"Die Regierung hat Angst"

Ein Gespräch mit dem Oppositionspolitiker Alberto Acosta über Buen Vivir und die politische Zukunft Ecuadors

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Jana Flörchinger im Gespräch mit Alberto Acosta
Jana Flörchinger im Gespräch mit Alberto Acosta

Alberto Acosta, ecuadorianischer Ökonom und Politiker, gilt als scharfer Kritiker von Wirtschaftssystemen, die auf einer exportorientierten Ausbeutung von Rohstoffen basieren. Bekannt wurde er für die Verbreitung des Begriffs vom "Buen Vivir". Dieses Konzept bezieht sich auf Wertvorstellungen der indigenen Bevölkerung und kann mit "Gutes Leben" übersetzt werden. Es sieht nicht nur vor, die Natur zu schützen, sondern räumt ihr den Status einer Entität mit eigenen Rechten ein. Alberto Acosta wurde 2007 zunächst Minister für Energie und Bergbau und später Präsident der verfassungsgebenden Versammlung. Dieses Amt übte er bis 2008 aus.

Unter der Regierung Rafael Correa verankerte Ecuador als erstes Land weltweit eigene Rechte der Natur in der Verfassung, woran Acosta maßgeblichen Anteil hatte. Diese basieren sowohl auf traditionellen Werten der indigenen Bevölkerung als auch auf westlich geprägten Prinzipien wie universellen Menschen- und Völkerrechten. Die weltweit steigende Nachfrage nach Rohstoffen und der damit verbundene Preisanstieg führten dazu, dass viele Regierungen der rohstoffreichen Länder Lateinamerikas ihre Volkswirtschaften stärker auf den Export von Primärrohstoffen ausrichteten. Auch linke Regierungen verfolgen das Ziel, durch den Verkauf einheimischer Bodenschätze und Rohstoffe auf dem Weltmarkt die Wirtschaftsleistung zu steigern und eine gerechtere Verteilung der Staatseinnahmen zu ermöglichen.

Ein Vorwurf linker und umweltpolitischer Aktivisten an die Adresse der Regierungen in Bolivien, Ecuador und Venezuela lautet, sie würden dabei die Bedürfnisse von Minderheiten vernachlässigen und der neuen wirtschaftlichen Entwicklung keinen nachhaltigen Charakter geben. Stattdessen würden sie nur kurzfristige Lösungen für sozial-ökonomische Probleme präsentieren. Zudem führe dieses "extraktivistische Modell" zu Vertreibungen und schweren Umweltschäden.

Bei den letzten Präsidentschaftswahlen wählten 3,2 Prozent der Ecuadorianer Alberto Acosta als Spitzenkandidaten des Linksbündnis Unidad Plurinacional de las Izquierdas. Das Interview entstand Anfang September 2014 am Rande der Degrowth-Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Leipzig.


Als Rafael Correa 2007 Präsident Ecuadors wurde, haben Sie ihn unterstützt. Sie waren Minister für Energie und Bergbau und gelten als einer der Autoren der neuen Verfassung, die sich durch Buen Vivir, die Rechte der Natur und die Verankerung traditionell-indigener Werte auszeichnet. Was hat den Anfang der Präsidentschaft ausgezeichnet und was ist das Revolutionäre an der neuen Verfassung?

Alberto Acosta: Im Jahr 2005 begann eine Gruppe von Personen – unter ihnen der aktuelle Präsident und ich – auf Basis der Forderungen der sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte, den Vorschlag für eine tiefgreifende Transformation des Landes auszuarbeiten. Dafür war es notwendig, eine neue Verfassung auf den Weg zu bringen, welche die Grundlage für diese radikale Veränderung schafft. In den Jahren 2007 und 2008 wurde die Verfassung auf demokratischem Wege entwickelt, bevor sie dann von der Bevölkerung in einem Referendum bestätigt wurde.

Im Verfassungstext befinden sich viele Punkte, die nicht nur einen revolutionären, sondern einen zivilisatorischen Wandel bedeuten. Um nur einige wenige zu nennen: Die Rechte der Natur, Wasser als fundamentales Menschenrecht und das absolute Verbot es zu privatisieren, die Verankerung des "Buen Vivir" oder "sumak kawsay", die Etablierung eines plurinationalen Staates, die Stärkung kollektiver Rechte, die Verteilung des Landes und des Wassers, sowie das Verbot genetisch veränderter Organismen, das Verbot der Inwertsetzung von Umweltdienstleistungen und des Wissensschatzes unserer Vorfahren.

Mitte 2008 bist du vom Amt des Versammlungspräsidenten zurückgetreten und giltst heute als einer der schärfsten Kritiker der Regierung. Welche Gründe bewegten dich zu dieser Entscheidung?

Alberto Acosta: Die Gründe hierfür sind offensichtlich. Der aktuelle Präsident unterstützte die Verfassung mehr wie eine Sprosse auf dem Weg zur Festigung seiner Macht, als dass er sie umsetzen wollte. Zudem treibt er eine Modernisierung des Kapitalismus voran, keine Revolution. Es handelt sich um eine autoritäre Herangehensweise, die jeden Tag weiter von der radikalen Demokratie entfernt ist, die wir zu Beginn vorangetrieben haben.

Ab 2009 war offensichtlich, dass Correa die Verfassung nicht respektieren würde. Es reicht aus sich das Bergbaugesetz anzusehen, das offen verfassungsfeindlich ist. Später stieß er eine Volksbefragung an, um zu verhindern, dass sich eine unabhängige und eigenständige Justiz entwickelte – etwas, was es ohnehin nie in Ecuador gegeben hat und was deswegen von der Verfassung in Auftrag gegeben wurde. Und jetzt versucht er praktisch alle erreichten Fortschritte, wie die zuvor genannten und sogar die Bürgerrechte zum Schutz und zur Teilhabe, über den Haufen zu werfen.

Laut aktuellen Statistiken wächst die Wirtschaft in Ecuador, Bildungs- und Sozialpolitik machen Fortschritte und die Armutsrate sinkt1. Spricht das nicht für den aktuellen Kurs der Regierung?

Alberto Acosta: Man muss einige Aspekte der Regierung hervorheben. Die von euch genannten sind einige positive Punkte, die jedoch mit Blick auf die getätigten Investitionen und natürlich ihre Resultate auch wieder relativiert werden müssen. Die Reduktion der Armut fällt leider nicht mit der des Reichtums zusammen. Die Kluft des Reichtums zwischen Arm und Reich ist vielmehr noch gewachsen. Was heute besser verteilt wird, sind die reichlichen Einnahmen aus dem Erdölgeschäft, nicht der Reichtum. Correa, zum Beispiel, ist vollkommen gegen eine Agrarreform und eine Wasserverteilung.

Ohne die Fortschritte bestreiten zu wollen, ist es notwendig, an die enormen Mengen an Ressourcen zu erinnern, die der Regierung zur Verfügung stehen. Die steigenden Erdölpreise erklären zu einem großen Teil die guten Wirtschaftszahlen. In der gesamten Geschichte Ecuadors gab es keine Regierung, die so hohe Einkommen zu ihrer Verfügung hatte, wie die jetzige.

Die Regierung Correas betont, dass die Überwindung von Unterentwicklung und ungleicher Einkommensverteilung innerhalb der Bevölkerung derzeit nur durch die Förderung staatlicher Einnahmequellen möglich ist - inklusive des Ausbaus des Energiesektors und der damit verbundenen Ausfuhr nicht erneuerbarer Energie. Nur dadurch könnten die massiven Investitionen in das Bildungssystem und die Infrastruktur finanziert werden. Was hältst du von dieser Strategie?

Alberto Acosta: Das ist eine Täuschung. Um den Extraktivismus, der zu einem großen Teil Schuld an der sogenannten Unterentwicklung hat, zu überwinden, kann es nicht darum gehen, genau den gleichen Kurs noch zu vertiefen. Die Regierung schlägt vor, vermehrt auf Erdölförderung zu setzen, den Bergbau in großem Umfang einzuführen, den Anbau von Agro-Kraftstoffen auszuweiten, die Einfuhr von genveränderten Pflanzen zu erlauben und so weiter. All das, um den Extraktivismus zu überwinden. Das ist, als würde ein Arzt seinem schwer drogenabhängigen Patienten eine doppelte Dosis eben dieser Droge verabreichen, um ihn so von seiner Sucht zu heilen...

Deine Kritik am momentanen extraktivistischen Wirtschaftskurs wird von Seiten der Regierung als nicht konstruktiv kritisiert, da deine Vorschläge nicht unmittelbar umsetzbar seien. Was für Möglichkeiten siehst du für Regierungen des sogenannten globalen Südens, gerechtere Gesellschaften aufzubauen, ohne die natürlichen Ressourcen zu nutzen? Welche Alternativen zum heutigen extraktivistischen System Ecuadors würdest du vorschlagen?

Alberto Acosta: Zunächst muss klargestellt werden, dass es nicht um ein sofortiges abruptes Ende der Erdölförderung gehen kann. Das wäre überhaupt nicht möglich. Was jedoch nötig wäre, ist ein Ende der räumlichen Ausweitung der Förderung, ein Verbot des Bergbaus in großem Umfang, der Gentechnik sowie der Produktion von Lebensmitteln für Autos, also von Biokraftstoffen. Ausgehend von dieser politischen Entscheidung muss ein Veränderungsprozess angestoßen werden, der schlussendlich befähigt, eine postextraktivistische Wirtschaft aufzubauen. Den grundlegenden Anhaltspunkt für diesen Prozess muss die Verfassung von 2008 bieten, die jedoch von der Regierung nicht respektiert wird.

Wenn es dann aber keine Einnahmen mehr aus dem Extraktivismus gibt, woher soll dann das Geld kommen? Das ist eine sehr gute Frage. Anstatt weiter die Natur zu zerstören, was einer der direkten Gründe für die Armut ist, wäre es notwendig ein gerechteres und progressiveres Steuersystem einzuführen: Diejenigen, die mehr verdienen und mehr besitzen, müssen mehr beisteuern. Es muss eine Landreform vorangetrieben und das Wasser umverteilt werden. Es müssen die Strukturen der Produktion und des Konsums verändert werden. Und natürlich müssen wir uns fragen, welche Art von Bildungs- und Gesundheitssystem wir brauchen.

Als praktische Alternative zur Rohstoffausbeutung wurde die Yasuní-ITT Initiative angesehen und in vielen Kreisen auf der ganzen Welt gefeiert. Sie sah vor, die Erdölvorkommen der Amazonasregion im Erdboden zu belassen, um so die Biodiversität der Region zu wahren.2 Das wirtschaftliche Defizit sollte durch Ausgleichszahlungen der nördlichen Industriestaaten kompensiert werden, da hauptsächlich sie als für die weltweite Umweltverschmutzung verantwortlich gelten.3 Welche Bedeutung räumst du dem ursprünglichen Projekt, das nach ausbleibenden Zahlungen der führenden Industrienationen für gescheitert erklärt wurde4, ein?

Alberto Acosta: Zunächst muss festgestellt werden, dass es sich nicht um Kompensationen handelt. Das würde sich ja schon fast wie Erpressung anhören. Die Zahlungen oder Abgaben müssen vielmehr im Kontext einer Ökologiegerechtigkeit gesehen werden, die vom Prinzip der geteilten aber differenzierten und verteilten Verantwortung ausgeht. Die Länder, die sich sowohl durch die Ausbeutung und Zerstörung der Umwelt, als auch die Ausbeutung der restlichen Länder bereichern, haben eine größere Verpflichtung, zur Behebung der globalen Umweltprobleme beizutragen.

Die Yasuní-ITT Initiative, die aus der Zivilgesellschaft vor der jetzigen Regierung hervorging, erhielt Unterstützung aus weiten Sektoren der weltweiten Zivilgesellschaft, sogar aus Regierungen, so zum Beispiel aus der ersten Regierung von Angela Merkel.

Ihr Scheitern lässt sich mit der Blockadehaltung der mächtigen Interessen des transnationalen Kapitals erklären, die sicherlich von Erdölunternehmen angestoßen wurde, aus Angst, dieses Projekt könne auf der Welt Schule machen. Hier spielte Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in der zweiten Regierung Merkels, eine traurige Rolle. Und außerdem scheiterte das Projekt auch, weil die ecuadorianische Regierung keine klare politische Strategie hatte. Letztendlich war der Präsident, der ständig verworrene und widersprüchliche Signale von sich gab, dieser revolutionären Initiative nicht mehr gewachsen.

Jetzt sagt er uns, dass mit dem durch die Ausbeutung der Erdölvorkommen des Yasuni-ITT erwirtschafteten Gewinns die Armut in Ecuador beendet werde. Das ist einfach falsch. Die Armut wird dann verschwinden, wenn die übermäßige Konzentration des Reichtums grundlegend reduziert worden ist. Dazu ist es noch interessant zu wissen, dass die Regierung von diesem Erdöl Einnahmen von etwas weniger als 2 Milliarden Dollar im Jahr erwartet – ein Betrag, der innerhalb von 22 Jahren durch eine Heraufsetzung der Besteuerung der 110 größten Wirtschaftsgruppen des Landes um 1,5 Prozent ihrer hohen Einnahmen erreicht würde. Dies würde eine wirklich revolutionäre Regierung machen.

Welche Rolle spielt der "globale Norden" allgemein bei der noch immer bestehenden wirtschaftlichen Abhängigkeit des Südens und bei ihrer Überwindung?

Alberto Acosta: Die sogenannten Länder des Zentrums sind direkt für die Situation der peripheren Länder verantwortlich. Aus einer historischen Perspektive müssen wir die Schäden betonen, die durch die imperialen Prozesse von Eroberungen und Kolonisierung, die noch nicht zu Ende sind, hervorgebracht wurden. Selbst ihr perverser Einfluß durch Konsummodelle, die für die große Mehrheit der Bevölkerung dieses Planeten unerschwinglich sind, spielt eine zerstörerische Rolle. Die Art der Ausbeutung und Kontrolle über die natürlichen Ressourcen des "Südens" ist ein weiterer negativer Punkt. All das und viele weitere Elemente müssen als Teile des Kapitalismus analysiert werden, das ist der Kernpunkt.

Bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2013 und - trotz der Verluste der Alianza PAIS - bei den Kommunalwahlen diesen Jahres, wurde noch einmal die Zustimmung der ecuadorianischen Bevölkerung zum Kurs der Regierung deutlich5. Gleichzeitig wird an unterschiedlichen Punkten die Kritik an ihrem Kurs lauter. Wie schätzt du die Polarisierung der Debatten ein und was glaubst du wo sie hinführen wird?

Alberto Acosta: Bei den Präsidentschaftswahlen 2013 konnte die Regierung ihre Position festigen. Wir als Linke erlitten eine harte Niederlage. Die Situation bei den Kommunalwahlen sieht anders aus. Hier erlitt die Regierung eine Niederlage. Um nur zwei Zahlen zu nennen: Die Regierung verlor neun von zehn Bürgermeistern in den größten Städten Ecuadors, genauso wie die der Präfekturen der sechs Provinzen, in denen es großen Widerstand gegen den Extraktivismus gibt.

Das erklärt, warum die Regierung jetzt Angst davor hat, sich an den Urnen solchen transzendenten Entscheidungen, wie der, das Erdöl im Boden des Yasuni-ITT zu belassen, oder der unbeschränkten Wiederwahl betreffenden, zu stellen. In Ecuador gibt es keine wirkliche Debatte. Die Regierung lässt sie nicht zu. Das ist eine der Eigenschaften einer immer autoritäreren Regierung, die hartnäckig auf der Modernisierung des Kapitalismus besteht. Das ist die Essenz des "Caudillismo" des 21. Jahrhunderts.