1947, in dem Jahr, in dem José Piñera Echenique zur Welt kommt, beginnt der Internationale Währungsfond (IWF) seine operative Tätigkeit, macht sich der chilenische Senator Pablo Neruda für die Minenarbeiter von Lota stark, die bei einem von den Kommunisten organisierten Streik in ein Konzentrationslager in Pisagua verschleppt worden sind, und der Argentinier Raúl Prebisch und der Deutsche Hans Wolfgang Singer verarbeiteten ihre Analysen zu den entwicklungsökonomischen Problemen Lateinamerikas in die sogenannte Prebisch-Singer-These. José Piñera wird ihnen allen Freiheit bringen.
José Piñera Echenique kommt aus gutem Hause. Sein Vater, der Ingenieur José Piñera Carvallo, war Mitbegründer der Christdemokratischen Partei Chiles und chilenischer Botschafter in Belgien und bei den Vereinten Nationen in New York. Sein Onkel ist der Erzbischof Bernardino Piñera, der zweimal Präsident des Bischofsrats war. José Piñera Echenique hat fünf Geschwister, sein zwei Jahre jüngerer Bruder Sebastián ist Unternehmer und aktueller Präsident Chiles, sein Bruder Pablo saß bis 2001 im Rat der chilenischen Zentralbank und ist jetzt Direktor der staatlichen Bank BancoEstado, sein jüngster Bruder Miguel ist Nachtclubbesitzer. Sein Cousin, Andrés Chadwick Piñera, ist der aktuelle Minister für Inneres und öffentliche Sicherheit.
1949 verbietet die chilenische Regierung unter Gabriel González Videla die Kommunistische Partei, das Konzentrationslager in Pisagua wird der Leitung des Hauptmanns Augusto Pinochet Ugarte übergeben. Im selben Jahr wird Raúl Prebisch, einer der Begründer der Prebisch-Singer-These, Direktor der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL). Seine These: Entwicklungsländer seien bisher auf dem Weltmarkt benachteiligt gewesen. Deshalb soll sich die heimische Industrie nun unter dem Schutz der Handelsschranken und mit finanzieller Hilfe des Staates in Ruhe aufbauen, bevor sie auf die weltweite Konkurrenz trifft. Die These findet großen Anklang und wird der Grundstein für die bis in die 80er Jahre auf dem lateinamerikanischen Kontinent betriebene Politik der Strukturalisten. Problematisch war das für die Industrienationen, die nun weniger nach Lateinamerika exportieren konnten.
José Piñera wie auch seine Brüder besuchen die katholische Ordensschule Colegio Verbo Divino und studieren, bis auf Miguel, danach Wirtschaft an der Päpstlichen Katholischen Universität Chiles (UC). Die Wirtschaftsfakultät der UC untersteht der Leitung von Sergio de Castro Spikula. Dieser gehörte zu den ersten drei Studenten, die an einem Austauschprogamm mit der Universität von Chicago teilnahmen, wo Milton Friedmann, Arnold Harberger und andere die Lehre der Chicagoer Schule, die neoklassische Preistheorie und freie Marktwirtschaft predigen. Unter Castro Spikulas Leitung bildet sich die Wirtschaftsfakultät zu einem Ableger der Chicagoer Schule. Viele Austauschschüler werden später Professoren an der Wirtschaftsfakultät, mit Unterstützung der Rockefeller Stiftung reisen sie in andere lateinamerikanische Länder, halten Vorträge und lehren. Man nennt sie Chicago Boys. In dieser Zeit liest der 18 jährige José Piñera, so erzählt er später, Milton Friedmanns Buch "Kapitalismus und Freiheit", welches ihn auf eine große Idee bringt.
In Chile wird Salvador Allende 1970 als Kopf des linken Wahlbündnisses Unidad Popular Präsident des Landes. Seine Politik geht noch über die der Strukturalisten hinaus: Verstaatlichung von Bodenschätzen, Enteignung von Banken und Großunternehmen, darunter viele ausländische, kostenfreie Schulbildung und Gesundheitsversorgung. Die US-Amerikaner scheinen das befürchtet zu haben, zu Allendes Amtsantritt sagt der US-Botschafter Edward M. Korry: "Nicht das kleinste bisschen soll Chile unter Allende erreichen. Sobald Allende an der Macht ist, sollten wir alles in unserer Macht stehende tun, um Chile und alle Chilenen zu äußerster Entbehrung und Armut zu verdammen." Gesagt, getan. Am 11. September 1973 putscht das Militär unter Führung von Augusto Pinochet, ehemaliger Konzentrationslagerleiter und jetzt General. Nach dem Putsch erlangen die Chicago Boys politische Macht, unter Pinochet besetzen sie wichtige Ministerien. Sie minimieren die Staatsausgaben, liberalisieren den Handel und den Kapitalmarkt. Das repressive Regime verschafft ihnen den nötigen Freiraum dazu. Strukturalismus und Sozialismus sind passé. Die USA können wieder exportieren. Die Chicagoer Professoren Friedmann, Harberger und Co. sind begeistert, sehen sie ihre Theorien nun in die Praxis umgesetzt, das “Chilenische Experiment” beginnt. Übrigens: Das Konzentrationslager in Pisagua führt Pinochet fort.
1970 beginnt José Piñera an der Universität Harvard sein fortführendes Studium, Sebastián wird ihm später folgen. Die Brüder sind hier in illustrer Gesellschaft, ihre Kommilitonen sind Carlos Salinas de Gotari, zukünftiger Präsident Mexikos und Initiator des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA), oder George W. Bush. Piñera erhält 1972 seinen Master und 1974 seinen Doktor in Wirtschaftswissenschaften. Er arbeitet als Assistenzprofessor in Harvard und an der Universität von Boston. Er mag das akademische Leben, doch als das Militär "den marxistischen Präsiden Allende, der mit seinen Anhängern Chiles Demokratie zerstört hatte, entfernt", kehrt er 1975 nach Chile zurück. Er wird Professor an der UC und hilft zunächst seinem alten Professor und Finanzminister Jorge Cauas bei der Entwicklung der oben genannten neoliberalen Schockmaßnahmen. José Piñera gehört jetzt zu der Gruppe der Chicago Boys, auch wenn er nicht an der Universität in Chicago studiert hat. Im Jahr 1977 behauptet Piñera in einen Vortag an der UC, dass Chile sein Wirtschaftswachstum auf sieben Prozent verdoppeln kann, wenn es ein Set von neoliberalen Reformen durchführt. Das macht wohl Eindruck, er soll seinen Vortrag vor Pinochet und seinem Kabinett wiederholen, 1978 wird er Arbeitsminister.
In seinem Buch "Die Revolution der Arbeit in Chile" berichtet Piñera von seinem Treffen mit Pinochet bei seiner Kabinettseinführung: Er habe Präsident Pinochet gleich deutlich gemacht, dass es ihm nicht nur um Prosperität gehe, sondern auch um Freiheit, die "rule of law" und Demokratie. Doch scheint das bei Piñera Auslegungssache zu sein. Sein "Plan Laboral“ führt zwar nach sechs Jahren das Streikrecht wieder ein - er sieht das als Schritt in Richtung Demokratie, aber ob es dadurch weniger Insassen in Pisagua gegeben hat? Doch beim genaueren Hinsehen entpuppt sich der Plan als trojanisches Pferd: Tarifvereinbarungen sind nur auf Betriebsebene zugelassen, Verhandlungsthemen auf Lohn und Sozialleistungen reduziert, Landwirtschafts-, Klein- und Mittelbetriebe werden ganz aus den Tarifverträgen ausgeschlossen, individuelle Schutzrechte wie Kündigungsschutz, Arbeitszeiten und Mindestlöhne werden flexibilisiert.
1980 gelingt Piñera der große Coup: Das kapitalgedeckte Rentensystem. Das war die Idee, die ihm angeblich bei der Lektüre von Milton Friedmanns Buch gekommen war. Aller Arbeitnehmer müssen nun 13 Prozent ihres monatlichen Einkommens in private Rentenfonds einzahlen, ausgenommen Selbstständige und Militärs, diese sind bis heute von einem umlagefinanzierten Rentenprogramm abgedeckt. Die Rentenfonds finanzieren sich über Verwaltungskosten, die nicht gesetzlich festgelegt sind, sie werden durch eine Aufsichtsbehörde, AFP, überwacht. Piñera findet sein "pay-as-you-go System“ grandios, Mitgliedsbeiträge könnten so schlechter hinterzogen werden, der Staat spare viel Geld ein, welches auch in soziale Bereiche fließen könne. Die Realität sieht anders aus, viele Menschen sind nicht abgedeckt, andere beschweren sich über die horrenden Verwaltungskosten und ungleich niedrigeren Renten. Die Rentenreform wird zum Vorbild für die Privatisierung der Krankenversicherung. Chile ist das erste Land, das seine Sozialversicherungen privatisiert.
Piñera wird nun Bergbauminister und initiiert das Minengesetz, welches den gesetzlichen Rahmen für die Privatisierung staatlicher Firmen schafft. Sein Berater, Hernán Buchi, setzt es als Finanzminister später im Bereich Energiewirtschaft und Telekommunikation um. Ab 1990 wird das Konzessionssystem auf den Infrastruktursektor ausgedehnt. Ausländische Firmen kaufen Chile auf - das, was die Strukturalisten vermeiden wollten.
Das chilenische Rentensystem wird weltweit zum neoliberalen Vorzeigemodell und Piñera katapultiert es ins Blickfeld der Weltpolitik. Er bekommt einen Anruf aus den USA und wird gebeten, ein Memo für Präsident Ronald Reagan, den er für den wohl besten Präsidenten hält, über sein "neues und kreatives System" zu schreiben.
1982 erklärt sich Mexiko für zahlungsunfähig. Das Land hat sich wie viele andere lateinamerikanische Staaten in den letzten Jahrzehnten immens verschuldet und konnte aufgrund der durch die Ölkrise gestiegenen Zinsen seine Kredite bei ausländischen Privatbanken nicht zurückzahlen. Die Krise schwappt über nach Argentinien, nach Brasilien usw. Der große Moment des IWF ist gekommen. Noch im selben Jahr vergibt er an Mexiko und Brasilien Millionenkredite, Argentinien erhält 1983 sogar einen Milliardenkredit. Es ist der Beginn eines neuen Machtverhältnisses auf den amerikanischen Kontinent. Denn der IWF kann endlich sein neuestes Konzept anwenden: "Strukturanpassungsprogramme“. Euphemistisch verpackt sind die knallharten Auflagen, die an die IWF-Kredite gebunden sind. Die lateinamerikanischen Länder können zwar mit Hilfe des IWF ihre Schuldverhältnisse bei den Privatbanken abmildern, als Gegenleistung aber werden von ihnen durchgreifende marktwirtschaftliche Reformen erwartet. Gute Zeiten für Technokraten wie Piñera.
Und Chile, ja, selbst das schon seit Jahren unter den Fuchteln der Chicago Boys stehende Chile, beantragt im Januar 1983 beim IWF einen Kredit über 600 Millionen US-Dollar. Es hat zuletzt nicht gut ausgesehen, das ausländische Kapital hatte sich immer mehr aus Chile zurückgezogen, man hatte Banken zurück verstaatlichen müssen, um Gläubiger zu bezahlen. Pinochet beginnt, an seinen Chicago Boys zu zweifeln und ersetzt viele von ihnen durch Pragmatiker.
José Piñera ist schon 1981 zurückgetreten. Ein heroischer Abgang. Er, der immer für die Demokratie stand - hatte er doch 1980 mit für die neue Konstitution unterschrieben - bekam zufällig mit, wie Pinochet den Gewerkschaftsführer Manuel Bustos ins Exil schicken möchte. Er konfrontiert Pinochet, argumentiert "respektvoll aber stark", Pinochet gefällt das nicht, und Piñera geht freiwillig. (Bustos geht auch, aber unfreiwillig, er wird 1982 ins Exil nach Brasilien geschickt.) Der "Architekt des chilenischen Rentensystems" hat nun mehr Zeit für die Herausgabe seiner Zeitschrift Economia y Sociedad (Wirtschaft und Gesellschaft), in der er und andere Wirtschaftswissenschaftler neoliberale Ideen verbreiten. 1992 wird er zum Stadtrat von Santiagos Armenviertel gewählt. Ihm ist das ein Beweis dafür, dass auch arme Menschen die Lösungen, die der freie Markt für ihre Probleme liefert, verstehen. Er gründet sein Institut "International Center for Pension Reform", dessen Ziel es ist, weltweit alle öffentlichen Rentenversicherungssysteme auf ein Kapitaldeckungsverfahren umzustellen. Er veröffentlicht acht Bücher und unzählige Artikel. Über Mexiko schreibt er in seinem Aufsatz "Der chilenische Erfolg: Reflektionen für Mexiko und Lateinamerika" nur Lobenswertes und ziert es mit einem Zitat seines guten Bekannten Mario Vargas LLosa: Mexiko sei "die perfekte Diktatur".
Das sollte man ein bisschen ignorieren, wenn man den "Mann, der für Prosperität und Demokratie in Chile kämpfte" 1993 zum Präsidenten wählen möchte. José Piñera ist als unabhängiger Kandidat angetreten, um seine neoliberalen Reformen weiterzuführen, und scheitert jämmerlich mit nur 6,18 Prozent der Stimmen. Schuld war das "undemokratische Verhalten" der Concertación-Alianza, welche ihn nicht im Fernsehen über seine Reformen habe sprechen lassen. Piñeras Demokratiebegriff dehnt und presst sich wie eine Ziehharmonika. So rezitiert er gerne Friedrich Hayek, der einst gesagt haben soll: "Man verwechsle nicht Totalitarismus mit Autoritarismus. Ich kenne kein totalitäres Regime in Lateinamerika. Der einzige Versuch dieser Art war die Regierung Allendes in Chile."
Er ist jetzt Berater, hält Vorträge und vermarktet sein kapitalgedecktes Rentensystem. Und er ist gefragt. In Lateinamerika haben die Technokraten übernommen, die nur zu gerne die harten Vorlagen des IWF umsetzen, aber Interesse gibt es auch in anderen Teilen der Welt: Piñera spricht mit Bill Clinton, besucht George W. Bush in Austin, fährt mit Friedmann und Frau durch Silicon Valley, besucht Wladimir Putin in seiner Datsche außerhalb von Moskau. Das Cato Institut, für das er seit 1995 arbeitet, schickt ihn als "Architekt des chilenischen Pensionssystems" nach Peking, Shanghai, St. Petersburg, London, Tokyo…
Er lebt in einem Flugzeug, wie er auf seiner Homepage schreibt. Dort schreibt er so allerhand, oder publiziert Artikel von anderer Wirtschaftsliberalen, wie dem aktuellen kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel Santos, der sich an ein von ihm organisiertes Forum erinnerte, das 1990 mit José Piñera und dem damaligen Präsidenten César Gaviria in Bogotá stattfand. "Es war ein intensives fünfstündiges Treffen, nach dem Gavirias Wirtschaftsteam überzeugt von der Notwendigkeit war, Rentenreformen durchzuführen und das chilenische Pensionsmodell einzuführen." Im Dezember 1993 wird das Kapitaldeckungsverfahren in Kolumbien implementiert, nach Protesten im Parlament allerdings nur als freiwillige Alternative zum Umlageverfahren. Neoliberale Reformen scheinen unter Diktaturen leichter durchsetzbar als in Demokratien. Doch Piñera stört das nicht, er macht weiter: Peru folgt 1993 mit einem ähnlichen Konzept wie in Kolumbien. Andere lateinamerikanische Länder erarbeitet sich ihre eigene Variation von Chiles Rentensystem: Uruguay im Jahr 1996, Mexiko 1997, Bolivien und El Salvador im Jahr 1998, Costa Rica 2001, die Dominikanische Republik 2003. José Piñera kam, sah und überzeugte.
Ab der Jahrtausendwende gibt es ernsthafte Zweifel an dem chilenischen Rentensystem. Selbst die Weltbank, die Piñeras System einst anpries, empfiehlt eine Reformierung. Studien zeigen, dass das chilenische Rentensystem keine gesamtwirtschaftliche Sparquote mit sich bringt. Durch die Umstellung auf das neue Rentensystem wären sogar hohe Kosten angefallen. Außerdem seien nur 60 Prozent der Chilenen aktive Beitragszahler, die ausgezahlten Renten liegen bei nur etwa einem Viertel bis einem Drittel von dem, was ursprünglich eingezahlt wurde. 2008 wird das System unter der damaligen Präsidentin Michelle Bachelet reformiert: Die Mindestrente, die bis dato schlecht funktioniert hat, wird durch ein steuerfinanziertes solidarisches Pensionssystem ersetzt und es werden auch Selbständige in das Rentenversicherungssystem einbezogen.
Piñera ärgert das, er tritt im Fernsehen auf, schreibt Leitartikel, in denen er sein System rechtfertig. Wie ein Vater, der sein ungehorsames Kind verteidigt. Doch die größte Schmach erfolgte erst kürzlich. Sein eigener Bruder Sebastián, der derweil einer der reichsten Männer der Nation und schließlich Präsident Chiles geworden ist, verkündet im Juni dieses Jahres, dass er das Rentensystem reformieren will. Angesichts der knappen Zeit bis zur anstehenden Wahl ein eher populistisches Anliegen, doch José Piñera ist außer sich. Das Verhältnis der Brüder soll noch nie gut gewesen sein, Anekdoten ranken sich um diesen öffentlichen Disput. Nun rührt der auch noch die heilige Rentenversicherung an. Auf seiner Twitterseite, deren Hintergrund die Freiheitsstatue schmückt, schimpft José Piñera: "Seit seiner Gründung im Jahr 1900 hat der El Mercurio (chilenische Tageszeitung) sich noch nie gezwungen gesehen, in einem Editorial die Ignoranz eines Präsidenten zu korrigieren." Und er twittert weiter, Sebastián würde das Rentensystem nicht begreifen, er benutze falsche Informationen und verwirre somit die Arbeitnehmer. Ob tatsächlich einmal der Tag kommt, an dem Piñera sein Rentensystem in Chile fallen sieht, bleibt abzuwarten. Wenn, dann wäre das eine große Niederlage für ihn, nicht nur politisch sondern auch beruflich. Bis dahin tingelt José Piñera weiter durch die Welt, er berät jetzt viel in Afrika und Osteuropa und sicher bald in Südeuropa, dort eben, wo IWF und Weltbank harte Sparmaßnahmen fordern. Unbelehrbar.