Venezuela / Wirtschaft

Von der Holländischen zur Venezolanischen Krankheit

Weshalb es der Regierung Chávez nicht gelingt, die Probleme der Erdölabhängigkeit zu überwinden

"Unsere Bourgeoisie ist anders als die anderer Länder. Die venezolanische Bourgeoisie des 20. Jahrhunderts ist eine unproduktive Oligarchie die sich darauf spezialisiert hat die Erdölrente zu schöpfen, am Staat zu saugen und den Reichtum der Bevölkerung vor zu enthalten"

Hugo Chávez am 3. Juni 2010

Mit dem erklärten "Krieg gegen die Wirtschaft" hatte Venezuelas Präsident Hugo Chávez Anfang Juni 2010 zum Angriff auf die nationalen Unternehmerverbände geblasen. In den Medien wurde dies als gewöhnliche Verrücktheit des Präsidenten dargestellt. Doch Venezuela ist dadurch gekennzeichnet, dass sich der unternehmerische Ehrgeiz der politischen und wirtschaftlichen Eliten im Kampf um die Petrodollars erschöpft.

Seit dem Beginn der Rohölförderung in Venezuela zu Beginn des 20. Jahrhunderts wandelte sich in Venezuela eine von Großgrundbesitz geprägte Agrargesellschaft zu einer Rentenökonomie. In einem Land, das schon zuvor nicht zu den wirtschaftlichen Zentren des spanischen Kolonialreichs auf dem amerikanischen Kontinent zählte, konzentrierten die politischen und wirtschaftlichen Eliten fortan ihren unternehmerischen Ehrgeiz in dem Wettkampf um die Ölrente. Die Entwicklung Venezuelas steht und fällt seitdem mit dem Ölpreis. Sank der Kurs für einen Barrel - also 159 Liter - Rohöl, wechselte meistens auch die Führung des Landes. Ende der 1950er Jahre musste die Diktatur von Marcos Pérez Jiménez dran glauben, in den 1990ern die sozial- und christdemokratischen Eliten.

Im Dezember 1998, beim ersten Wahlsieg der heutigen Regierung um Präsident Hugo Chávez, lag der Ölpreis auf einem historischen Tiefpunkt. Weniger als zehn US-Dollar wurden an den internationalen Märkten für das Barrel bezahlt. Ein Teil der politischen Eliten des Landes hatten es sich trotzdem bequem gemacht, etwa in der Führungsetage des staatlichen Unternehmens PdVSA. An der Staatskasse vorbei bugsierten sie ihre "Rente" auf Dollarkonten im Ausland. Während die venezolanische Bevölkerung in den 1980er und 1990er Jahren verelendete, verscherbelten diese Eliten ehemalige Industrieprojekte des Staates an private Akteure. Der niedrige Industrialisierungsgrad ging weiter zurück, die landwirtschaftliche Produktion hatte das Land bereits in den 1970ern weitgehend aufgegeben. Das Hauen und Stechen um die Rente, 1989 führte es im Rahmen des als "Caracazo" bekannten Sozialaufstandes in mehreren tausend Toten, führte zu Rissen in der Oberschicht des Landes. Ein nicht unwesentlicher Teil der wirtschaftlichen und politischen Eliten unterstützten 1998 erfolgreich die Wahl des Außenseiters Chávez.

Zwölf Jahre nach dieser Wahl ist Venezuela trotz allerlei Diskurse über endogene Entwicklung, einen vierten Weg, einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts immer noch weit davon entfernt, den Rentenkapitalismus mit seinen Symptomen zu überwinden. Mit der Währungs- und Finanzpolitik knüpft die Regierung Chávez sogar nahtlos an ihre Vorgänger an, aus deren Ablehnung sie paradoxerweise ihre politische Legitimität bezieht.

Bereits die Währungsabwertung im Januar 2010 hatte - vermutlich unbeabsichtigt - symbolisch an bisherige Währungspolitiken des Landes angeknüpft. 4,30 Bolivares (Bs.) für einen Dollar bezahlten die Venezolaner bereits in den goldenen 1970er Jahren. Dies war die Hochphase des Cepalismo, des Entwicklungsmodells der importsubstituierenden Industrialisierung. In Venezuela verstand man dieses Entwicklungsmodell jedoch vor allem als Aufruf zu einer öl- und kreditfinanzierten Wohlstandgesellschaft. Hohe Inflation führte zur steten Abwertung der Währung im Inland. Der niedrige Kurs zu Fremdwährungen garantierte aber günstige Importe und den Anstieg des Lebensniveaus großer Teile der Bevölkerung. Die Währung blieb so auch nach dem Ende des Bretton-Woods Systems 1973 bei einem festen Wechselkurs zum Dollar. Der Staatsbankrott 1983 war dann zwar auch den Krisen der Weltwirtschaft geschuldet, vor allem aber war er die Folge eines venezolanischen Entwicklungsparadoxons: der importgetriebenen Deindustrialisierung.

Trotz vieler innovativer Versuche, dieses Entwicklungsmodell zu durchbrechen, hat die Regierung Chávez dieses Paradoxon erfolgreich fortgeschrieben. Überbewertete Währung, Ausweitung der Importe und des privaten Konsums, Anstieg der Geldmenge ohne Zuwachs der Produktion, Inflation, mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Produktion - ob privat, kooperativ oder staatlich - gegen Importe und auf internationalen Märkten. Jene Negativspirale rohstoffreicher Länder hieß zu Beginn des 20. Jahrhunderts "Holländische Krankheit". Seit Mitte des 20. Jahrhunderts sollte von "Venezolanischer Krankheit" die Rede sein.

Warum gelingt Venezuela keine Heilung? Chávez liefert mit seiner Beschreibung der venezolanischen Eliten den politischen Grund. Politische und soziale Kämpfe in Venezuela folgen stets einem Motiv: Der Verteilung der Ölrente. Die Gewinner des Verteilungskampfes haben sich seit 1999 drastisch verändert. Dies ist in erster Linie auf die Sozialpolitik der Regierung Chávez zurückzuführen. Der eindrucksvolle Rückgang der Armut, Arbeitslosigkeit, die Aufhebung von Bildungschranken und materieller Ungleichheit sind unbestritten große politische Erfolge seiner Regierung.

Doch an der Venezolanischen Krankheit, an den Strukturen des Rentenkapitalismus, konnte auch Chávez nicht rütteln. Würden importierte Konsumgüter in Venezuela, zu denen vor allem Lebensmittel gehören, nach einem marktgerechten Kurs bewertet, die Bevölkerung würde Chávez angesichts sich verdoppelnder Preise jegliche Unterstützung entziehen. Eine Unterbewertungsstrategie, mit der südostasiatische Schwellenländer große Industrialisierungserfolge erzielen, kann ebenso wenig das Ziel sein. Dabei bedeutet der Wettbewerbsvorteil durch künstlich schwache Währungen vor allem unmenschliche Überausbeutung von Arbeitskraft für den Exportsektor und ökologische Zerstörung durch internationale Investoren.

Das internationale Währungssystem ist für die Länder des globalen Südens ein Teufelskreis. Verkaufen sie Rohstoffe an den Norden, leiden sie unter Inflation und eskalierenden Verteilungskämpfen. Ob das neue Wechselband, das de facto eine Abwertung des Bolivars gegenüber Fremdwährungen für den privaten Wirtschaftssektor bedeutet, diesen Teufelskreis für Venezuela durchbricht, ist fraglich. Die Anreize für die venezolanische Bourgeoisie des 20. Jahrhunderts, in die Produktion statt in den Handel zu investieren bleiben weiter gering. Die Bourgeoisie des 21. Jahrhunderts, die sich um Chávez formiert und einen neuen sozialen Pakt geschlossen zu haben scheint, wird es trotz pseudo-revolutionärer Rhetorik nicht besser machen. Die Staatsunternehmen sind unter den Ausgangsbedingungen der durch den Wechselkurs staatlich subventionierten Importe ebenfalls zum Scheitern verurteilt. Ein möglicher Ausweg wäre eine Regionalwährung, gestützt auf die Wirtschaftskraft und Stabilität des Nachbarlandes Brasiliens. Die Bank des Südens und die Initiative der Einheitswährung Sucre bieten für die venezolanische Krankheit also eine mögliche Heilung.