Argentinien / Politik

Heftige Debatten in Argentinien um Mileis Mega-Dekret

Das Credo ist Einschränkung von Arbeits- und Streikrecht. Unternehmertätigkeit und Markt sollen dereguliert werden. Juristische und parlamentarische Versuche, das Dekret zu Fall zu bringen

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Milei versammelte sein Kabinett zur Verkündung seines Dekrets
Milei versammelte sein Kabinett zur Verkündung seines Dekrets

Buenos Aires. Das vom argentinischen Präsidenten Javier Milei (La Libertad Avanza) erlassene Maßnahmenbündel zum "wirtschaftlichen Wiederaufbau" teilt die politischen Lager. Der Präsident hatte im Fernsehen und in den sozialen Netzwerden ein sogenanntes "Notwendigkeits- und Eildekret" (DNU - Decreto de Necesidad e Urgencia) verkündet, das rund 300 Vorschriften ändern und 300 ganz abschaffen würde.

Mit den Maßnahmen sollen einerseits die staatlichen Aufgaben und Kontrollen abgebaut sowie die Arbeitnehmerrechte eingeschränkt, andererseits die individuellen und Marktkräfte gestärkt werden.

Milei stellte den Maßnahmenkatalog in Anwesenheit seines Kabinetts im Präsidentenpalast Casa Rosada vor. "Der repressive Institutionen- und Rechtsrahmen, der unser Land zerstört hat", so Milei, müsse "aufgelöst und abgebaut" werden. Dementsprechend wird in dem so genannten Mega-Dekret ("decretazo") unter anderem der In- und Außenhandel dereguliert, die Mietbindung aufgehoben, Arbeitsrechte beschnitten und die Privatisierung öffentlicher Unternehmen angestrebt. Ziel sei es, "dem Einzelnen Freiheit und Autonomie zurückzugeben und sie dem Staat zu entreißen".

Mileis Verlesung des Dekrets dauerte rund 15 Minuten. Um die Schocktherapie zu rechtfertigen, rief der Präsident "den öffentlichen Notstand in wirtschaftlichen, finanziellen, steuerlichen, administrativen, Renten-, Tarif-, Gesundheits- und Sozialangelegenheiten" aus. Laut Milei seien die bisherigen Rezepte "fehlgeschlagen", ob "links, sozialistisch, faschistisch oder kommunistisch". Diese Doktrinen seien falsch, weil sie von der Prämisse ausgingen, "dass die Vernunft des Staates wichtiger ist als die Individuen, aus denen die Nation besteht". Milei betonte, dass Argentinien ein "konsolidiertes Defizit von 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts" (BIP) habe, die Zentralbank kaum Reserven. "Ein Land kurz vor dem Absturz", so Milei, "erfordert sofortiges Handeln."

Der Präsident listete 30 Bereiche auf, in denen Deregulierung und Privatisierung erfolgen sollen. Diese erstrecken sich von Miet- und Versorgungsangelegenheiten über Preiskontrollen bis zu Industrie-, Bergbau- und Handelsförderung. Milei kündigte an, dass "staatliche Unternehmen für ihre anschließende Privatisierung in Aktiengesellschaften umgewandelt" werden sollen. Der Staat werde sich auch aus der Beteiligung an der Fluglinie Aerolíneas Argentinas zurückziehen.

Die Einschränkung der Arbeitsrechte besteht unter anderem in der Verlängerung der Probezeit (auf bis zu acht Monate) und in dem Verbot von Betriebsblockaden, die als Kündigungsgrund gelten sollen. Da "die Beschäftigung bei sechs Millionen Arbeitsplätzen stagniert" und "ein Drittel der formellen Arbeitnehmer arm ist", brauche es laut Milei mehr Flexibilität. Das Streikrecht wird eingeschränkt, indem auch bei Streik die Hälfte der Produktion in den "als wesentliche Dienste geltenden Bereichen aufrecht erhalten werden muss". Als "wesentlich" werden große Teile der Wirtschafts- und Industrieproduktion sowie Dienstleistungen definiert, auch die Herstellung von Medikamenten, Transportdienste oder Radio und Fernsehen gehören dazu.

Beobachter sehen in Mileis Plan ein Update der neoliberalen Wirtschaftsreformen des peronistischen Präsidenten Carlos Menem (Amtszeit 1989 - 1999), dem nach Milei "besten Präsidenten der Geschichte Argentiniens". Die Finanzmärkte feierten das Dekret. Die Aktienkurse an der Börse von Buenos Aires stiegen bis zu 13 Prozent, das Länderrisiko für Argentinien sank um 20 Punkte.

Der argentinische Unternehmerverband AEA (Asociación Empresaria Argentina) lobte, dass "die übermäßige Größe des Staates im Verhältnis zum BIP" und "das hohe Staatsdefizit" angegangen würden. Er betonte, dass viele von Mileis Änderungsplänen von den Unternehmer:innen seit Jahren gefordert wurden. Man werde alles unterstützen, was "die Entwicklung des Privatsektors ermöglicht, der seit Jahren unangemessener staatlicher Einflussnahme, hohem Steuerdruck und willkürlichen Handelsbeschränkungen ausgesetzt ist".

China hat indes die zwischen Mileis peronistischem Vorgänger Alberto Fernández und seinem Amtskollegen Xi Jinping vereinbarte Aufstockung des Währungstausches (Swap) in Höhe von 6,5 Milliarden US-Dollar (amerika21 berichtete) ausgesetzt. Nachdem Milei angekündigt hatte, Beziehungen zur "kommunistischen Diktatur" abzubrechen, bleibe die Abmachung eingefroren, bis "fruchtbare Verhandlungen" zustande kämen. Mit dem Swap sollten Fälligkeiten beim Internationalen Währungsfonds (IWF) zur Rückzahlung des von Ex-Präsident Mauricio Macri aufgenommen Darlehens beglichen werden. Nach den jüngsten in US-Dollar geleisteten Rückzahlungen dürften die Reserven der Zentralbank weiter geschmolzen sein.

Gewerkschaften, soziale Bewegungen und politische Opposition machen derweil nicht nur auf der Straße (amerika21 berichtete), sondern auch juristisch gegen das Dekret mobil. Die Nichtregierungsorganisation Städtisches Rechtsobservatorium hat beim Bundesgericht für Verwaltungsstreitigkeiten gegen das Dekret wegen übermäßiger Ausübung präsidentieller Befugnisse eine gerichtliche Schutzanordnung beantragt. Die Eingabe, die von den Gewerkschaften der Selbständigen (CTAA) und staatlichen Angestellten (ATE) unterstützt wird, beantragt die "Nichtigkeit des Dekrets".

Viele Juristen betrachten das Dekret als verfassungswidrig, weil der Präsident ihm nicht zustehende Gesetzgebungsbefugnisse anstrebe.

"Die Aufhebung von 300 Gesetzen und die Änderung von 300 Gesetzen durch ein DNU ist ein Versuch des Machterweiterung, die durch Artikel 29 der Verfassung verboten ist", so der Verfassungsrechtler Andrés Gil Domínguez. "Es ist die Auslöschung des Kongresses als Herzstück der Demokratie".

Nach Meinung von Jorge Rizzo, ehemaliger Präsident der Anwaltsvereinigung von Buenos Aires, darf das Dekret Gesetze weder aufheben noch ändern, es lägen weder Bedarf noch Dringlichkeit vor. Auch Rizzo kündigte eine Klage an.

Unabhängig von der juristischen Beurteilung weisen Beobachter darauf hin, dass Mileis Dekret vor einem Hindernislauf im Kongress stehe, in dem die Opposition die Mehrheit hat. Nachdem es am Donnerstag im Amtsblatt veröffentlicht wurde, geht es bis Sonntag an die Zweikammerkommission für Gesetzgebungsverfahren. Das Gremium muss sich in zehn Werktagen gegenüber Senat und Abgeordnetenkammer äußern. Falls die Fristen verstreichen, müssen beide Kammern die Sache von Amts wegen erörtern, womit das politische Schicksal des Dekrets Mitte Januar entschieden würde.

Beide Kammern können das Dekret nur bestätigen oder aufheben, aber keine Änderungen oder Ergänzungen vornehmen. Mileis Dekret bleibt in Kraft, wenn sich keine Kammer entschließt sich damit zu befassen, oder wenn eine Kammer es genehmigt und die andere es ablehnt. Die Opposition um Linke und Peronisten will auf eine Ablehnung des Dekrets durch beide Kongresskammern hinarbeiten.

Die wichtigsten Gewerkschaftsverbände des Landes haben angekündigt, dass sie am Mittwoch zu den Gerichten marschieren werden, um das Mega-Dekret von Javier Milei abzulehnen. Für den Tag darauf haben sie einen landesweiten Streik und weitere Mobilisierungen gegen die Sparpolitik des neuen Präsidenten angesetzt.