"Camp der Hoffnung" in Brasilien: Indigene besetzen die Hauptstadt

Indigene versichern Präsident Lula "kritische Unterstützung". Kampf um Demarkierung geht weiter. Gespräch mit Apib-Koordinator Dinamam Tuxá

brasilien_camp_terra_livre_2023.jpg

Eine Hauptforderung beim Camp war die Demarkierung indigener Territorien
Eine Hauptforderung beim Camp war die Demarkierung indigener Territorien

Seit 19 Jahren treffen sich Indigene aus ganz Brasilien in ihrem Aktionsmonat, dem sogenannten "Indigenen April", einige Tage lang in der Hauptstadt Brasília. Was mit wenigen Hundert Teilnehmer:innen begann, ist mittlerweile zur weltweit größten Versammlung von Indigenen geworden. Auch in diesem Jahr kamen Ende April rund 6.000 Indigene in Karawanen (meist per Bus) aus allen, oft weit entfernten Landesteilen zusammen, um in der Hauptstadt ihre Forderungen sichtbar zu machen. Sie verkünden: die indigene Zukunft ist heute und verordnen Klimanotstand.

Dabei geht es auch um Präsenz zeigen im unmittelbaren Sinne, denn das "Camp Land und Freiheit" (Acampamento Terra Livre, ATL) wird ganz in der Nähe von Brasiliens politisch-institutionellen Machtzentrum errichtet: Zwischen dem Nationaltheater und dem Beginn der sogenannten Monumentalachse, an dem sich die Ministerien, die Kongressgebäude und der Präsidentenpalast aneinander reihen.

Die zentrale Forderung der Indigenen ist die Einrichtung von weiteren Schutzgebieten. Diese hatte Ex-Präsident Jair Bolsonaro, der Indigene als "unproduktive Bevölkerung" betrachtete, explizit ausgesetzt. Zu seiner "anti-indigenen Agenda" gehörte auch die These des "Marco Temporal" (zeitlicher Rahmen). Diese will den Anspruch auf eigene Schutzgebiete nur dann anerkennen, wenn die Gemeinschaften bereits vor der im Oktober 1988 verkündeten demokratischen Verfassung dort lebten.

Organisiert wird die Versammlung durch die Apib, den Dachverband der indigenen Völker Brasiliens, der rund 300 Gemeinschaften repräsentiert.

Die indigene Bewegung und die Apib sind heute auch Teil der Regierung von Luiz Inácio Lula da Silva. Seit Jahresbeginn nehmen erstmals auch indigene Anführer:innen exekutive Positionen ein: Am prominentesten Sônia Guajajara als Bundesministerin für Indigene Völker im neu geschaffenen Ministerium, in dem Staatssekretäre, Abteilungsleiter:innen und die meisten Mitarbeiter:innen aus der Bewegung kommen; Joenia Wapichana als Präsidentin der Schutzbehörde Funai (Fundação Nacional dos Povos Indigenas) und Weibe Tapeba als Leiter des Sekretariats für Indigene Gesundheit.

Am Eröffnungstag des Camps fand ein Marsch durch das Regierungsviertel zum Parlamentsgebäude statt, um gegen die "anti-indigene Agenda" im Parlament zu demonstrieren, die die Rechte der indigenen Völker und die Umwelt auf vielfältige Weise bedroht. Aktuell werden mehr als 100 Gesetzentwürfe und Anträge in beiden Häusern des Kongresses behandelt, die deren verfassungsmäßige Rechte in Frage stellen. Meist geht es diesen Vorhaben darum, das Recht auf Demarkierung von indigenem Land einzuschränken. Allein im Jahr 2017 wurden 848 anti-indigene Anträge bearbeitet; von 2015 bis 2017 kam es zu 1.930 Gesetzgebungsinitiativen gegen die Ansprüche indigener Völker.

Es gibt aber auch Gegeninitiativen: In einer parteiübergreifenden parlamentarischen "Front zur Verteidigung der Rechte der indigenen Völker" haben sich vor kurzem 205 Abgeordnete zusammengefunden. Mit einer Abordnung des ATL wurde dies im Abgeordnetenhaus gebührend gefeiert. Das Plenum war dabei überwiegend von Indigenen besetzt.

Die Front wird von der indigenen Abgeordneten Celia Xacriabá aus Minas Gerais geleitet, auch Prominente wie der Regierungsführer im Senat, Rondolfe Rodrigues aus Amapá, und vereinzelte Oppositionsabgeordnete gehören dazu. Sie unterstützt die Indigenen bei ihrem Kampf gegen anti-indigene Gesetzentwürfe, die den Bergbau auf von ethnischen Gruppen besetztem Land erlauben, Landraub legalisieren oder versuchen, die These des Marco Temporal zu legitimieren.

Das ATL ist aber auch ein Ort des Austausches untereinander. Indigene aus circa 200 Völkern und vielen verschiedenen Biomen treffen zusammen, lernen einander kennen, vernetzen sich, singen und feiern miteinander. Mittlerweile sind die jungen Indigenen oder Gruppen wie Indigene Frauen oder LGBTQ+ sehr präsent. Das Programm und die Themen waren vielfältig, immer wieder nahmen Parlamentarier:innen, Politiker:innen und Vertreter:innen staatlicher Einrichtungen (Bürgerbeauftragte, Pflichtverteidiger:innen, Staatsanwaltschaft, mehrere Bundesministerien) teil, die sich der Indigenen Sache verpflichtet fühlen.

brasilien_lula_demarikerung_indigener_gebiete_4-23.jpg

Ministerin Guajajara (li.), Präsident Lula und Funai-Präsidentin Wapichana im Camp. Lula unterzeichnete ein Dekret zur Demarkierung von sechs indigenen Territorien
Ministerin Guajajara (li.), Präsident Lula und Funai-Präsidentin Wapichana im Camp. Lula unterzeichnete ein Dekret zur Demarkierung von sechs indigenen Territorien

Auch Staatspräsident Lula da Silva, der seit Amtsantritt wiederholt von Brasiliens historischer Schuld gegenüber seinen Ureinwohner:innen sprach, besuchte das Camp am letzten Tag. Er versicherte den Anwesenden seine Solidarität mit ihren Anliegen und ordnete die Demarkierung von sechs Territorien an. Sie liegen in Acre, Amazonas, Ceará, Goiás und Rio Grande do Sul, Ceará und Amazonas und warteten meist seit vielen Jahren auf eine präsidiale Unterschrift.

Die Apib wies darauf hin, dass acht weitere Territorien bereits unterschriftsreif demarkiert seien und auf Vollzug warteten. Daneben gebe es mehr als 1.000 Territorien, die von indigenen Völkern beansprucht werden. "Wir werden nicht aufhören zu kämpfen, bis wir jedes einzelne von ihnen erobert haben", so die Apib.

Wie amerika21 bereits berichtete, unterzeichnete Lula auch Dekrete, mit denen der Nationale Rat für Indigenenpolitik geschaffen und der Verwaltungsausschuss für die Nationale Politik zur Verwaltung des Territoriums und der Umwelt indigener Gebiete reaktiviert wurden.

Ein Teil der neuen zusätzlichen Mittel für die Funai soll den Yanomani-Gemeinschaften zu Gute kommen. Im Hinblick auf die versprochene Null-Abholzungsstrategie für das brasilianische Amazonasgebiet (bis 2030) versprach er, die Regierung werde hart arbeiten, um so viel indigenes Land wie möglich abzugrenzen. Verschiedenen Studien zufolge gelten Indigene, die seit langem auf den Klimanotstand hinweisen, als die besten "Hüter des Waldes".

Beim ATL-Camp wurde Präsident Lula ein Dokument übergeben, in dem ihm "kritische Unterstützung" versichert wurde. Die Indigenen pochen zugleich auf ihre Autonomie, verlangen neue Demarkierungen, um sich vor den Invasionen schützen zu können, und die Ablehnung der anti-indigenen Agenda im Parlament und in der Justiz, die ihre Rechte und die der Umwelt bedrohen. Auch das Datum der nächsten Mobilisierung steht bereits fest: 7. Juni, wenn das Oberste Bundesgericht seine Beratungen zur Rechtmäßigkeit des Marco Temporal fortsetzt.

amerika21 sprach mit Dinamam Tuxá, einer der Koordinatoren der Apib und Rechtsberater für den Verband indigener Völker und Organisationen des Nordostens, Minas Gerais und Espírito Santo .

Welche Bedeutung hat das ATL-Camp, das nunmehr zum 19. Mal stattfindet?

Das Thema des diesjährigen ATL ist "Indigene Zukunft ist heute. Ohne Demarkierung keine Demokratie". Aber in diesem Camp gibt es eine neue Perspektive, denn es gab einen Regierungswechsel in Brasilien und dies ist eine Regierung, die wir mitgewählt haben. Eine Regierung, die wir als Teil des Übergangsteams mit aufgebaut haben. Wir haben auch innerhalb der Institutionen des brasilianischen Staates ein Ministerium geschaffen, ein Ministerium, das von indigenen Völkern gegründet und besetzt wurde.

Daher fühlt sich dieses ATL etwas anders an, gerade weil wir aus einem sehr gewalttätigen Prozess kamen. Und tatsächlich dauert dieser Prozess der Gewalt immer noch an, denn die Überreste, die von der vorherigen Regierung hinterlassen wurden, sind große Verwüstungen, die einige Zeit brauchen, bis wir diese Situation wieder rückgängig machen, auch die Gewalt, die von der vorherigen Regierung gefördert wurde.

Dieses ATL bekräftigt also nicht nur die Forderung, dass die derzeitige Regierung die Demarkierungen vollenden soll, sondern stärkt auch die indigene Politik. Es enthält damit einen Vorschlag zur Unterstützung des Wiederaufbaus Brasiliens, den sich die Regierung vorgenommen hat. Das Camp ist also ein Hoffnungslager. Ein Lager um zu zeigen, dass es in Brasilien gelingen wird.

Unsere Rolle als indigene Bewegung besteht darin, dafür zu sorgen, dass öffentliche Richtlinien respektiert werden und Demarkierungen stattfinden bis alle indigenen Gebiete abgegrenzt sind. So wird es in allen Camps stattfinden, bis garantiert wird, dass sich die Ureinwohner:innen in ihren Territorien aufhalten können und ihre Rechte gesichert sind.

Ich bin zum ersten Mal hier beim ATL und habe den Eindruck, dass es nicht nur um eine Besetzung geht, dass ihr euch nicht nur unter den Verwandten austauscht, sondern dass ihr auch mit der Politik verhandelt, in den Botschaften, mit der Bundesregierung.

Es ist ein Moment vieler Verbindungen. Wir nutzen die Tatsache aus, dass wir jetzt alle hier sind, dass es in Brasília eine massive Präsenz indigener Völker gibt. Wir sind 6.000 Indigene aus mehr als 150 verschiedenen Völkern. Jede und jeder mit ihrer oder seiner Besonderheit. Jede und jeder mit ihren und seinen Ansprüchen und einem gemeinsamen Anliegen: die Verteidigung der indigenen Völker. Und wir haben diese Gelegenheit genutzt, um sicherzustellen, dass diese Delegationen eine Agenda und politische Momente im Abgeordnetenhaus, im Bundessenat, in den Botschaften, in Funai, Sesai, jetzt im Ministerium für indigene Völker haben.

Damit alle in der Lage sind, ihre lokale oder regionale Realität einzubringen, damit alle sich der Institutionen bewusst werden und Maßnahmen zur Umsetzung von Politik erstellt werden, und dass die Gemeinschaft die Möglichkeit hat, gehört zu werden. Einige Gemeinschaften und Völker, die hier sind, haben bei sich nicht einmal Energie oder Internet. Die Informationen kommen zu spät oder sie haben nicht die Möglichkeit, sich zu äußern, mit Vertretern des Staats zu sprechen. Das Camp fördert also auch diese gemeinschaftliche Interaktion mit den Akteuren in Politik und Staat. Damit alle ihre Forderungen tatsächlich einbringen und alles präsentieren können, was die Gemeinschaft bedrückt, die Schwierigkeiten, die Wünsche. Insgesamt ist es eine außergewöhnliche Gelegenheit für die Gemeinschaften, ihre Forderungen vorzubringen und sie dem brasilianischen Staat vorzulegen.

Ihr habt Komiteés zum Klimawandel eingerichtet. Worum geht es dabei genau?

Das CIMC (Comite Indígena de Mudanca Climática) gab es schon. Leider wurde es nach dem Putsch von Michel Temer und der Wahl von Bolsonaro zerstört. Also nehmen wir uns diesen Raum zurück. Wir bringen den Klimawandel damit auf die Tagesordnung. Als die Welt noch nicht über den Klimawandel diskutierte, warnten die Ureinwohner:innen bereits davor. Also hatten wir einen Ausschuss. Es geht um einen Raum für die Diskussion über den Klimawandel nicht nur für Brasilien, sondern für die ganze Welt. Und jetzt haben wir mit der Regierung Lula die Gelegenheit, diesen Raum zu reaktivieren, die Diskussion auf stärker institutionalisierte Weise zu führen, ohne die Bewegung zu vergessen. Dieser Ausschuss ist ein gemischter Raum. Es ist ebenso die Zivilgesellschaft wie die Regierung. Es ist ein Raum, der einen institutionellen Charakter und eine gewisse Autonomie hat, weil er für und mit der indigenen Bewegung geschaffen wurde.

Die Apib betreibt außerhalb von Brasilien auch Advocacy- und Kampagnenarbeit sehr intensiv und wird dadurch als wichtiger Akteur anerkannt. Wie ist eure Beziehung zu brasilianischen Unternehmen wie Vale, zu Agrobusiness- oder Bergbauunternehmen?

Wir haben eigentlich keine Beziehung zu diesen Unternehmen. Wir machen Advocacy- und Aufklärungsarbeit, wir denunzieren, um den Kenntnisstand zu den Marktakteuren zu vergrößern. Hauptsächlich informieren wir die Finanziers und Unternehmen und Großkonzerne darüber, die Aktivitäten entwickeln wollen, die für unsere Völker und die Umwelt schädlich sind. Heute führen wir eine Diskussion im internationalen Bereich, in der wir genau diese Arbeit anprangern, diese Auswirkungen, die tatsächlich von großen Unternehmen und internationalen Konzernen verursacht werden. Einschließlich ihrer Lobbyarbeit beim Kongress, womit sie um jeden Preis versuchen, in indigenes Land einzudringen, um es räuberisch auszubeuten. Ohne irgendwelche Angaben zu machen. Ohne Dialog, ohne Respekt vor indigenen Völkern, ohne freie, vorherige und informierte Konsultationen (ILO-Konvention 169) zu respektieren.

In diesem Szenario richten wir uns hauptsächlich gegen das Agrobusiness, gegen den illegalen Bergbau und gegen das EU-Mercosur-Abkommen in seiner heutigen Form. Wir prangern diese Aktivitäten an, die unserer Ansicht nach oft rechtswidrig sind. Wir sind hier, um jede Art von schädlichen Aktivitäten gegen indigene Völker und die Umwelt zu bekämpfen.

Ihr sprecht viel über illegalen Bergbau. Aber es gibt auch den legalen wie bei Vale S.A.. Wie ist die Beziehung?

Es gibt keine Beziehung. Vale hat eine industrielle Bergbautätigkeit. Es folgt gewissermaßen einem Ritus des brasilianischen Staates, der aus unserer Sicht ebenfalls schädlich ist. Es ist nicht nachhaltig und muss sich an die neuen Realitäten anpassen, bei denen die Welt um Hilfe schreit. Die Welt bricht wegen der Klimaproblematik zusammen. Leider respektieren sowohl Vale als auch die anderen Bergbauunternehmen nicht die Rechte anderer. Eine ausgewogene Umwelt wird nicht respektiert. Diese Unternehmen achten nicht darauf. Es trifft die Vorsichtsmaßnahmen nicht. Vale do Rio Doce muss also, wie andere Unternehmen auch, anfangen, den Globus als Teil des Ganzen zu sehen. Und das nicht nur für ihre Interessen und ihr finanzielles Kapital. Wir müssen verstehen, dass diese (Art von) Bergbautätigkeit heute zu Verletzungen und Umweltschäden geführt hat und dass dies sofort rückgängig gemacht werden muss. Das heißt, die gesamte Menschheit wird in Gefahr sein, weil der eine oder andere die Rechte aller nicht respektiert.

Vielen Dank für das Gespräch!

Gern geschehen.