Kolumbien: Die Stunde der Entscheidung

Der Paramilitarismus wurde nie demobilisiert, sondern ganz im Gegenteil haben sich seine Präsenz und Handeln verstärkt und ausgeweitet

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Beim bewaffneten Streik in 178 Gemeinden in insgesamt elf Departamentos ermordeten die AGC während der Ausgangssperre zwischen dem 4. und 8. Mai mindestens 24 Menschen
Beim bewaffneten Streik in 178 Gemeinden in insgesamt elf Departamentos ermordeten die AGC während der Ausgangssperre zwischen dem 4. und 8. Mai mindestens 24 Menschen

Einige Gedanken über den bewaffneten Streik des Golf-Clans und die konkrete Existenz eines Paramilitarismus, der wieder erstarkt ist und sich formiert gegen die landesweite Bewegung für den demokratischen Wandel, die heute in Kolumbien unaufhaltsam voranschreitet.

Zum Kontext gehört die Auslieferung des paramilitärischen Chefs des Golf-Clans, alias Otoniel, in die USA1. Mit ihm wurde auch die Wahrheit über tausende vom Clan begangene Verbrechen ausgeliefert und das Recht der Opfer auf die Wahrheit abermals verhöhnt.

In dem sie dies tat, hat die Marionettenregierung von Iván Duque das Urteil des Obersten Gerichts ignoriert, die Auslieferung von Otoniel auszusetzen, damit er sich vor der Sonderjustiz für den Frieden für die ihm zur Last gelegten Verbrechen verantwortet.

Zum Kontext gehört außerdem das Massaker von Puerto Leguízamo, bei dem elf Campesinos und Indigene vom Militär vor den Augen der Gemeinde, Kolumbiens und der Welt ermordet wurden (amerika21 berichtete).

Der Misstrauensantrag gegen Verteidigungsminister Diego Molano wegen dieses und anderer staatlicher Verbrechen scheiterte, weil die Parlamentsfraktion der Regierungspartei Centro Democrático und ihre Allianzen mit den alten Parteien der Narko-Oligarchien, die heute den Narko-Staat regieren, Molano ‒ wie zu erwarten ‒  mehrheitlich unterstützten und praktisch die Verbrechen des Staates rechtfertigten.

Eines der wichtigsten Elemente des Kontextes können wir nicht außen vor lassen, nämlich die Tatsache, dass Kolumbien sich einem Regierungswechsel (nicht einem Systemwechsel, das ist eine andere Diskussion) nähert, durch die massive Ablehnung und die Mobilisierung der Bürger hin zu den Wahlen am 29. Mai, gegen die Gewaltherrschaft, das Elend, in dem Millionen Familien leben, die Korruption, das Verbrechen, die Allianzen mit dem Drogenhandel, den Krieg, die Tötungen von Sozialaktiven und die Nichterfüllung der Friedensverträge durch die Regierung Duque.

Die faschistischen Züge der Ausrottung, der Eliminierung des "Anderen", des Oppositionellen und des inneren Feindes, der Antikommunismus der Ultrarechten in ihrer bewaffneten paramilitärischen Form, sind die gleichen wie die der Streitkräfte und der nationalen Polizei. Der Paramilitarismus wurde nie demobilisiert, sondern ganz im Gegenteil haben sich seine Präsenz und Handeln verstärkt und ausgeweitet.

Insofern erlebt Kolumbien, so wie viele andere Teile der Welt, ein Wiederaufleben von verschiedenen Formen eines Vernichtungsfaschismus. Wir sehen das in der Ukraine, in Europa, im Yemen, in Syrien, in Palästina, in Lateinamerika und den USA. In Ecuador die Horrorgefängnisse; die "neue" Methode in Chile, Kolumbien und Ecuador, den jungen Leuten und Studierenden die Augen zu zerstören. Man könnte sagen, dass dies die "weiche" Form ist, in der sich der paramilitärische Terror (kreolischer Faschismus) ausdrückt, denn in seiner "harten" Form müssen wir das Verschwindenlassen, die Zerstückelung, das Anzünden von Delinquenten bei lebendigem Leibe in einer Zelle oder bei einem Glücksspiel zu den Aktivitäten des institutionellen Faschismus in zivilem Gewand zählen.

Konkret gesagt: Der Paramilitarismus und Uribismus in ihrer "harten" Form foltern, morden, massakrieren, vertreiben, prügeln brutal; und in ihrer "weichen" Form lähmen sie ganze Regionen, verhindern den Handel und die Beschaffung von Lebensmitteln und treiben die Bevölkerung in den Hunger, verbrennen und zerstören Eigentum von kleinen Geschäftsinhabern, so wie sie es im aktuellen bewaffneten Streik tun.

Welche andere faschistische Form der Vernichtung gibt es in Kolumbien? Hier werden Jugendliche verhaftet, weil sie Süßigkeiten gestohlen haben, danach werden sie ermordet und es wird versucht, diese Morde zu rechtfertigen, mit einem Diskurs der Eliminierung, Bestrafung, Disziplin, Wahrung des Gleichgewichtes, wie ein vermummter Militär erklärte, als er uns davor warnte was passiert, wenn Petro Präsident wird.

Diese Symbiose zwischen "para-staatlichen" Gruppen und staatlichen Organen (Streitkräfte, Polizei, Esmad) ist durch eine so feine und transparente Linie getrennt, dass es nicht schwierig ist zu verstehen, dass wenn sich die Kontrollpunkte der Armee an den Straßensperren verschieben, dann deshalb, weil sie zur "para-staatlichen", das heißt paramilitärischen Form übergegangen sind, um Terror und Angst in der Bevölkerung zu verbreiten..

Keine der großen Supermarktketten des Clans oder der Familien, die den Paramilitarismus unterstützen (Olímpica-Läden an der Küste), wurden beeinträchtigt. Ihnen wird im Gegenteil sogar militärische Unterstützung geboten. Auch die LKWs von Postobón oder die Filialen von Exito wurden nicht angezündet. Das heißt, der Klassenkampf zeigt sich sehr deutlich im "bewaffneten Streik", der im Grunde eine Aktion gegen die Bevölkerung ist, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Und wir wissen bereits, was sie im Gegenzug bereithalten, damit sich so etwas nicht wiederholt.

All dies muss im Hinblick auf die kommende Wahl analysiert werden, bei der die Mehrheit eine demokratische Regierung von Gustavo Petro und Francia Márquez wählen wird, worüber meines Erachtens Konsens besteht.

Die Frage, die ich mir wie viele andere seit einiger Zeit stelle, lautet: Wenn es stimmt, wie der jüngste bewaffnete paramilitärisch-staatliche Streik zeigt, dass der kolumbianische Faschismus bereits begonnen hat, eine seiner vielen Karten auszuspielen, um eine neue, von uns gewählte demokratische Regierung des Pacto Histórico zu verhindern, zu verleugnen, nicht anzuerkennen und im besten Fall nicht regieren zu lassen ‒ was werden wir dann tun, was ist die angemessene Antwort?

Wie werden wir reagieren, welchen Vorschlag hat die wahrscheinliche Regierung Petro-Márquez, welchen Vorschlag haben die Millionen von uns, die sich an den Wahlurnen für einen Wandel einsetzen, um eine faschistische kreolische Bewegung zu stoppen und zu demobilisieren, die bereits bewaffnet ist und Terror ausübt?

Sie werden sicherlich antworten, dass es seitens der neuen Regierung einen Vorschlag für ein Friedensabkommen gibt, der meiner Meinung nach mit den Dissidenten der Farc, mit der ELN und anderen Guerillagruppen, die immer noch im bewaffneten Widerstand sind, realisierbar sein könnte.

Doch wird dieser Vorschlag funktionieren, angemessen sein, wird der kolumbianische Faschismus eine friedliche Lösung des langen Konflikts akzeptieren?

Ich weiß es nicht, dies ist ein wichtiges Thema, um weiter zu diskutieren und herauszufinden, welche angemessenen, vernünftigen und konkreten Antworten die große soziale und bürgerschaftliche Bewegung hat, die sich bereits an den Wahlurnen für einen demokratischen Wandel entschieden hat.

12. Mai 2022

Oto Higuita aus Kolumbien ist Historiker und Essayist sowie Sprecher der linken Basisorganisation Marcha Patriótica. Er lebt in Schweden

  • 1. "Otoniel" gilt als Anführer der paramilitärischen "Gaitán-Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens" (Autodefensas Gaitanistas de Colombia, AGC ) und war zugleich einer der meist gesuchten Drogenhändler Kolumbiens. Die AGC werden von Regierung und Armee auch als "Clan del Golfo" bezeichnet, da sie hauptsächlich in der Subregion Urabá in der Provinz Antioquia, sowie in Córdoba, Sucre und Norte de Santander operieren