Seit mehr als 20 Jahren ist die Bewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Sem Teto, Bewegung der Arbeitenden ohne Dach über dem Kopf) in Brasilien aktiv in der Organisation von Arbeitenden in den Städten, immer ausgehend von dem Ort, an dem sie leben: den Stadtteilen an der Peripherie. Wir haben unsere Tätigkeiten in der Großregion von São Paulo begonnen, und derzeit arbeiten wir in 13 Bundesstaaten mit mehr als tausend organischen Aktivisten, durch die wir mehr als 50.000 Familien in ganz Brasilien mobilisieren. Durch den organisierten Kampf haben wir im ganzen Land schon für mehr als 10.000 Familien angemessenen Wohnraum erreicht.
Durch die Besetzung von großen urbanen Grundstücken, um die sich die Besitzer nicht kümmern und die keinerlei Sozialfunktion erfüllen, nähern wir uns Tausenden von Arbeitenden an, und von da aus entwickeln wir eine andere Form von Beziehungen untereinander und zur Umwelt, in denen die Organisation, die kollektiven Entscheidungen und das solidarische Teilen wertgeschätzt werden. In solchen Grundstücksbesetzungen führen wir politische Bildung durch und auch eine ganze Reihe von Aktivitäten im Bereich von Kultur, Freizeitgestaltung, Gesundheit und Gutem Leben, mit besonderer Berücksichtigung von Kindern, Jugendlichen, Frauen, Schwangeren und alten Menschen.
Das Recht auf angemessenes Wohnen ist der zentrale Inhalt dessen, wofür die MTST kämpft, aber es nicht das einzige: Menschen, denen das Recht auf angemessenes Wohnen verwehrt wird – die Wohnungslosen, "sem-teto" – haben auch keinen Zugang zu anderen Rechten: Bildung, Gesundheitsversorgung, öffentlicher Personenverkehr, grundlegende Infrastruktur in ihren Stadtteilen und Erfüllung vieler anderer Grundbedürfnisse. Deshalb betonen wir, dass die MTST nicht nur eine Sozialbewegung ist, die für Wohnraum kämpft, sondern für uns ist das Teil eines umfassenderen Kampfes, dem Kampf um menschenwürdige Lebensbedingungen. Deshalb fordern wir eine tief greifende Reform der urbanen Räume.
Schließlich ist das generelle Ziel des MTST, dass die Arbeitenden sich diesen Kampf für ihre sozialen Rechte zu ihrem eigenen machen, in einem ständigen Prozess von Debatten, Kursen und im ständig weitergehenden Engagement selbst, in dem sich der größte Teil der Aktivisten heranbildet. Ausgehend von dem konkreten Bedürfnis nach Wohnraum führen wir die politische Bildung ein, damit diese Menschen organische Aktivisten beim Aufbau einer gleichberechtigteren Gesellschaft werden.
Die "Front Volk ohne Angst" (Frente Povo Sem Medo)
Im Jahr 2014 verzeichnete die MTST eine beachtliche Ausbreitung und wurde so zu einem wichtigen politischen Akteur im linken Bereich der brasilianischen Gesellschaft. Es schien uns notwendig, die hier wirkenden Kräfte miteinander zu artikulieren, um zusammen für gemeinsame Ziele zu kämpfen. So gründeten wir Ende 2015 zusammen mit anderen Organisationen die Frente Povo Sem Medo. Diese Mobilisierungsfront vereint Sozial- sowie Jugend- und Studierendenbewegungen, Gewerkschaften, Organisationen von Frauen und von Afrobrasilianeinnen und -brasilianern im Kampf für Interessen der gesellschaftlichen Linken, für die Rechte der Arbeitenden und gegen die Rückschritte. Seit ihrer Gründung ist die FPSM ein erfolgreiches Instrument zur Mobilisierung in volksnahen Kreisen. Zu den wichtigsten Aktivitäten gehören die Kämpfe gegen die Reformen der Rentenversicherung und des Arbeitsrechts, gegen die Absetzung der Präsidentin Dilma 2016, gegen die Putschregierung, die danach entstand und ständig die sozialen Rechte attackiert, sowie für die Freilassung des früheren Präsidenten Lula.
Die Lage nach den Wahlen vom Oktober 2018
In Übereinstimmung mit der allgemeinen internationalen politischen Lage beobachten wir in Brasilien ein Erstarken von konservativen und rechtsgerichteten Gruppen und Interessen, besonders seit 2015. Dieser Prozess erreichte einen ersten Höhepunkt im parlamentarischen Putsch von 2016, der die Präsidentin Dilma absetzte, und seine Vertiefung beeinflusste den Prozess der Präsidentschaftswahlen von 2018, der zum Sieg des ultrarechten Kandidaten Jair Bolsonaro führte. Schon im Wahlkampf machte Bolsonaro zahllose machistische, frauenfeindliche, rassistische und LGBT-fobische Äußerungen. Er stachelte zu Hass und Gewalt gegen diese gesellschaftlichen Gruppen und gegen die Aktivisten der gesellschaftlichen Linken an, und gab zu verstehen, dass diese zu foltern, zu verhaften oder zu exilieren seien. Das Wahlergebnis verstärkte diese Art der Volksverhetzung und Intoleranz, sodass wir uns nun einer autoritärpolitischen Bedrohung gegenüber sehen, die sich in der Missachtung der demokratischen Institutionen sowie in ständigen Drohungen gegen die Presse und die Opposition ausdrücken.
Die politsche Stärke der MTST und ihre Mobilisierungskapazität führten dazu, dass eine unserer hauptsächlichen Leitungspersönlichkeiten, Guilherme Boulos, dieses Jahr für das Präsidentenamt kandidierte und so zu einer der wichtigsten linken Führungsfiguren wurde. Dadurch wurden wir zum Angriffsziel der neuen Regierung, die 2019 ihr Amt antritt und schon jetzt in all ihren Diskursen die Kriminalisierung der Sozialbewegungen (mit ausdrücklicher Erwähnung der MTST), der Kämpfe um soziale Rechte und der öffentlichen Persönlichkeiten der Opposition fordert.
Angesichts dieser politischen und gesellschaftlichen Lage sehen wir es als Aufgabe der MTST und der Frente Povo Sem Medo an, zusammen mit anderen linken Organisationen eine breite Front zum Schutz der Demokratie sowie der allgemeinen Rechte und Freiheiten zu artikulieren. In dem Maße, wie auf der Gegenseite die Angriffe zunehmen, werden wir mit immer mehr Mut und Bereitschaft zum Kampf reagieren.
Weitere Informationen bei folgenden Links:
https://www.youtube.com/watch?v=p5bBHL85G-I (deutsche Untertitel im Video einstellbar )