Soziale Bewegungen in Chile: "Wir werden weiterkämpfen“

Die Coronavirus-Pandemie hat die Menschen in Chile hart getroffen, die seit Oktober gegen die neoliberale Regierung auf die Straße gehen. Nun erfinden sie andere Formen des Protests

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"Das Coronavirus ist nicht so tödlich wie der chilenische Staat“: Graffiti in der Nähe vom Plaza Dignidad in Santiago
"Das Coronavirus ist nicht so tödlich wie der chilenische Staat“: Graffiti in der Nähe vom Plaza Dignidad in Santiago

Santiago. Mitte März ist das Coronavirus noch ein Scherz bei den Protesten in Chile gewesen: "In Chile leiden wir unter dem Piñera-Virus" oder "Ich habe mehr Angst vor meiner Rente als vor dem Coronavirus" las man auf den Plakaten bei den Demonstrationen.

Als die Zahl der Infizierten jedoch innerhalb weniger Tage rasant in die Höhe stieg und die Regierung keine Maßnahmen ergriff, waren es die Protestierenden, soziale Organisationen und Gewerkschaften, die dazu aufriefen, zu Hause zu bleiben. Jetzt ist "Vollständige Quarantäne mit Würde" (Cuarentena Total Con Dignidad) die vorrangige Forderung bei den Cacerolazos geworden (Protestaktionen, bei denen mit leeren Töpfen und Pfannen Lärm gemacht wird), die nun an den Fenstern und Balkonen stattfinden.

Die ersten nachgewiesen Coronavirus-Fälle gab es in den Reichenvierteln der Hauptstadt Santiago wie Vitacura, Las Condes und Lo Barnechea. Das Saint George’s College, eine Eliteschule, wurde als erste Schule unter Quarantäne gestellt, nachdem bekannt wurde, dass ein Lehrer sich bei Personen angesteckt hatte, die von einer Italienreise zurückgekehrt waren. Sieben Gemeinden in Santiago wurden deshalb unter eine vollständige Quarantäne gestellt, im Rest des Landes gibt es lediglich eine nächtliche Ausgangssperre.

Die Grenzen sind geschlossen, der Unterricht in Schulen und Kindergärten ist ausgesetzt, öffentliche Veranstaltungen wurden abgesagt. Vor der Erklärung der Quarantäne fuhren Tausende wohlhabende Bewohner Santiagos in ihre Sommerresidenzen an der Küste, worauf die Küstengemeinden mit Straßenbarrikaden reagierten, um sich vor der Ausbreitung des Virus zu schützen.

Trotz Ausgangssperren und Quarantäne in manchen Gemeinden müssen die meisten Chilenen weiter bei der Arbeit erscheinen. Der öffentliche Transport funktioniert normal weiter, die Metro in Santiago transportiert jeden Tag Millionen von Menschen. Die Arbeitsverhältnisse im Land sind prekär, über ein Drittel der Angestellten hat keinen Arbeitsvertrag. Anstatt sie zu schützen, hat die Regierung ein Dekret erlassen, das Arbeitgebern erlaubt, den Arbeiternehmern keinen Lohn zu bezahlen, wenn sie aufgrund der gesundheitlichen Notfallsituation im Land nicht zur Arbeit erscheinen können.

"Wir brauchen jetzt Maßnahmen, die den Arbeitern ihren Arbeitsplatz und ihr Einkommen garantieren. Die Regierung macht das Gegenteil, sie lässt sie ohne jeglichen Schutz", sagt Recaredo Galvez, Politikwissenschaftler der Fundación Sol.

Die Coronavirus-Pandemie verdeutlicht auch die Probleme des Gesundheitssystems, das zu großen Teilen privatisiert ist. Jedes Jahr sterben über 20.000 kranke Menschen, während sie auf der Warteliste der Krankenhäuser stehen. In öffentlichen Krankenhäusern fehlt es an Personal und Grundausstattung wie Atemschutzmasken, Handschuhen und Desinfektionsmitteln. Der Staatssekretär des Gesundheitsministeriums Arturo Zúñiga sagte am Freitag, das liege daran, dass die Mitarbeiter die Materialien stehlen würden. Gesundheitsminister Jaime Mañalich wurde 2015 aus ethischen Gründen aus der Ärztegewerkschaft ausgeschlossen und machte unlängst Schlagzeilen mit seiner Aussage, man könne nicht wissen, ob "das Virus mutiert und zu einer guten Person wird".

"Wir als Gewerkschaft machen seit vielen Jahren darauf aufmerksam, dass das öffentliche Gesundheitssystem chronisch unterfinanziert ist, und die Ursache dafür liegt in der neoliberalen Verfassung der Diktatur", sagt Virginia Gónzales von der Nationalen Konföderation der Arbeiter in der städtischen medizinischen Primärversorgung (Confusam). Sie arbeitet seit 18 Jahren als Krankenschwester in der Gemeinde La Pintana in Santiago. "Die Mitarbeitenden zeigen ein fast heldenhaftes Engagement, aber sie haben auch Angst, sich anzustecken, sind gestresst und überlastet wegen der prekären Bedingungen, unter denen wir arbeiten."

Was die Zukunft der Protestbewegung angeht, ist sie optimistisch: "Das Handeln der Regierung wird dazu führen, dass die Proteste mit noch mehr Kraft zurückkehren. Zusammen mit unserem Volk werden wir eine neue Verfassung erarbeiten, die die öffentliche Gesundheitsversorgung als ein Recht festschreibt."

Die Feministische Koordination 8. März hat einen Coronavirus-Notfallplan aufgestellt. Darin ruft die Organisation dazu auf, Versorgungs-, Betreuungs- und Pflegenetzwerke aufzubauen. Häusliche Gewalt während der Ausganssperre müsse sichtbar gemacht und Mechanismen aufgebaut werden, um betroffene Frauen zu schützen. Zu den Forderungen gehören außerdem eine kostenlose Behandlung im Krankenhaus, ein Verbot von Entlassungen, das Einfrieren der Preise von medizinischen Produkten und das Aussetzen von Schuldenzahlungen.

Die Nachbarschaftsversammlungen (Asambleas Territoriales), die im Rahmen der Proteste seit dem 18. Oktober gegründet wurden, arbeiten an der Verstärkung der Netzwerke in ihren Stadtvierteln. "Angesichts der Vernachlässigung durch den Staat beschützt sich das Volk", ist das Motto.

"Wir vernetzten uns mit den anderen Nachbarschaftsversammlungen, um Notfallmaßnahmen zu ergreifen. Wir wollen die Nachbarn identifizieren, die Probleme haben oder Hilfe brauchen. Freiwillige gehen dann für sie einkaufen und unterstützen sie", erklärt Susana Calderón von der Versammlung Plaza 18 Septiembre de Ñuñoa. Da sie sich momentan nicht persönlich treffen können, organisieren die Nachbarn Video-Konferenzen oder tauschen sich über Messengerdienste über die aktuelle politische Lage und die Handlungsmöglichkeiten aus. "Die Regierung übertrifft sich jeden Tag an Unfähigkeit, Falschheit und Dummheit. Die Maßnahmen sind ganz klar auf die Interessen der wirtschaftlichen Elite ausgerichtet und nicht auf die der Arbeiter", sagt Calderón. "Das zeigt uns, dass wir nicht aufgeben dürfen. Unsere Wut wird jeden Tag größer und wir werden weiterkämpfen."