Brasilien / Politik

Brief an die Brasilianerinnen und Brasilianer zur Verteidigung des demokratischen Rechtsstaats

Über eine Million Personen und 500 Organisationen haben das Dokument unterzeichnet

brief_an_die_brasilianer.jpg

"Wir sind eine Million!" - Über eine Million Brasilianer:innen hat das online Formular unterzeichnet
"Wir sind eine Million!" - Über eine Million Brasilianer:innen hat das online Formular unterzeichnet

Im August 1977, inmitten der Feierlichkeiten zum 150. Jahrestag der Gründung der ersten juristischen Fakultäten im Land, verlas Professor Goffredo da Silva Telles Junior, unser aller Lehrer, im freien Territorium des Largo de São Francisco den Brief an die Brasilianer, in dem er die Illegitimität der damaligen Militärregierung und den Ausnahmezustand, in dem wir lebten, anprangerte und die Wiederherstellung des Rechtsstaats und die Einberufung einer Verfassunggebenden Nationalversammlung forderte.

Die Saat ging auf: Brasilien überwand die Militärdiktatur; die Verfassunggebende Nationalversammlung rettete die Legitimität unserer Institutionen durch die Wiederherstellung des demokratischen Rechtsstaats mit dem Schwergewicht auf der Achtung der Grundrechte.

Wir haben die drei Gewalten der Republik: die Exekutive, die Legislative und die Judikative, und jede davon ist unabhängig, autonom und dazu verpflichtet, den größeren Pakt, nämlich die Bundesverfassung, zu respektieren und sich für ihre Befolgung einzusetzen.

Unter der Bundesverfassung von 1988, die bald 34 Jahre alt wird, erlebten wir freie und regelmäßige Wahlen, in denen die politische Debatte über Projekte für das Land immer demokratisch war und die endgültige Entscheidung der Souveränität des Volkes gehörte.

Goffredos Lektion steht in unserer Verfassung: "Alle Macht geht vom Volk aus, das sie durch seine gewählten Vertreter oder gemäß den Bestimmungen dieser Verfassung direkt ausübt".

Unsere Wahlen mit elektronischer Auszählung dienten weltweit als Vorbilder. Wir erlebten mehrere Machtwechsel aufgrund der Ergebnisse an den Wahlurnen und eine republikanische Übergangsphase. Elektronische Wahlgeräte erwiesen sich dabei als sicher und zuverlässig, und das galt auch für die gerichtliche Überprüfung der Wahlvorgänge.

Auch wenn unsere Demokratie wuchs und reifte, so bleibt doch noch viel zu tun. Wir leben in einem Land tiefer sozialer Ungleichheiten, mit Mängeln bei essentiellen öffentlichen Gütern wie Gesundheit, Bildung, Wohnungen und öffentlicher Sicherheit. In Bezug auf die nachhaltige Entwicklung unserer wirtschaftlichen Potentiale haben wir noch einen langen Weg vor uns. Angesichts all dieser zahlreichen Herausforderungen zeigt sich der Staat allerdings als ineffizient. Respekts- und Rechtsgleichheitsforderungen in Bezug auf Rasse, Geschlecht und sexuelle Orientierung sind noch weit davon entfernt vollständig umgesetzt zu werden.

In den kommenden Tagen wird inmitten dieser Herausforderungen der Wahlkampf um Parlamentsmandate und die Regierungen in den einzelnen Bundesstaaten und auf nationaler Ebene beginnen. In diesem Moment sollten wir den Höhepunkt der Demokratie erleben – wie die verschiedenen politischen Projekte im Wettstreit versuchen, die Wählerschaft davon zu überzeugen, den besten Vorschlag für die Ausrichtung des Landes in den kommenden Jahren zu haben.

Anstelle eines zivilen Festes erleben wir aber den Moment einer immensen Gefahr für die demokratische Normalität, ein Risiko für die Institutionen der Republik und Andeutungen einer geplanten Missachtung des Wahlergebnisses.

Grundlose Angriffe ohne Beweise stellen die Fairness des Wahlprozesses und die von der brasilianischen Gesellschaft so hart erkämpfte demokratische Rechtsstaatlichkeit in Frage. Die Bedrohung der anderen Staatsgewalten und von Teilen der Zivilgesellschaft sowie die Aufstachelung zur Gewalt und der Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung sind nicht hinnehmbar.

Erst kürzlich waren wir Zeugen, wie autoritäre Tiraden die säkulare nordamerikanische Demokratie gefährdeten. Dort hatten die Versuche, die Demokratie und das Vertrauen der Menschen in die Fairness der Wahlen zu unterminieren, keinen Erfolg – und sie werden auch hier keinen Erfolg haben.

Unser staatsbürgerliches Bewusstsein ist viel größer, als es sich die Gegner der Demokratie vorstellen. Wir können kleine Differenzen zugunsten von etwas viel Größerem, der Verteidigung der demokratischen Ordnung, beiseitelassen.

Erfüllt von demselben staatsbürgerlichen Geist, der den Brief an die Brasilianer von 1977 kennzeichnete, und erneut versammelt auf dem freien Territorium des Largo de São Francisco, rufen wir die Brasilianerinnen und Brasilianer dazu auf, ungeachtet ihrer Wahl- oder Parteipräferenzen wachsam zu bleiben in der Verteidigung der Demokratie und der Respektierung des Ergebnisses der Wahlen.

Im heutigen Brasilien ist kein Platz mehr für autoritäre Rückwärtsbewegungen. Diktatur und Folter gehören der Vergangenheit an. Die Lösung der immensen Herausforderungen, vor denen die brasilianische Gesellschaft steht, erfordert unbedingte Achtung vor dem Ergebnis der Wahlen.

In zivilgesellschaftlicher Wachsamkeit gegenüber den Versuchen, die Verfassung zu brechen, rufen wir gemeinsam aus:

Demokratischer Rechtsstaat – für immer!