Brasilien / Soziales

Zensus 2022/23: Brasilien wächst langsamer, hoher Wohnungsleerstand

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Informationsarbeit des Instituts, das den Zensus erhoben hat
Informationsarbeit des Instituts, das den Zensus erhoben hat

Brasília. Das Brasilianische Institut für Geographie und Statistik (IBGE) hat die Ergebnisse der 2022 durchgeführten Volkszählung veröffentlicht. Demnach wies Brasilien zum Stichtag eine Bveölkerung von 203 Millionen Menschen (genau 203.062.512) auf, was zwar rund 12,5 Millionen Einwohner:innen mehr als 2010, aber weit weniger als zuvor prognostiziert sind. Der Zensus war zweimal verschoben worden, 2020 aufgrund der Corona-Pandemie, 2021 aufgrund der Budgetkürzungen der damaligen Regierung von Jair Bolsonaro. Nun wurden die Daten über den Zensus, dem sich etwa 4 Prozent der Bevölkerung verweigerten, zum 1. August 2022 erhoben. 

Die Bevölkerung Brasiliens ist damit um 6,5 Prozent gewachsen, was einer Jahresquote von 0,52 Prozent entspricht. Dies ist der geringste Jahreszuwachs seit 1872, als der erste Zensus durchgeführt wurde, erklärt Luciano Duarte, technischer Koordinator des Zensus beim IBGE. "Das Wachstum verlangsamt sich seit den 1960er-Jahren, in der Dekade 2010 bis 2022 betrug es jährlich noch 1,17 Prozent".

Die Erhebung über den Wohnungsstand ergab zudem brisante Zahlen: 18 Millionen private Häuser und Wohnungen werden nicht durchgehend genutzt, 11,4 Millionen davon stehen ganz leer, was wiederum 13 Prozent der gesamten Immobilien des Landes entspricht (2010 waren es 9 Prozent). Allein im Bundesstaat und in der Stadt São Paulo zählte das IBGE mehr als 2,5 Millionen Leerstände.

Insgesamt stehen damit fast doppelt so viele Häuser und Wohnungen leer, als benötigt werden. Das landesweite "Wohnungsdefizit" ("deficit habitacional") beläuft sich nach Untersuchungen der Stiftung João Pinheiro auf mehr als 5,9 Millionen Wohnungen. Für die Koordinatorin der Bewegung Obdachloser Arbeiter:innen (Movimento dos Trabalhadores Sem-Teto, MTST), Débora Lima, ist das ein offensichtliches Zeichen, dass der "derregulierte brasilianische Immobilienmarkt" nicht in der Lage ist, Angebot und Nachfrage in ein Gleichgewicht zu bringen.

Die Bevölkerungsentwicklung weist dabei starke, wirtschaftsgebundene Unterschiede in den Regionen auf, die auch Folgen für die Politik mit sich bringen. Der Südosten (84,8 Mio. Menschen, 41,8 Prozent der Gesamtbevölkerung) und der Nordosten (54,6 Mio. Menschen, 26,9 Prozent der Gesamtbevölkerung) blieben die bevölkerungsreichsten Regionen, wuchsen aber unter dem Durchschnitt. Im Süden wohnten 29,93 Mio. Menschen (Jahreszuwachs 0,78 Prozent), im Norden 17,3 Mio. Menschen (Jahreszuwachs 0,75 Prozent). Der Mittlere Westen ("Centro-Oeste") blieb mit 16,3 Millionen die bevölkerungsärmste Region Brasiliens, wies mit jährlich 1,2 Prozent aber den mit Abstand größten Zuwachs aller Regionen auf.

Das spiegelt sich auch bei den Großstädten wider. Nach São Paulo mit 11,4 und Rio de Janeiro mit 6,2 Millionen Menschen ist Brasília mit 2,82 Millionen Menschen nun die drittgrößte Stadt Brasiliens. Die Bundeshauptstadt wuchs in den vergangenen 12 Jahren um 9,5 Prozent. Dahinter kommen die beiden Nordost-Metropolen Fortaleza (2,42 Mio.), Salvador (2,41 Mio., 2010 bis 2022 um 9,6 Prozent geschrumpft) und Belo Horizonte mit 2,32 Millionen Menschen (2,5 Prozent Rückgang). Während insgesamt 8 der 27 Landeshauptstädte an Bevölkerung verloren, verbuchten andere ein überdurchschnittliches Wachstum.

Dabei handelt es sich um Städte, die vom Agrobusiness und seinen extraktivistischen Geschäften geprägt sind: Manaus mit 14,5 Prozent Zuwachs auf 2,06 Mio., Goiânia mit 10,4 Prozent Zuwachs auf 1,43 Mio., Campo Grande mit 14,1 Prozent Zuwachs auf 898.000, Cuiabá mit 17,6 Prozent Zuwachs auf 651.000 und Boa Vista (im nördlichen Roraima) mit 45 Prozent Zuwachs auf 413.000 Einwohner:innen.

So ist es kaum verwunderlich, dass der von Agrobusiness und Extraktivismus dominierte Mittlere Westen die einzige Region darstellt, in der alle Hauptstädte (inkl. Brasília) deutlich gewachsen sind. Laut Expert:innen liegen die Gründe hierfür zum einen darin, dass diese Städte noch Flächen für urbanes Wachstum aufweisen. Zum anderen treibt die Expansion des krisenfesten Agrobusinesses, das von Ex-Präsident Bolsonaro zudem gefördert worden war, den Bedarf an weiteren Arbeitskräften für Gewerbe und Dienstleistungen an. Zumeist hält allerdings der Ausbau von Infrastruktur und öffentlichen Dienste oft nicht Schritt mit dem demografischen Zuwachs.