Brasília. Brasiliens Agrarlobby verschärft ihre Angriffe gegen kleinbäuerliche Strukturen und indigene Territorien. Sie will jetzt den Austritt des Landes aus der Konvention Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in die Wege leiten.
Der offizielle parteiübergreifende Zusammenschluss im Kongress, die Frente Parlamentar da Agropecuária (FPA), hat am 12. August ein Dokument veröffentlicht, in dem sie den Austritt fordert. Die FPA argumentiert, die Konvention beschneide Brasilien in den "Befugnissen zur Gesetzgebung, Verwaltung, Ausarbeitung und Bewertung nationaler und regionaler Entwicklungspläne und -programme, zum Bau von Straßen, Wasserkraftwerken und anderen Infrastrukturmaßnahmen ‒ kurzum, zu souveränen Entscheidungen über das, was für den Fortschritt und die Entwicklung des Landes am nötigsten ist".
Daher müsse Brasilien zum nächstmöglichen Zeitpunkt aus der ILO 169 austreten. Nach Regularien der ILO kann dies alle zehn Jahre geschehen. Da das südamerikanische Land die Konvention 2002 unterschrieben hatte, könnte dieser Schritt bis zum 5. September 2022 vollzogen werden, so die Farmer:innenlobby.
Dies deckt sich mit den Vorstellungen von Präsident Jair Bolsonaro. Auch er hatte bereits kurz nach seinem Amtsantritt verlautbart, der Austritt aus der ILO 169 sei dringend erforderlich, um die Entwicklung des Landes nicht weiter zu behindern.
Als Erste schickte seine Regierung im März 2019 ihre Botschafterin bei der UNO in Genf, Maria Nazareth Farani Azevêdo, vor, die öffentlich auf die Möglichkeit verwies, dass Brasilien die Konvention verlassen könnte.
Im Oktober 2019 folgte das direkt dem Präsidenten unterstellte Sicherheitskabinett GSI, das die Bundesanwaltschaft aufforderte, ein wegweisendes Urteil des Obersten Gerichtshofs (STF) von 2006 auf Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Der STF hatte die Rechtsgültigkeit der von Brasilien ratifizierten ILO-Konvention 169 auch auf Quilombolas (Nachkommen der Sklaverei entflohener Schwarzer) bestätigt.
Das GSI-Dokument verweist ebenfalls auf den nächstmöglichen Kündigungszeitraum. Als Begründung nennt es die "Auswirkungen der ILO-Konvention 169 auf die Entwicklung des Landes". Eine Arbeitsgruppe solle einen Vorschlag für ein Präsidaldekret erarbeiten, das den Modus Operandi der "vorherigen Konsultation indigener Völker und Stämme" neu regelt. Die bisherige Anwendung der ILO 169 beeinträchtige "Projekte von nationalem Interesse", heißt es.
Bolsonaro selbst hatte im April 2017 verkündet: "Nicht ein Zentimeter wird mehr als indigenes Schutzgebiet demarkiert", sollte er zum Präsidenten gewählt werden. Die von der Verfassung von 1988 vorgeschriebenen neuen Ausweisungen der indigenen Gebiete als rechtlich geschützte Territorien (Terra Indígena) sind unter seiner Regierung entsprechend auf null zurückgegangen.
Laut dem Obersten Gerichtshof stehen internationale, von Brasilien unterschriebene Rechtsverträge unterhalb der Rechtsgültigkeit der Verfassung des Landes, aber oberhalb jedweden Gesetzes.
Dies würde im Fall verschiedener Gesetzesinitiative bedeuten, dass das in den Artikeln 6 und 7 der ILO-Konvention 169 festgelegte Recht auf freie, vorherige und informierte Konsultation und Zustimmung sie verhindern könnte. Etwa das PL 490, das eine Stichtagsregelung vorsieht, um die juristischen Abläufe der Demarkationsprozesse indigener Territorien im Sinne der Interessen der Agrarlobby anzupassen. Oder die beiden auch "Landraubgesetze" genannten Vorhaben, die die illegale Aneignung von Land nachträglich für rechtmäßig erklären sollen. Und Bolsonaros PL 191, das Bergbau, Wasserkraft und industrielle Landwirtschaft in indigenen Territorien legalisieren soll.
In Artikel 6 heißt es: "Die in Anwendung dieses Übereinkommens vorgenommenen Konsultationen sind in gutem Glauben und in einer den Umständen entsprechenden Form mit dem Ziel durchzuführen, Einverständnis oder Zustimmung bezüglich der vorgeschlagenen Maßnahmen zu erreichen."
Wenn ein künftig vom Kongress beschlossenes Gesetz zur Inwertsetzung indigener Territorien durch industrielle Landwirtschaft, Bergbau und Staudämme in Konflikt mit der ILO-Konvention 169 zu kommen droht, wäre es für Bolsonaro und die Agrarlobby wichtig, dass Brasilien vorher aus der Konvention ausgetreten ist.
Dreh- und Angelpunkt im Streit zwischen wirtschaftlichen Interessen und den Schutzinteressen der indigenen Völker ist die Frage der in Artikel 6 genannten zu erreichenden "Zustimmung" und wie die "Konsultation" im Einzelnen auszusehen hat.
Projektbetreiber und die Regierungen unterschiedlicher politischer Couleur in Brasília meinen meist, dass es reicht, Konsultationen in Form von Anhörungen durchzuführen. So ist es bei allen bisherigen Großinfrastrukturprojekten und Bergbaugenehmigungen geschehen. Die Anhörungen hatten weder den Charakter einer freien, vorherigen und informierten Befragung, noch liefen sie "in gutem Glauben" ab und eine Abstimmung war nicht vorgesehen.
Indigene Völker wie auch UN-Gremien und die ILO stehen klar auf dem Standpunkt, dass die Konvention die freie, vorherige und informierte Zustimmung vorschreibt, im Einklang mit der UN-Erklärung der Rechte der Indigenen Völker, insbesondere, wenn ihre Territorien und Lebensgrundlagen betroffen sind oder ein Projekt ihre Umsiedlung vorsieht.
Das setzt voraus, dass zuvor echte Konsultationen in gutem Glauben stattgefunden haben. Nach Meinung von Indigenen, internationalen Rechtsexpert:innen und Menschenrechtsorganisationen sind Konsultation, Partizipation und Zustimmung gleichermaßen Grundbedingung ihres Rechtsschutzes. Ein Projekt kann demnach nicht durchgeführt werden, wenn die Betroffenen ihre Zustimmung nicht geben. Brasiliens Rechtssprechung hat dies aber bislang noch nicht entsprechend anerkannt.
Bleibt die Frage, ob Bolsonaro und die Agralobby den angestrebten Austritt Brasiliens aus der ILO 169 bewerkstelligen können. Dazu bedarf es der Zustimmung der zwei Kammern des Kongresses, aber da sich nun die mächtige Farmer:innenlobby dafür stark macht, wird es schwierig sein, dies zu verhindern.