Chile / Politik

Verfassungskonvent von Chile beschließt erste Artikel der neuen Verfassung

Plurinationale Vorstellungen und Schutzbestimmungen gegen Auswirkungen von Freihandelsabkommen in Arbeit

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Beifall nach dem Votum: "Chile ist ein plurinationaler und interkultureller Staat"
Beifall nach dem Votum: "Chile ist ein plurinationaler und interkultureller Staat"

Santiago. Ein halbes Jahr nach seiner konstituierenden Sitzung hat der chilenische Verfassungskonvent die ersten Artikel für den Entwurf einer neuen Verfassung beschlossen. Besonders die Überschrift des Kapitels für Justiz hat öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Im neuen Vorschlag wird von "Justizsystemen", statt nur von einem Justizsystem gesprochen. Dies deutet auf einen plurikulturellen Verfassungsentwurf und damit auf eine stärkere Anerkennung indigener Völker hin.

Erst Anfang Februar endete die Frist zur Einreichung von Diskussionsvorschlägen für die Verfassungsreform. Fast eine Million Menschen unterstützten verschiedenste Eingaben, von denen nun im weiteren Verlauf 77 im Plenum diskutiert werden. Etwa 2.300 Vorschläge erreichten nach Angaben des Konvents nicht die erforderliche Zahl von 15.000 Unterstützern für eine Diskussion. Es ist das erste Mal in der chilenischen Geschichte, dass eine Verfassung unter Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten erarbeitet wird.

Im Januar begann im Konvent und in den dazu gebildeten Kommissionen die Redaktion des Textes, der die Grundlage für die neue Magna Carta des Landes bilden könnte. 154 gewählte Vertreter werden zum Beispiel über Arbeits- und soziale Rechte, staatliche Souveränität trotz Freihandelsverträgen und über das Recht auf staatliche Bildung und deren Verankerung in der Verfassung abstimmen. Mit einer Zweidrittelmehrheit angenommene Textvorschläge werden Teil des Entwurfs einer neuen Verfassung, über den die Bevölkerung am Ende des Prozesses abstimmen wird.

Ende Januar geriet eine Entscheidung der sogenannten Kommission für das politische System in die Schlagzeilen, als Chile in der angenommenen Regelung Nummer 94-1 im Entwurf zum "plurinationalen und interkulturellen Staat" erklärt wurde. Das würde bedeuten, dass die indigenen Völker Chiles, wie die Mapuche oder die Aimara, ein Recht auf Selbstbestimmung und Selbstverwaltung erhielten. Zudem müsste der Staat sicherstellen, dass in seinen Verwaltungsorganen und Institutionen die anerkannten indigenen Völker politisch repräsentiert werden.

"Sicherung der Souveränität der Völker in Freihandelsabkommen" heißt eine Eingabe, die darauf abzielt, Schutzmechanismen gegen die negativen Folgen solcher Vereinbarungen  zu schaffen. Freihandelsabkommen seien eine der Säulen des neoliberalen und extraktivistischen Modells, das im Streben nach ständiger Steigerung der Profite der internationaler Unternehmen immer nur Enteignungen hervorgebracht hätte, so die die Begründung für die Notwendigkeit schützender Bestimmungen.

Eine neue Verfassung für Chile und eine Ablösung der Verfassung von 1980, welche von Vertrauten des Diktators Augusto Pinochet geschrieben wurde, war eine der großen Forderungen der Protestbewegung, die seit Oktober 2019 die Straßen des Landes flutete. Bei einem Referendum am 25. Oktober 2020 stimmte eine überwältigende Mehrheit für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Das allgemeine Interesse in der Bevölkerung an den Diskussionen des Konvents ist riesig. Ebenso hart werden jedoch auch die Auseinandersetzungen um den Inhalt der neuen Magna Carta geführt. Vor allem aus dem rechten Lager werden immer wieder polemische Verunglimpfungen über den Konvent und seine Arbeit über die sozialen Netzwerken oder die Presse verbreitet.

Durch die Zweidrittelmehrheit der parlamentarischen Opposition und der unabhängigen Vertreter bietet der Verfassungskonvent zum ersten Mal seit langem die Möglichkeit für große Veränderungen der Gesellschaft, da die Rechtskonservativen und die Pinochet-Anhänger über keine Sperrminorität verfügen.

Zahlreiche Reformprojekte der neu gewählten Linksregierung von Gabriel Boric sind zudem nur nach einer Verfassungsreform durchführbar. Wie der zukünftige Leiter des Generalsekretariats der Präsidentschaft Giorgio Jackson erklärt, könnten etwa die Gesundheitsreform, die Reform der sexuellen und reproduktiven Rechte sowie einige arbeitsrechtliche Normen unter der aktuellen Magna Carta für verfassungswidrig erklärt werden.