Mexiko: 10. Mai ohne Demonstrationen der Mütter der Verschwundenen

Die schmerzliche Erinnerung an eine offene Wunde in der mexikanischen Gesellschaft wird, wie alle Ereignisse während der Pandemie, ins Internet übertragen

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Unter dem Hashtag #CorazonesEnMarcha werden Menschen überall aufgefordert, am 10. Mai an der Internet-Demonstration teilzunehmen
Unter dem Hashtag #CorazonesEnMarcha werden Menschen überall aufgefordert, am 10. Mai an der Internet-Demonstration teilzunehmen

Der 10. Mai ist traditionell der Tag, an dem Mütter und Angehörige von Vermissten in Mexiko auf die Straße gehen, von der Avenida Reforma in Mexiko-Stadt bis zu anderen Städten des Landes. "Nichts zu feiern" ist ihr Motto, so lange sie ihre Kinder nicht wieder in den Armen halten. Nach offiziellen Daten werden mehr als 61.000 Menschen im Land vermisst.

In diesem Jahr mussten die Proteste wegen der Covid-19-Pandemie ins Internet verlegt werden.

"Schreien entspannt uns, beruhigt uns und gibt uns die Befriedigung, unseren Schmerz herauszuschreien. Das grundlegende Ziel, den Schmerz bei der Demonstration zu zeigen, besteht darin, das Bewusstsein sowohl bei Staatsangestellten als auch in der Öffentlichkeit zu schärfen. Und bei jeder Demo schließen sich uns Leute an“, meint Guadalupe Aguilar von Familias Unidas por Nuestros Desaparecidos Jalisco (Fundej) in einem Gespräch auf dem Videokanal des Filmfestivals Ambulante mit Müttern von Verschwundenen.

"Ich bin traurig, nicht wie jedes Jahr in Mexiko-Stadt zu sein. Was ich in meiner Gemeinde, in der es auch keine Aktivitäten gibt, tun kann, ist, in die Kirche zu gehen. Dort bringe ich meinem Sohn Blumen und bitte den heiligen Johannes den Täufer, unseren Kindern Kraft zu geben", so Cristina Bautista Salvador, Mutter von Benjamin Ascencio Bautista, einem der 43 vermissten Studenten der Escuela Normal Rural von Ayotzinapa.

In diesem Jahr wird es bei den Demonstrationen keine schwesterlichen Umarmungen der Mütter geben. Die Parole "Sohn, höre mich, deine Mutter kämpft um dich" wird auf der Avenida Reforma nicht gerufen werden, die Straße rund um das Denkmal Ángel de la Independencia wird nicht mit den Bildern der Vermissten zugedeckt sein, es wird keine Ansprachen der Suchkollektive oder Solidaritätsadressen der Menschenrechtsorganisationen geben. Dabei ist der 10. Mai für viele Angehörige der wichtigste Tag des Jahres, um deutlich zu machen, dass es für sie am Muttertag nichts zu feiern gibt.

Die schmerzliche Erinnerung an diese offene Wunde in der mexikanischen Gesellschaft wird, wie alle Ereignisse während der Pandemie, ins Internet übertragen. Die Kollektive wollen Videos veröffentlichen, in denen Mütter erzählen, wen sie suchen, seit wann, und was ihren geliebten Menschen ausgemacht hat. Unter dem Hashtag #CorazonesEnMarcha werden Menschen in aller Welt aufgefordert, in ihren sozialen Netzwerken ein Foto mit einer Maske oder einem Tuch vor Mund und Nase mit der Aufschrift "Wo sind sie?" zu veröffentlichen. Die Hoffnung ist, dass die Fotos in sozialen Netzwerken tausendfach geteilt werden und so weit mehr Personen erreichen als die Demos auf der Straße.

Die Ausgangsbeschränkungen wegen Covid-19 vergrößern den Schmerz der Familien. "Sie sind verzweifelt, sie können nicht auf die Suche gehen, sie glauben, dass die Möglichkeit, ihre Angehörigen zu finden, geringer wird", sagt Janett Miranda Manjarrez vom Colectivo Mujeres Desaparecidas Guanajuato im Ambulante-Kanal und betont die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit: "Sie erzählen uns, dass sie es nicht mehr aushalten, dass sie rausgehen wollen. Sie denken zu viel nach und machen sich Sorgen darüber, ob ihr Kind geschlafen hat, ob es ihm gut geht.“

Die Vertreterinnen der Gruppen von Angehörigen aus mehreren Bundesstaaten wissen nichts darüber, ob es einen Plan zur Fortsetzung der Suche nach Vermissten während des Gesundheitsnotstands gibt. Die Sitzungen der Wahrheitskommission im Fall Ayotzinapa mit den Familien wurden ausgesetzt. Und die ungelösten Fragen, die schon vor der Pandemie bestanden, sind immer noch da.

"Schon ganz zu Beginn der Einrichtung einer Nationalen Suchkommission (CNB) hätte ein Suchprotokoll erstellt werden müssen, aber bis heute haben wir keins", erklärte Marcela Flores Dionicio, Mitarbeiterin der Nichtregierungsorganisation Serapaz, in einem Interview mit Cimacnoticias. Vor der Verabschiedung des Allgemeinen Gesetzes über das gewaltsame Verschwindenlassen, das am 2. Januar 2018 in Kraft trat, gab es zwar ein Protokoll für Staatsanwaltschaften, wie die Ermittlungen zu laufen haben. Seitdem gibt es aber weitere Akteure in diesem Prozess, und zwar die lokalen Suchkommissionen in jedem Bundesstaat.

"Im Gesetz ist alles sehr allgemein, 'koordinieren, Informationen austauschen usw.', aber das Protokoll wird der Staatsanwaltschaft helfen, zu wissen, was genau sie machen soll, nämlich die Ermittlungen, und was die örtliche Suchkommission machen soll, nämlich suchen: in Archiven, in geheimen Massengräbern und auf Friedhöfen, wenn es sich um Altfälle handelt, und unmittelbar, wenn es sich um neu gemeldete Fälle handelt", so Flores Dionicio. Sie glaubt, dass die CNB derzeit dabei ist, dieses Protokoll auszuarbeiten, aber es muss noch veröffentlicht werden.

Dann gibt es die forensische Krise, mit der absoluten Überforderung der medizinisch-forensischen Dienste und einer "riesigen Anhäufung von Leichen". Die Direktorin der CNB, Karla Quintana, sprach in einem Interview im März 2019 von bis zu 36.000 Leichen, Knochenresten oder Kleidungsstücken, die noch nicht einer Person zugeordnet werden konnten.

Aus diesem Grund wurde am 5. Dezember 2019 der "Außerordentliche Mechanismus zur forensischen Identifizierung" (MEIF) geschaffen. Ein Team von Experten, forensischen Anthropologen und anderen soll demnach von Bundesstaat zu Bundesstaat reisen und in Koordination mit den örtlichen Pathologien die dort gelagerten Leichen identifizieren. Nach Ansicht der Bewegung für unsere Verschwundenen in Mexiko (MovNDMX) muss jedoch sichergestellt werden, dass die Mitglieder des Teams keinen Repressalien ausgesetzt werden, dass sie über ein exklusives Budget verfügen und die Möglichkeit haben, internationale Unterstützung zu erhalten, dass die Zusammenarbeit mit den Staatsanwaltschaften gewährleistet wird und dass die Kollektive der Familien wirklich beteiligt werden.

Auch bei der Umsetzung des Allgemeinen Gesetzes über das Verschwindenlassen bliebe "noch viel zu tun", schrieb die MovNDMX im Januar auf ihrer Website und zählte in den Bundesstaaten 25 auf Fälle von Verschwindenlassen spezialisierte Staatsanwaltschaften, 22 Exekutivkommissionen für die Betreuung von Opfern und 29 lokale Suchkommissionen. Allerdings "gibt es immer noch 23 Bundesstaaten ohne lokale Gesetzgebung, die mit dem allgemeinen Gesetz harmonisiert ist, sieben haben keine spezialisierten Staatsanwaltschaften und drei haben immer noch keine Suchkommission“.

Dabei hatten das Innenministerium, der Unterstaatssekretär für Menschenrechte und die CNB nach einer erneuten Überprüfung aller Fälle, bei der auch bisher nicht vermisste Personen einbezogen wurden, Anfang Januar 2020 eine neue Zahl für vermisste Personen bekannt gegeben: 61.317. Bis dahin war immer von rund 40.000 Vermissten gesprochen worden.

Genug Gründe zu protestieren gibt es also, auch wenn es in diesem Jahr überwiegend nur virtuell geschieht. Denn wie das MovNDMX im April schrieb: "die Pandemie macht leider nicht vor dem Verschwinden von Menschen halt."