Schwächt sich Venezuela selbst?

Spiegel Online berichtet über Probleme in der Ölindustrie des Landes. Wichtige historische Zusammenhänge bleiben außen vor

Am 26. Juli veröffentlichte Spiegel Online den Beitrag "Warum Hugo Chávez auf seinem Öl sitzen bleibt" von Tobias Käufer. Aktueller Anlass ist die Anerkennung Venezuelas als das Land mit den weltweit größten Erdölvorkommen durch die Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC). Das Thema ging in der letzten Woche durch die Medien.

Käufer lieferte nun einen hintergründigen Beitrag nach, die eigentliche News ist ja schon durch. Also widmete er sich der Frage, warum Hugo Chávez angeblich auf seinem Öl sitzen bleibt. Käufers Antwort: Venezuela fehlen die Experten, das Öl zu fördern. Der Fachkräftemangel ist in Venezuela durchaus ein reales Problem. So bieten internationale Konzerne den fundiert geschulten venezolanischen Ingenieursabsolventen gut bezahlte Arbeitsplätze im Ausland an, etwa in Kanada oder Australien. Das ist lukrativer als beim venezolanischen Staatskonzern PdVSA zu arbeiten und manch einer verlässt die Heimat, lässt vielleicht sogar noch Kind und Familie zurück, um der Karriere in der großen weiten Welt nachzugehen. Die jeweiligen genauen Gründe sind jedoch vielfältig und sprengen hier den Rahmen.

Doch auf diese Abwanderungsproblematik geht Käufer nicht ein. Seine wesentliche krude These: "Zuletzt schwächte sich die Ölindustrie des Landes vor allem selbst". Denn "seit 2003 soll der staatliche Ölkonzern von Petróleos de Venezuela (PdVSA) mehr als 20.000 Arbeiter verloren haben". Dies habe die BBC kürzlich berichtet.

Die renommierte BBC muss also dafür herhalten, damit Käufer seine Behauptung von der selbstverschuldeten Schwächung untermauern kann. Alles natürlich mit aktuellem Bezug. Allerdings ist dieser an den Haaren herbeigezogen: Nach den harten Auseinandersetzungen um PdVSA zwischen Regierung und korrupter Konzernführung 2002/2003 entließ das Energieministerium offiziell 18.756 PdVSA-Angestellte. Das war weder "zuletzt" noch hat damit die BBC-Zahl eine aktuelle argumentative Bedeutung. Denn wenn schon 2004 rund 19.000 Angestellte entlassen wurden, so fallen die fehlenden rund 1.000 über acht Jahre bei hunderttausenden Beschäftigten wohl kaum ins Gewicht.

Also nicht "zuletzt" sondern vor Jahren nahmen Präsident Chávez und seine Bewegung in Kauf, dass PdVSA geschwächt wurde. Doch warum? Und worum ging der Streit bei PdVSA? Diese Frage und ihre Antwort unterschlägt Käufer geflissentlich. Denn es ging damals um die Verwendung der Ölrendite. Chávez setzte sich durch und das Geld wurde für nationale Sozialprogramme eingesetzt, statt in die Taschen der Bosse zu fließen oder im Norden investiert zu werden.

Doch anstatt in diesem Zusammenhang auf diesen wichtigen Punkt hinzuweisen, zitiert Käufer ganz unpolitisch einen Vertreter der ehemaligen Elite, um ein weiteres Argument für die angebliche Selbstverschuldung zu haben. Doch der angeführte ehemalige PdVSA-Direktor Luis Pacheco ist alles andere als ein glaubhafter Gesprächspartner. Ihm werden enge Verbindungen zu den antidemokratischen Putschisten des gescheiterten Staatsstreiches 2002 um Kurzzeitdiktator Pedro Carmona nachgesagt. Außerdem wird er beschuldigt, einer der Hauptverschwörer in der PdVSA-Führung gegen Chávez gewesen zu sein und obendrein noch Kontaktmann zur US-Botschaft, die ebenfalls in Putschversuch und Sabotage verwickelt war. Haben also nicht eher Chávez-Hasser wie Pacheco den Staatskonzern geschwächt, weil sie erbitterten Widerstand gegen die soziale Verwendung der Öleinnahmen leisteten? Solche Zusammenhänge fallen bei Käufer untern Tisch.

Schließlich wird der Beitrag doch politisch: Die meisten der Entlassenen hätten PdVSA zwangsweise verlassen, weil "sie sich in Demonstrationen gegen den Staatspräsidenten Hugo Chávez gewandt hätten". Hier wählt Käufer den Konjunktiv und schreibt diese plumpe Behauptung ominösen "oppositionellen Kreisen" zu. Als verantwortungsvoller Journalist hätte er hier auch die Sicht der Regierung oder wenigstens von einem unabhängigen Experten bringen müssen. Doch so etwas fehlt in dem Artikel. Es wirkt, also wolle Käufer dieser Propaganda schlau verpackt Wahrhaftigkeit verleihen.

Die Realität gestaltet sich jedoch etwas differenzierter: Der staatliche Ölkonzern musste aufgrund von Einnahme-Verlusten nach den als "Streik" bezeichneten monatelangen Sabotage-Aktionen der PdVSA-Eliten wieder aus den roten Zahlen kommen. Das dies mit feindlich gesinnten Managern und Ingenieuren nicht zu bewältigen ist, liegt nahe. Auch jeder Privatkonzern würde derart unloyale Führungskräfte sofort rausschmeißen. Dazu kam noch die Problematik der extremen Ineffizienz. Der Ölkonzern hatte sich vor Chávez zum Selbstbedienungsladen einer Kaste entwickelt. Viele Angestellte nahmen dankbar ihr Gehalt und setzten sich tagsüber in ein klimatisiertes Büro ohne ernsthaft zu arbeiten. Angesichts der angespannten wirtschaftlichen Situation und der zugespitzen politischen Lage, konnte eine profitable Ölförderung nur durch rigorose Sparprogramme und Umstrukturierungen erreicht werden. Das dabei auch Menschen aus politischen Gründen entlassen wurden, ist nicht von der Hand zu weisen, doch sicher nicht der Kern der Sache.

Schließlich muss auch noch die Gewerkschaft als Zeuge Käufers und seiner These herhalten. So behauptet er, die regierungstreue Ölarbeiter-Gewerkschaft habe sich "auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen auf die Seite der Arbeiter" gestellt. Doch damit wird es vollends obskur, sofern sich Käufer weiterhin auf die Konfrontationen 2002/2003 bezieht. Damals hatte der oppositionelle Gewerkschaftsverband CTV die Vormachtstellung bei PdVSA. Der CTV ging es vor Allem um die Erhaltung von Privilegien einer Minderheit von PdVSA-Profiteuren, während die Mehrheit der Bevölkerung in großer bis extremer Armut lebte. So beteiligte sich die Gewerkschaftsführung am gescheiterten Staatsstreich 2002 und organisierte den Sabotage-"Streik" mit.

Die Arbeiter hingegen versuchten die Ölförderung im Interesse der Mehrheit wieder in Gang zu bringen. Dass sich diese von den Bossen nicht aussperren ließen und dass sie am Ende erfolgreich alles daran setzten, die Produktion wieder aufzunehmen, zeigt die Entfremdung von Gewerkschaftsführung und normalem PdVSA-Angestelltem. Es gab damals also noch gar keine Gewerkschaft, die "normalerweise auf der Seite der sozialistischen Regierung des Präsidenten" stehen konnte. Eine solche wurde mit der FUTPV erst über Jahre hinweg aufgebaut.