"Der Neoliberalismus ist eine Diktatur des Marktes", lautet die Erkenntnis der 23jährigen IG Metall-Gewerkschafterin und Studentin Jenny Zimmermann. Sie ist gerade mit einem Dutzend junger Gewerkschafter aus Lateinamerika zurückgekehrt. Einen Monat lang war ihre IG Metall-Jugendbrigade in Nicaragua und Venezuela unterwegs gewesen. Auf ihrer Reise wollten die Auszubildenden und Studierenden die Lebens- und Arbeitsbedingungen in den beiden Ländern kennenlernen. Nicaragua und Venezuela bilden gemeinsam mit Kuba und Bolivien das Bündnis ALBA. Die spanische Abkürzung steht für Bolivarianische Alternative für die Amerikas.
Die Reise der Jugendbrigade führte zunächst nach Nicaragua, dem zweitärmsten Land nach Haiti in der Region. Die Brigadisten lebten zwei Wochen lang bei Familien im Armenviertel San Rafael der Stadt Tipitapa. Jenseits jeglicher Urlaubsromantik teilten sie das tägliche Leben ihrer Gastfamilien: den kleinen Wohnraum, das nur in den Morgenstunden fließende Wasser, die mehrstündigen Stromsperren sowie die Regenfälle, die die Straßen des Barrios in Matschpisten verwandelten und auch spüren liessen, wenn das Dach undicht war. In San Rafael erlebten die jungen Deutschen, was es heißt, in Nicaragua arm zu sein. "Die materielle Armut zu sehen, unter der die Menschen dort leben, war krass", sagt die Gewerkschafterin. Die Begehung der städtischen Müllkippe von Managua, der Churreca, führten den Brigadisten aber vor Augen, was sich hinter dem Begriff "extreme Armut" verbirgt: Etwa 1600 Menschen leben dort ständig und suchen im Müll der Großstadt das heraus, was sie zum Überleben brauchen. "Da soll mir nochmal jemand sagen, daß Neoliberalismus toll sei", kommentiert Zimmermann das Erlebnis.
In Nicaragua beschäftigten sich die Gewerkschafter mit den Arbeitsbedingungen der Textilarbeiter in den Zonas Francas. Diese Freizonen sind strengbewachte Industrieparks, in denen ausländische Subunternehmen steuerfrei auch Textilien für internationale Markenfirmen produzieren. Der Monatsverdienst liegt bei knapp 100 Euro. Die Arbeitsbedingungen sind hart: Akkordarbeit, kaum Gesundheitsschutz, Willkür des Sicherheitspersonal, Allmacht des Unternehmers. Erst seit dem Regierungsantritt des Sandinisten Daniel Ortega ist es einfacher, sich in den Betrieben gewerkschaftlich zu organisieren. Trotzdem leben Gewerkschaftler weiterhin gefährlich: der Generalsekretär des nationalen Textildachverbandes Pedro Ortega bemerkte noch rechtzeitig, daß die Bremsschläuche an seinem Wagen durchgeschnitten waren. Beim Seminar mit Textilgewerkschaftern wurde deutlich, daß die Arbeiter immer noch konspirativ vorgehen müssen, wenn sie sich organisieren wollen - sonst droht der Rausschmiß.
Anders sieht die Lage in Venezuela aus. "Venezuela lebt noch im Kapitalismus", stellt Zimmermann fest, "aber sie sind auf dem Weg etwas anderes zu entwickeln." Von ihrer Herberge aus besuchte die Brigade Kooperativen, von Arbeitern und Regierung geführte Fabriken sowie verschiedene besetzte Betriebe in Caracas, Maracay und Barquismeto. Hinzu kamen Fahrten in unterschiedliche Barrios, die zum einen deutlich machten, wie weit die Sozialprogramme der Bolivariansichen Regierung gediehen sind. Zum anderen sprachen die venezolanischen Gesprächspartner aber auch offen über ihre Probleme: die hemmende Bürokratie einerseits, Uneinigkeit andererseits. Letztere wurde beim Besuch der Gewerkschaft Unión Nacional de Trabajadores (UNT) sichtbar: diverse Strömungen bekämpfen sich. Ein Kongreß im Dezember soll Klärung bringen. Zur Zeit tritt Präsident Hugo Chávez für die Arbeitnehmerrechte ein: Verkürzung der Arbeitszeit von acht auf sechs Stunden plus ein starker Kündigungsschutz.
Jenny Zimmermann ist mit der Reise, die erstmalig zwei Länder gleichzeitig besuchte, zufrieden: "Persönlich ist es eine wichtige Erfahrung und auch politisch - man sieht, wie einfach es für das Kapital ist, sich zu globalisieren und wie schwierig für uns."