Brasilien: Trotz Urteil des Obersten Gerichtshofes stimmt Senat für "Marco Temporal"

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Indigene Gemeinschaften protestieren in Brasília gegen die Stichtagsregelung "Marco Temporal"
Indigene Gemeinschaften protestieren in Brasília gegen die Stichtagsregelung "Marco Temporal"

Brasília. Am 27. September hat der brasilianische Senat den Gesetzentwurf PL 2903/2023 (Marco Temporal) verabschiedet, der eine Neuregelung für den Zugang zu indigenen Gebieten vorsieht. Die Gemeinschaften sollen in Zukunft nur noch Anspruch auf Territorien haben, wenn sie nachweislich vor dem Stichtag des 5. Oktober 1988 bereits dort gelebt haben ‒ dem Tag, an dem die Verfassung in Kraft trat. Artikel 231 der Verfassung schreibt den Schutz der indigenen Gebiete vor und sieht ihr dauerhaftes und exklusives Nutzungsrecht für die Gemeinschaften vor.

Das Vorhaben ignoriert unter anderem die kontinuierliche Vertreibung von Indigenen vor 1988 und gilt daher Vielen als verfassungswidrig.

Tritt es in Kraft, dürfte der Prozess des Landverlusts und der Vertreibung der Indigenen aufgrund der Interessen und Macht des Agrobusiness weiter vorangetrieben werden. Der Marco Temporal-Entwurf umfasst unter anderem die Erleichterung des Kontakts mit isoliert lebenden Völkern, die Möglichkeit der Warenproduktion, den Bau von Infrastruktur und den Anbau von transgenem Saatgut innerhalb der indigenen Gebiete wie auch die Flexibilisierung des vorgeschriebenen Konsultationsprozesses.

Von den 43 Stimmen für das Projekt kamen 35 von Senatoren der Parlamentarischen Front der Landwirtschaft (Frente Parlamentar da Agricultura, FPA). Das heißt, 81 Prozent der Stimmen kamen von Parlamentarier:innen mit Bezug zur Agrarindustrie. Es wiederholte sich das Phänomen, das bereits vor vier Monaten bei der Behandlung des Themas im Abgeordnetenhaus deutlich wurde: Die FPA errang dort 76 Prozent der Stimmen zugunsten des Marco Temporal.

Das Gesetzesprojekt war indes am 21. September nach zweijährigem Verfahren vom Obersten Gerichtshof mit neun zu zwei Stimmen abgelehnt worden. Der STF urteilte, dass die Stichtagsregelung des "Marco Temporal" gegen die Verfassung verstößt. Der Gerichtshof erklärte zudem, dass Landbesitzer, die indigenes Land "in gutem Glauben" besetzt haben, in einem von der Demarkierung getrennten Verfahren entschädigt werden sollen.

Im Rahmen eines Dringlichkeitsverfahrens stimmte der Senat dennoch am selben Tag über den PL 2903 ab, der schließlich mit 43 Ja- und 21 Nein-Stimmen angenommen wurde.

Die juristische Koordinatorin der FPA, Caroline de Toni, stellte die Legitimität des Gerichtshofs in Frage und drohte den indigenen Völkern. "Die Marco Temporal-Entscheidung [des STF], die das Privateigentum relativiert und eine immense Rechtsunsicherheit erzeugt, wird ein Blutbad auf dem brasilianischen Land bringen. Wir haben Tausende und Abertausende Bauernfamilien, denen ihr Land enteignet wird, ohne Anspruch auf Entschädigung. Und sie wollen keine Entschädigung, sie wollen auf dem Land bleiben", sagte sie.

Der Dachverband der brasilianischen Indigenen Völker (Apib) betont, dass die Haltung des Senats einen Affront gegen den Gerichtshof darstelle, um den Interessen von Agrarindustrie und Politikern zu dienen, die im direkten Zusammenhang mit der Invasion indigener Gebiete stehen, wie im Dossier "Os invasores" von der Beobachtungsstelle für das Agrobusiness in Brasilien publik gemacht wurde. Demnach besitzen Vertreter:innen des Nationalkongresses und der Exekutive rund 96.000 Hektar Land, das sich mit indigenen Territorien überschneidet. Darüber hinaus bekamen viele von Ihnen Zuwendungen von Landwirt:innen, die in indigene Territorien eindrangen und insgesamt 3,6 Millionen Reis (rund 700.000 Euro) für den Wahlkampf der Kandidat:innen des Agrobusiness spendeten.

Apib richtete nun zusammen mit anderen Organisationen der Zivilgesellschaft einen dringenden Appell an die Vereinten Nationen, in dem sie die drohenden Verstöße anprangerten, wenn PL 2903 nicht vollständig abgelehnt würde. Von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva fordern sie, das Gesetz über den "Marco Temporal" zu stoppen.

Der Gesetzentwurf wird derzeit vom Präsidenten analysiert. Er hat bis zum 18. Oktober Zeit, ihn zu genehmigen oder ein Veto (ganz oder teilweise) einzulegen.