Zum Jahrsbeginn 2025 erlauben wir uns, wieder den uruguayischen Journalisten und Schriftsteller Eduardo Galeano (1940-2015) zu zitieren.
Der große Chronist der Geschichte Lateinamerikas begründete mit der Aussage "Europa sah die Welt durch einen Blick in den Spiegel. Dahinter: Nichts" einen neuen Blick auf den Kolonialismus und die Gesellschaften, die sich aus diesen Zuständen befreien. Über die Aktualität dürfen die heute Lebenden selber nachdenken.
Europa ist alles
Als Kopernikus im Sterben lag, veröffentlichte er das Buch, das die moderne Astronomie begründete.
Drei Jahrhunderte zuvor hatten die arabischen Wissenschaftler Muhajad al-Urdi und Nasir al-Tusi Theoreme aufgestellt, die für die Entwicklung dieses Werks wichtig waren.
Kopernikus verwendete sie, zitierte sie aber nicht.
Europa sah die Welt durch einen Blick in den Spiegel.
Dahinter: Nichts.
Die drei Erfindungen, die die Renaissance ermöglichten, der Kompass, das Schießpulver und der Buchdruck, kamen aus China.
Die Babylonier hatten Pythagoras fünfzehnhundert Jahre zuvor vorausgesagt.
Lange vor allen anderen wussten die Hindus, dass die Erde rund ist, und hatten ihr Alter berechnet.
Und viel besser als alle anderen kannten die Maya die Sterne, die Augen der Nacht und die Geheimnisse der Zeit.
Solche Kleinigkeiten waren es nicht wert, beachtet zu werden.
(106)
Süden
Die arabischen Karten zeigten noch den Süden oben und den Norden unten, aber im 13. Jahrhundert hatte Europa die natürliche Ordnung des Universums wiederhergestellt.
Gemäß den Regeln dieser von Gott diktierten Ordnung befand sich der Norden oben und der Süden unten.
Ihnen gefällt, was Sie lesen?
Das freut uns. Unterstützen Sie unsere Arbeit. Regelmäßige Spenden helfen uns, das Projekt amerika21 nachhaltig aufzustellen.
Die Welt war ein Körper. Im Norden befand sich das saubere Gesicht, das zum Himmel aufblickte. Im Süden befanden sich die unteren, schmutzigen Teile, der Dreck und die dunklen Wesen, genannt Antipoden, die das umgekehrte Bild der hellen Bewohner des Nordens waren.
Im Süden flossen die Flüsse rückwärts, der Sommer war kalt, der Tag war Nacht und der Teufel war Gott. Der Himmel, schwarz, war leer. In den Norden waren die Sterne geflohen.
(106/107)
Gebieterin der Meere, Königin des Drogenhandels
Der Verkauf von Menschen war das lukrativste Geschäft des britischen Empire gewesen. Aber wie man weiß, ist das Glück nicht von Dauer. Nach drei Jahrhunderten des Wohlstands musste sich die Krone aus dem Sklavenhandel zurückziehen und der Verkauf von Drogen wurde zur lukrativsten Quelle des imperialen Ruhms.
Königin Victoria hatte keine andere Wahl, als die verschlossenen Türen Chinas aufzustoßen. Auf den Schiffen der Royal Navy begleiteten Missionare Christi die Krieger des Freihandels. Hinter ihnen kamen die Schiffe, die zuvor Schwarze transportiert hatten und nun Gift geladen hatten.
In der ersten Phase des Opiumkrieges eroberte das britische Empire die Insel Hongkong. Der neue Gouverneur, Sir John Bowring, erklärte:
"Freihandel ist Jesus Christus und Jesus Christus ist Freihandel."
(204)
Amerika nach Humboldt
Als das 19. Jahrhundert seine ersten Schritte machte, betrat Alexander von Humboldt Amerika und entdeckte dessen Inneres. Jahre später schrieb er:
* Über soziale Klassen: Mexiko ist das Land der Ungleichheit. Die ungeheure Ungleichheit von Rechten und Vermögen ist offensichtlich. Mehr oder weniger weiße Haut entscheidet über die Stellung, die ein Mensch in der Gesellschaft einnimmt.
* Über Sklaven: Nirgendwo schämt man sich so sehr, Europäer zu sein wie auf den Antillen, egal ob Franzose, Engländer, Däne oder Spanier. Darüber zu streiten, welches Land Schwarze besser behandelt, ist wie die Wahl zwischen erstochen oder gehäutet werden.
* Über die Indios: Unter allen Religionen verdeckt keine das menschliche Unglück so sehr wie die christliche Religion. Wer die unglücklichen, der Peitsche der Ordensbrüder unterworfenen Amerikaner besucht, wird von den Europäern und ihrer Theokratie nie mehr etwas wissen wollen.
* Über die Expansion der Vereinigten Staaten: Die Eroberungen der Nordamerikaner ekeln mich zutiefst an. Ich wünsche Ihnen das Schlimmste im tropischen Mexiko. Und es wäre am besten, wenn sie zu Hause blieben, statt ihre verrückte Sklaverei zu verbreiten.
(187)
Zitiert aus Galeanos Buch Espejos. Una historia casi universal (2008)