Lateinamerika / Soziales

Südamerika unter Quarantäne: Zwischen Volksküchen und Plünderungen

Lastwagen mit Lebensmitteln gestoppt und leergeräumt, Supermärkte geplündert. Netz von Volksküchen in Uruguay

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Solidarisch: In Uruguay entstehen überall Volksküchen
Solidarisch: In Uruguay entstehen überall Volksküchen

Montevideo et al. In den meisten Ländern Südamerikas ist es in der ersten Woche der Quarantäne zu Plünderungen gekommen. Eine Ausnahme macht Uruguay, wo Gewerkschaften, Basiskomitees, Fußballklubs und Nachbarschaftsgruppen im ganzen Land Volksküchen organisieren.

In Kolumbiens Provinz La Guajira ereigneten sich in den vergangenen Tagen mehrere Plünderungen von Supermärkten. Die Polizei und die Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung Esmad verteidigten die Geschäfte, lösten damit jedoch panikartige Szenen unter den Einkaufenden aus. Andernorts stoppten Personengruppen Lastwagen mit Lebensmitteln, um sie anschließend leerzuräumen.

Viele Motorradtaxis, das am meisten verbreitete Transportmittel Kolumbiens, halfen bei den Aktionen mit. Sie sind Teil des informellen Sektors, der in ganz Lateinamerika von der Hand in den Mund lebt und mehr als 50 Prozent der arbeitenden Bevölkerung ausmacht. Diejenigen, die darauf angewiesen sind, jeden Tag mit irgendeinem Job auf der Straße etwas "Geld zu machen", werden von der Quarantäne existenziell getroffen. Für sie gibt es weder Arbeitslosenversicherung noch Gesundheitsschutz.

Auf der kolumbianischen Seite im Grenzgebiet zu Venezuela kam es ebenfalls zu Tumulten und Plünderungen. Lastwagen mit Lebensmitteln wurden gleichsam ausgeräumt. Ein bedeutender Teil der Bevölkerung lebt vom Schmuggel und vom An- und Verkauf subventionierter venezolanischer Produkte auf kolumbianischem Boden. Die Grenzschließungen treffen diese Menschen hart.

In Peru entstand in verschiedenen Supermärkten Panik, als die Polizei dort vermeintliche Plünderer unter den Hamsterkäufern dingfest machen wollte.

Mexiko ist von organisierten Überfällen besonders betroffen. Allerdings soll es sich hier nach offiziellen Angaben nicht um die Aneignung von Lebensmitteln oder Artikeln des Grundbedarfs handeln. Vielmehr finden sich Personengruppen über Whatsapp zusammen, die gemeinsam vor allem Geschäfte mit teuren elektronischen oder Haushaltsgeräten überfallen. Dabei seien besonders Fernseher und Mikrowellen gefragt. Sie verabreden den Treffpunkt über das Handy, prüfen vor Ort die Lage und stürmen dann die Läden. "Hier handelt ein Personenkreis, der sich die Ausnahmesituation der Corona-Quarantäne zunutze macht, um sich an hochwertigen Waren zu bereichern", so die Sprecherin des Innenministeriums. "In keinem dieser Fälle wurden Lebensmittel oder Medikamente gesucht".

Aus Chile wurden vereinzelt Gruppenüberfälle auf Ladengeschäfte gemeldet, doch es handelt sich bis jetzt nur um wenige Ausnahmen. Das Land wird seit Beginn der Quarantäne von einer anderen Art Plünderungen heimgesucht, die vor allem die sozial schwachen Schichten treffen: Manche Firmen verteuern Waren wie Lebensmittel, Hygieneartikel und vor allem Atemschutzmasken um ein Vielfaches. Sie spekulieren mit der Not und mit der Angst vor der Infektion. Im Parlament mündete das Thema in den Vorwurf, dass Präsident Sebastian Piñeira zu langsam und zu kleinlich mit sozialen Hilfsmaßnahmen für die Bedürftigen reagiere. Der privatisierte Gesundheitsdienst ist für diese Bevölkerungsschicht unerreichbar, der Corona-Test kostet zum Beispiel umgerechnet 30 unerschwingliche Euro.

Keine Übergriffe dieser Art wurden bisher aus Uruguay berichtet. Das Land liefert ein Beispiel menschlicher Solidarität von unten. Die Volksküchen sprießen allerorts wie Pilze aus dem Boden. Der Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT, Basiskomitees der linken Partei Frente Amplio, Sportklubs, Nachbarschaftsgruppen, auch Laden- und Kneipenbesitzer beteiligten sich daran, innerhalb weniger Tage das Land mit einem Netz von Volksküchen zu überziehen. Allein in Montevideo gibt es über 20 solcher improvisierten Einrichtungen. Man hat Erfahrung, denn in der harten Wirtschaftskrise von 2002 organisierten die Uruguayer eine ähnliche Welle der Solidarität, vor allem in den ärmeren Stadtteilen.

"Hier verhungert niemand", sagt eine Veteranin und schwenkt den großen Schöpflöffel mit Nudeln, Hackfleisch, Gemüse und Tomatensoße, um die Plastikschüssel einer Frau mit zwei Kleinkindern zu füllen. Tatsächlich handelt es sich um eine kulturell tief verwurzelte Tradition. Geschäfte der Umgebung liefern Lebensmittel, Bäcker und Metzger geben täglich ihre Spenden ab. Die Rathäuser in Montevideos Verwaltungsbezirken bringen mit Lastwagen Grundnahrungsmittel zu den Volksküchen. Nachbarn spenden ein Kilo Reis, eine Tüte Nudeln oder ein Reinigungsmittel. Hier ist alles nützlich.

PIT-CNT-Generalsekretär Marcelo Abdala sagte, dass die Gewerkschaften Lebensmittelkisten in die Viertel transportieren werden, wo man sie braucht.

Seit dem Regierungsantritt der Rechtskoalition am 1. März verloren über 52.000 Angestellte ihre Arbeit.