat ihm von klein auf starke menschliche Werte mit gegeben (Solidarität, gegenseitige Hilfe, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit). Und sie vermittelte ihm so etwas wie ein starkes Gefühl der Klassenzugehörigkeit: "Ich wusste immer, wo meine Wurzeln sind", wird Chávez später sagen, "mitten im Volk, daher komme ich. Das werde ich niemals vergessen."3

Als er zur weiterführenden Schule muss, verlässt der junge Hugo Sabaneta und geht nach Barinas, Hauptstadt des gleichnamigen Staates. Wir befinden uns im Jahr 1966, der Vietnamkrieg ist auf den Titelseiten aller Zeitungen und Che Guevara wird bald in Bolivien sterben. In Venezuela, wo 1958 die Demokratie wieder hergestellt wurde, gibt es auch eine Guerrilla. Viele Jugendliche schließen sich dem bewaffneten Kampf an. Aber Chávez ist ein Heranwachsender, der sich nicht für Politik interessiert. Zu dieser Zeit sind seine drei brennendsten Leidenschaften das Studium, Baseball und Mädchen.

Er war ein ausgezeichneter Abiturient, vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern (Mathematik, Physik, Chemie). Er gab weniger begabten Mitschülern gerne Nachhilfeunterricht. Im Laufe der Zeit erwarb er im Gymnasium großes Ansehen wegen seiner guten Noten und seinem Sinn für Kameradschaft. Die verschiedenen politischen Organisationen des Gymnasiums stritten sich darum, ihn aufzunehmen – auch die seines Bruders Adán, der zu den extremen Linken gehörte.

Aber Chávez hatte nur Baseball im Kopf. Er war im wahrsten Sinne des Wortes von diesem Sport besessen. Er war ein gefürchteter "pitcher" mit der Linken und nahm erfolgreich an den Schulwettkämpfen teil. Sogar die örtliche Presse berichtete über ihn und seine sportlichen Erfolge, was seinen persönlichen Ruf noch stärkte. Während der Zeit auf dem Gymnasium festigte sich seine Persönlichkeit. Er war ein selbstbewusster Mensch, drückte sich öffentlich gut aus, hatte Humor und fühlte sich überall wohl. Er wurde zu einem so genannten "natürlichen Anführer", Klassenbester und ausgezeichneter Sportler. Weil er nach dem Abitur Baseball-Profi werden wollte, meldete er sich zur Aufnahmeprüfung an der Militär-Akademie an, weil da die besten Trainer des Landes waren. Er wurde aufgenommen.

Und so kam dieser junge Mann aus einem entlegenen Dorf in der Provinz 1971 nach Caracas, der in seinen Augen so futuristischen und erschreckenden Hauptstadt wie Metrópolis von Fritz Lang. Sofort begannen ihn militärische Fragen zu begeistern. Er vergaß Baseball. Chávez verschrieb sich mit allen Fasern dem militärischen Studium. Das war gerade modifiziert worden. Jetzt wurden auf der Militär-Akademie nur Abiturienten aufgenommen. Auch die Lehrer wurden ausgetauscht. Dort unterrichteten höhere Offiziere, die von den Behörden als "nicht ganz sicher" oder als "fortschrittlich" eingeschätzt wurden, die sich weigerten, Truppen unter ihren Befehl zu stellen. Die Behörden trauten sich aber, ihnen die Ausbildung der zukünftigen Offiziere anzuvertrauen.

Nach dem Sturz des Diktators Manuel Pérez im Jahr 1958 hatten die wichtigsten Parteien sich darauf geeinigt, die Macht wechselseitig zu übernehmen – besonders die sozialdemokratische Acción Democrática und die christdemokratische Copei. Korruption herrschte überall. Im Jahr 1962 gab es in Puerto Cabello und Carúpano zwei Aufstände von Offizieren, die zu Organisationen der extremen Linken gehörten. Andere Offiziere schlossen sich unterschiedlichen Guerrillas in den Bergen an. Die Niederschlagung dieser Aufstände war brutal. Massenerschießungen, Folter und "Verschwindenlassen" gehörten bald zur Tagesordnung. Die Anwesenheit von Vertretern der Vereinigten Staaten war offensichtlich, nicht nur an den Ölförderanlagen, sondern auch mitten im Generalstab der Streitkräfte. Auch der US-Geheimdienst CIA schickte Agenten und half mit, die Aufständischen zu verfolgen.

Chávez sog den theoretischen Unterricht in der Akademie förmlich in sich auf. Einer seiner Professoren, General Pérez Arcáis, ein profunder Kenner von Ezequiel Zamora, übte besonders großen Einfluss auf ihn aus. Er führte ihn zum Bolivarismus. Chávez las das gesamte Werk von Bolívar und lernte es auswendig. Auf einer Landkarte konnte er mit geschlossenen Augen die Strategie jede seiner Schlachten in allen Einzelheiten nachvollziehen. Er las auch die Schriften von Simón Rodriguez, dem aufklärerischen Lehrer von Bolívar. Bald entwickelte er seine These von den "drei Wurzeln": Rodriguez, Bolívar und Zamora. Aus den politischen Texten dieser drei venezolanischen Autoren zog er die Schlussfolgerung der Unabhängigkeit und der Souveränität, der gesellschaftlichen Gerechtigkeit, der Inklusion, der Gleichheit und der lateinamerikanischen Integration.

Diese Thesen wurden die Grundpfeiler seiner politischen und gesellschaftlichen Pläne. Chávez hatte den Verstand eines Wissenschaftlers und ein sagenhaftes Gedächtnis. Er wurde schnell zu einem der besten Studenten und zum "Anführer" der Kadetten in der Akademie. Er las (im geheimen) Marx, Lenin, Gramsci, Fanon, Guevara... Und er besuchte außerhalb der Akademie verschiedene politische Versammlungen der äußersten Linken: der Kommunistischen Partei (PCV), der Causa R, der Linken Revolutionären Bewegung (MIR), der Bewegung zum Sozialismus (MAS)... Heimlich traf er sich mit ihren Anführern. Wieder wollten sie ihn alle in ihren Organisationen haben, denn die Linken wollten schon immer einen Zugang zu den Streitkräften bekommen.

Nachdem er die Militäraufstände in Venezuela ausreichend studiert hatte, war Chávez überzeugt, dass es möglich sei, die Macht zu ergreifen, um ein für alle Mal der Armut im Land ein Ende zu bereiten. Die einzige Möglichkeit, eine rechte Militärdiktatur zu vermeiden, war die Stärkung einer Allianz zwischen den Streitkräften und den politischen Organisationen der Linken. Das war seine Grundidee: der "zivil-militärische Pakt".

Er untersuchte die linken revolutionären Militärs, die in Lateinamerika an der Macht waren, insbesondere Jacobo Arbenz in Guatemala, Juan José Torres in Bolivien, Omar Torrijos in Panamá und Juan Velasco Alvarado in Perú. Diesen traf er während eines Studienaufenthalts in Lima im Jahr 1974 und war tief beeindruckt von ihm. Das ging soweit, dass er fünfundzwanzig Jahre später, als er an der Macht war, die Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuelas ausarbeiten ließ, die 1999 durch ein Referendum angenommen wurde, und zwar im gleichen Format und der gleichen Farbe wie das berühmte "kleine blaue Buch" von Velasco Alvarado...

Chávez war in die Militärakademie ohne jegliche politische Kultur eingetreten, aber er verließ sie vier Jahre später, 1975, im Alter von einundzwanzig Jahren mit einer einzigen Idee im Kopf: ein für alle Mal jenes ungerechte und korrupte Regime zu beenden und die Republik wieder auszurufen. Von diesem Augenblick an war alles glasklar, sowohl politisch als auch strategisch. Er trug das bolivarische Projekt eines neuen Venezuelas in sich. Aber er musste noch fünfundzwanzig Jahre warten. Fünfundzwanzig Jahre voller heimlicher Verschwörungen inmitten der Streitkräfte. Und die Auswirkungen von vier einschneidenden Ereignissen: der große Volksaufstand – der "Caracazo" – gegen die neoliberale Schocktherapie im Jahr 19894, das Scheitern der Militärrebellion von 1992, die wertvolle Erfahrung von zwei Jahren Gefängnis, und im Jahr 1994 das Treffen mit Fidel Castro.

Von diesem Zeitpunkt an war sein Wahlerfolg unumgänglich. Das zeigte sich im Dezember 1998. "Denn", so zitierte Chávez Victor Hugo, "es gibt nichts Mächtigeres auf der Welt als eine Idee, deren Zeit gekommen ist."

  • 1. Gespräche mit dem Autor
  • 2. zit. Alphonse Daudet, Poca cosa (1868), autobiographischer Roman
  • 3. Gespräche mit dem Autor
  • 4. Vom Internationalen Währungsfonds (IWF) diktiert und vom sozialdemokratischen Präsidenten Carlos Andrés Perez eingeführt, war diese "Schocktherapie" ein wahrer Plan struktureller Änderungen, der aus strengen Sparmaßnahmen bestand, dem Abschaffen des Sozialstaates, einer Preiserhöhung von lebensnotwendigen Produkten. Am 27. Februar 1989 revoltierte die Bevölkerung von Caracas. Dies war weltweit die erste Revolte gegen die neoliberale Politik. Die "sozialistische" Regierung griff auf die Armee zurück. Die Unterdrückung war brutal: mehr als 3.000 Tote. Hugo Chávez wird später sagen: "Das Volk ging uns voraus. Und die Regierung benutzte das Militär, als ob es eine Invasionsarmee des IWF gegen unsere eigenen Bürger wäre."