Nach wirkungsvollen Streiks entfesselt De-facto-Regierung von Bolivien Repression

Haftbefehle und Fahndung nach gewerkschaftlichen und sozialen Führungspersönlichkeiten. MAS-Senator fordert Garantien für politische Betätigung

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Für Anfang August hatte der Gewerkschaftsdachverband zum Generalstreik und Straßenblockaden aufgerufen
Für Anfang August hatte der Gewerkschaftsdachverband zum Generalstreik und Straßenblockaden aufgerufen

La Paz. Die Regierung von Boliviens De-facto-Präsidentin Jeanine Áñez holt zu Repressalien gegen Personen aus, die bei den Streiks und Blockaden für eine Festlegung des Wahltermins eine führende Rolle innehatten. Irreguläre Kräfte aus dem Lager des Putsches gegen die gewählte Regierung von Evo Morales im November 2019 üben zudem Gewalt gegen Gewerkschaften und soziale Organisationen aus.

Ein Anfang August durch den Gewerkschaftsdachverband COB ausgerufener Generalstreik und damit verbundene Straßensperren im gesamten Land hatten das Oberste Wahlgericht (TSE), das Parlament und die De-facto-Regierung gezwungen, den Termin für die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 18. Oktober unverrückbar und endgültig zu bestätigen. Die Blockaden von Straßen zu den wichtigsten Städten und strategischen Punkten durch Bergarbeiter, Bauern, Frauen, Indigene aus dem Hochland, Nachbarschaftsräte und Einzelhandelsorganisationen richteten sich gegen die bereits mehrfache Verschiebung der anstehenden Abstimmung. Unter dem Eindruck des Protests boten die katholische Kirche, die Europäischen Union (EU) und die Vereinten Nationen an, die Einhaltung des Wahltermins zu garantieren.

Umfragen in der letzten Zeit haben ergeben, dass die Präsidentschaftskandidaten der Rechten gegenüber dem Kandidaten der Partei des gestürzten Präsidenten Evo Morales deutlich unterlegen scheinen. Luis Arce, der für die Bewegung zum Sozialismus (MAS) für das Präsidentenamt ins Rennen geht, war demnach im Mai mit 48 Prozent der Stimmen bereits der Favorit und soll heute nahe bei 53 Prozent liegen.

Nach den erzielten Vereinbarungen über einen definitiven Wahltermin hat nun der stellvertretende Innenminister der Putsch-Regierung, Javier Issa, erklärt, dass Haftbefehle gegen die "Anstifter der Blockaden" erlassen wurden. "Wir haben Haftbefehle gegen die Hauptverantwortlichen für die Blockaden, wir haben Haftbefehle gegen Akteure, die auf nationaler Ebene daran teilgenommen haben", sagte Issa in einem Interview. "Diese Haftbefehle werden vollstreckt werden, die Polizei ist dabei, die beteiligten Personen ausfindig zu machen", so der Minister weiter.

Die Anschuldigungen gegen Protestierende lauten auf Terrorismus, Völkermord und Straftaten gegen die öffentliche Gesundheit. Letzteres wird damit begründet, dass während der Blockaden unter anderem "Transporte von medizinischem Sauerstoff verhindert" worden seien, was zu Todesfällen in Kliniken geführt habe.

Begründet mit diesem Vorwurf haben auch Organisationen, die die Putsch-Regierung unterstützen, Anzeigen gegen Anführer der Protestbewegung eingereicht. Die Präsidentin des Bürgerkomitees des Departamentos Oruro, Rosario Sandalio, sagte, dass bei der Staatsanwaltschaft eine Strafanzeige gegen den ehemaligen Präsidenten Evo Morales und gegen Gewerkschaftsführer eingereicht wurde, die Straßensperren befürworteten, die "die Krankenhäuser des Landes ohne Sauerstoff ließen und den Tod von Patienten mit Coronaviren verursachten". Die Strafanzeigen richteten sich auch gegen den Generalsekretär der COB, Juan Carlos Hurachi, den Exekutivsekretär des bolivianischen Bergarbeitergewerkschaftsbundes (FSTMB), Orlando Gutiérrez, und gegen Führer der MAS und des Einheitspaktes, in dem soziale Organisationen zusammengeschlossen sind.

Eine irreguläre Organisationen namens "Widerstand Pititas" hat indes einen Sprengstoffanschlag auf den Hauptsitz der COB und des Frauenbundes Bartolina Sisa in La Paz begangen. Innenminister Arturo Murillo, räumte ein, dass die Urheber zu einer Gruppierung gehören, die die Machthaber unterstützt. Sechs verdächtige Personen sind unter Hausarrest gestellt worden. "Widerstand Pititas" soll nach Einschätzung von Beobachtern den Schutz und die Mittäterschaft der Polizei und der De-facto-Regierung genießen. Seit der Machtübernahme von Áñez werden diesen Kräften gewalttätige Aktionen zugeschrieben, wie die Einschüchterung von Ombudsleuten und ehemaligen Regierungsangestellten oder Angriffe auf Botschaften.

Der Präsident der Abgeordnetenkammer, Sergio Choque, forderte im Zusammenhang mit den Protesten der letzten Tage die De-facto-Regierung auf, die Rechte der sozialen Führer zu respektieren und das Gesetz der Garantien zu verabschieden, das dies ermöglichen würde.

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Eine entsprechende Norm wurde bereits im Januar letzten Jahres von der Legislative gebilligt, die Verwaltung von Áñez verweigert jedoch die Verabschiedung. Das Garantiegesetz, "das seit mehr als sieben Monaten im Büro der Übergangspräsidentin schläft", müsse endlich gültig werden, sagte Choque, ein Senator der MAS, die nach der Entmachtung von Morales im Parlament immer noch die Mehrheit bildet.

Das Gesetz legt unter anderem fest, dass die Freilassung von Personen, die willkürlich wegen der Teilnahme an Protesten inhaftiert wurden, ab dem 21. Oktober 2019 umgesetzt wird. Es sieht auch die Achtung der Garantien der bolivianischen Bürger und der im Land ansässigen Ausländer vor.

Die De-facto-Regierung und die mit ihr verbundenen politischen Kräfte lehnten das Gesetz ab, da es ihrer Ansicht nach Straflosigkeit befürworte.

Indes hat die Harvard-Universität in den USA eine Studie über Menschenrechtsverletzungen seit dem Putsch Ende letzten Jahres vorgelegt.

Bereits in den Tagen vor Áñez' Übernahme der Interimspräsidentschaft haben demnach die Putschisten die Polizei eingesetzt, um Proteste in verschiedenen Städten zu ersticken, und seitdem habe ihre Verwaltung systematisch die Menschenrechte von Bolivianern verletzt. Die Studie mit dem Titel "Sie schossen auf uns wie auf Tiere", untersucht die Gewalt, an der der Staat nach dem erzwungenen Rücktritt von Morales im November 2019 beteiligt war.

Der Bericht dokumentiert zwei Demonstrationen nur wenige Stunden nach dem Putsch. Die erste am 15. November in der Gemeinde Sacaba im Koka-Anbaugebiet Chapare, bei der elf Menschen getötet und 120 verletzt wurden; und ein weiterer Protest am 19. November im Bezirk Senkata, bei dem elf Beteiligte starben und 50 verletzt wurden. Der Bericht stellt fest, dass es sich bei allen Opfern um unbewaffnete Zivilisten, hauptsächlich indigener Herkunft handelte, die von Polizei und Militär angegriffen wurden.

Seit diesen Protesten, so die Studie, habe es weitere Menschenrechtsverletzungen gegen die Bevölkerung gegeben. Einerseits hat die Regierung gewaltsam gegen Demonstranten reagiert, die sich Áñez widersetzten und Anhänger der MAS sind. In einigen Fällen habe der Staat Gruppen von Zivilisten, sogenannte Motoqueros, gefördert, um Morales' Anhänger anzugreifen. Gerichtliche Ermittlungen würden behindert und die Meinungsfreiheit im Andenstaat sei nach mehreren Angriffen auf Journalisten, die der Übergangsregierung kritisch gegenüberstehen, nicht mehr gewährleistet.

"Seit den Morden von Sacaba und Senkata verfolgt die Übergangsregierung weiterhin Menschen, die sie als Gegner der Áñez-Regierung betrachtet", heißt es in der Studie weiter. Seit November 2019 seien mindestens 100 MAS-Politiker verhaftet worden und die Regierung halte 600 ehemalige Morales-Regierungsbeamte unter Beobachtung.