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Grenze

Weder in unserer Gesetzgebung noch in der venezolanischen Mentalität haben Massenabschiebung oder Diskriminierung Platz

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Die Grenze nach Kolumbien ist seit dem 20. August geschlossen
Die Grenze nach Kolumbien ist seit dem 20. August geschlossen

Nach Ludwig von Bertalanffy ist die erste Voraussetzung für die Existenz eines Systems die Festlegung darüber, was Teil und was nicht Teil davon ist. Dies gilt sowohl für mathematische Einheiten als auch für biologische Organismen sowie für Länder.

Jede Grenze ist durchlässig, aber ein Organismus der überleben will, lässt nur jene Elemente hinein, die ihn nähren und stärken, und weist die zurück, die ihm Schaden zufügen.

Mexiko empfing im heutigen Texas US-amerikanische Kolonisten mit offenen Armen – und verlor die Hälfte seines Territoriums. Palästina empfing die Hebräer freundlich, die ihr Gebiet besiedelten – und verlor sein ganzes Land.

Bolivien stellte in seiner Staatskanzlei Brasilianer mit doppelter Staatsbürgerschaft ein und verlor ein Drittel seines Territoriums an Brasilien.

Venezuela empfing alle Welt mit offenen Armen und verlor später mehr als ein Drittel seines Territoriums, ohne auch nur einen Schuss abzugeben.

Konflikte machen keinen Halt vor Landesgrenzen – es sei denn, ihre Respektierung wird durchgesetzt. Der Vietnamkonflikt weitete sich nach Laos und Kambodscha aus, und wurde dann in den USA mit Symbolen und Demonstrationen ausgetragen.

Der schmerzliche Konflikt der Republik Kolumbien existiert nun bereits seit über 50 Jahren und die Oligarchie, die ihn auf dem eigenen Gebiet nicht gewinnen konnte, will ihn auf ganz Lateinamerika ausdehnen.

Wer mit friedlichen Absichten kommt, ist in Venezuela willkommen, woher auch immer er kommen mag. Wer jedoch kriegerische Absichten hegt, kann nicht erwarten, mit Kusshand empfangen zu werden.

Präsident Maduro bekundet, dass 5,6 Millionen Kolumbianer unter uns leben. Fast jeder fünfte Einwohner im Land ist oder war demnach kolumbianischer Staatsbürger. Wir haben sie nicht gezwungen, nach Venezuela zu kommen: sie kamen aus eigenem Willen. Niemand hindert sie an der Rückkehr. Wenn sie bleiben, dann weil sie das Leben in Venezuela vorteilhaft finden.

Diese Situation ist unumkehrbar. Weder in unserer Gesetzgebung noch in der venezolanischen Mentalität haben Massenabschiebung oder Diskriminierung Platz. Das einzige, was wir von den Bewohnern des Landes erwarten, und dabei spielt deren Nationalität keine Rolle, ist die Einhaltung unserer Gesetze. Die Abschiebung von einigen Straffälligen stellt lediglich eine notwendige Ausnahme dar und wird niemals auf die die Mehrheit der Bürger Anwendung finden, die arbeitsam und ehrlich ist.

Über diese 5,6 Millionen fehlen vor allem Informationen; diese Zahl wurde erst kürzlich bekannt. Wir wissen noch nicht, wie viele die venezolanische Staatsbürgerschaft angenommen haben, noch, wo sie wohnen, welches Durchschnittsalter und welche Berufe sie haben, wie viele Arbeit haben und in welchem Wirtschaftssektor, wie viele von ihnen studieren und wofür und wie sie sich organisieren, welche politische Einstellung sie haben, wie viele von ihnen ins Gesundheitssystem, ins Sozialsystem und in öffentliche Dienstleistungen integriert sind. Es ist kaum zu glauben, wie sich ein so großes Migrationsphänomen entwickeln konnte, ohne dass die Behörden darüber auch nur annähernd Bescheid wissen.

Einige Informationen geben Aufschluss über die Situation. 85 Prozent der vor dem internen Konflikt und der schlechten wirtschaftlichen Lage geflüchteten Kolumbianer leben heute in Venezuela, die restlichen 15 Prozent in anderen Ländern. In den vergangenen Jahren hat die venezolanische Regierung rund 800.000 Wohnungen für Bedürftige geschaffen und zugewiesen; ein Viertel davon ging an kolumbianische Bedürftige1. Kolumbianer erhalten genauso alle Sozialleistungen wie die Venezolaner. In einigen uns bekannten Fälle immigrierten Kolumbianer auch explizit, um Hilfsleistungen in Anspruch zu nehmen, vor allem Operationen und medizinische Versorgung.

Die Annahme scheint also angebracht, dass mindestens ein Fünftel oder mehr der finanziellen Ressourcen Venezuelas für die  Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit, Wohnraum, öffentliche Dienstleistungen, Arbeit und Renten derjeniger Personen zur Verfügung gestellt werden sollte, die diese Leistungen in ihrem Herkunftsort nicht bekommen. Von diesen Menschen sollte man aber verlangen können, dass sie diese Leistungen nicht denen wegnehmen, die sie aufnehmen.

Dies ist einer der Gründe, warum Venezuela nach dem GINI-Index innerhalb Lateinamerikas das Land mit der geringsten sozialen Ungleichheit ist, während Kolumbien eines der ungleichsten ist. Venezuela verkauft das billigste Benzin der Welt, und unzählige Produkte, von Nahrungsmitteln über Artikel der Körperpflege bis hin zu Medikamenten, werden außerdem zu subventionierten Preisen verkauft. Gegebenheiten also, die den Schmuggel nach Kolumbien zu einem sehr lukrativen Geschäft machen. Laut Präsident Nicolás Maduro verliert Venezuela dadurch etwa 40 Prozent seiner selbst produzierten oder importierten Güter. Der Kolumbianer Andrés Gil, Sprecher der Marcha Patriótica, kommentiert dies folgendermaßen:

"In Táchira, einem (venezolanischen) Bundesstaat an der Grenze zu Kolumbien, gibt es nur 160.000 Kraftfahrzeuge. Der Benzinverbrauch ist dort jedoch höher als in Caracas! Täglich werden eine Million Gallonen Benzin von Venezuela nach Kolumbien geschafft. Können Sie das glauben? Wer, denken Sie, profitiert wohl von dem Riesengeschäft, heimlich Öl, das für 200 US-Dollar die Gallone (das billigste der Welt) gekauft wird in Cúcuta wieder zu verkaufen, für 4.000 bis 5.000 US-Dollar die Gallone? Die Kleinhändler? Nein, wir sprechen hier von einem Geschäft, das rentabler als der Drogenhandel ist und das offensichtlich von einer Mafia kontrolliert wird, die die Regierung 'Bacrim'2 nennt, das heißt, von paramilitärischer Banden. Doch der Benzinschmuggel ist nicht das eigentliche Problem. In Táchira leben 4,5 Prozent der venezolanischen Bevölkerung, die aber 8,5 Prozent aller Nahrungsmittel des Landes "konsumieren". Das bedeutet, dass praktisch die Hälfte dessen, was in Táchira ankommt, direkt weiter nach Kolumbien geschmuggelt wird. Stellen Sie sich vor: ein Liter Milch, der vom Bolivarischen Staat subventioniert wird, kostet 200 Bolivares Fuertes - und in Kolumbien wird er für 14.000 verkauft"3.

Die Situation wird dadurch verschärft, dass die kolumbianischen Behörden dies nicht nur zulassen, sondern den Schmuggel sogar noch explizit schützen, etwa durch Dekrete:

Wie (der Erdölexperte David) Paravisini bestätigt, beschloss Ecopetrol4 2004 angesichts des Rückgangs der Rohölproduktion in Kolumbien (auf unter 400.000 Barrel täglich), dass sich das Land künftig nicht mehr mit den eigenen Brennstoffen versorgt. Unter diesem Druck verleugnete der damalige Präsident Álvaro Uribe die mit Hugo Chávez unterschriebenen Verträge und erließ die Dekrete 2337, 2338 , 2339 und 2340, die den Steuerbetrug legalsiiert haben und die Aneignung von großen Mengen Benzin und Diesel aus Venezuela erlaubten, ohne dafür entsprechend zu bezahlen5.

Weitere Quellen bestätigen das Ausmaß dieses Ausblutens.: "Schätzungsweise rund 100.000 Barrel an Erdölderivaten werden täglich von Venezuela nach Kolumbien geschleust. Für Venezuela bedeutet dies einen Verlust von rund 3,5 Millionen US-Dollar. Dazu kommen weitere rund 6,5 Millionen Dollar Verluste durch geschmuggelte Nahrungsmittel. Der geschätzte jährliche Gesamtverlust beläuft sich demnach auf zehn Milliarden Dollar, was mehr als 62 Prozent der internatinonalen Reserven des Landes entspricht"6.

Andrés Gil weist weiter darauf hin, dass diese illegalen Geschäfte auf das Konto paramilitärischer Banden gehen, die vergleichbar sind mit Mas, AUC, Convivir, Bacrim, den Águilas Negras, den Rastrojos und anderen. Ihre letzte Großtat war der Angriff gegen eine Gruppe venezolanischer Militärs in einem der Grenzbundesstaaten im August 2015.

Diese Banden sind nach wie vor aktiv und dehnen ihre Aktivität auf Nachbarländer aus. Seit über einem Jahrzehnt warnen wir, eine Gruppe Venezolaner, erfolglos vor der Infiltrierung unseres Landes mit Paramilitärs, die Verdrängung der einheimischen Kleinkriminellen durch sie, ihre zunehmende Herrschaft über den informellen Handel, die Bordelle, Casinos, Unternehmen in Transport und Produktion, vor ihrer Schutzgelderpressung, der Einrichtung militärischer Kontrollposten und ihrem Aufstieg in die "Parapolitik"7 durch Komplizenschaft mit der Putschisten-Opposition bei terroristischen Aktionen und schrecklichen Verbrechen.

Nie hat der kolumbianische Staat eine Liste gesuchter Paramilitärs veröffentlicht. Entweder er sucht nicht nach ihnen, oder er versteckt sie.

Jedes revolutionäre oder einfach fortschrittliche Land ist von seinen Grenzen her ständigen Aggression ausgesetzt.

Venezuela hat keine Grenze, sondern eine Wunde.

Die neueste Strategie der Großmächte besteht darin, die Konflikte mithilfe von Söldnerbanden auszutragen, die die Gesellschaft durchdringen, spalten, zerstören und von innen heraus zerrütten.

Wer sich Verbrechern bedient, dient ihnen am Ende.

Einige erschütternde Stimmen haben die Forderung erhoben, dass wir uns nicht gegen bewaffnete Ausländer verteidigen sollen, die hier straffällig werden und dem Land und seinen Staatsbürgern schaden. Eine ähnlichen Status haben nur US-amerikanische Soldaten, die ein Nachbarland mit Militärbasen besetzen. Sie sind gegen die Gesetze des Landes immun und nutzen dies aus, um ungestraft zu morden und zu vergewaltigen.

Venezuela ist kein besetzes Land und wird es nie sein.

Es ist noch nicht zu spät zu verhindern, dass wir von einer durch Paramilitärs kontrollierten Parapolitik, einer Paragesetzgebung, Parajustiz, Paraökonomie, Parafinanzen, einer Paragesellschaft und Parakultur gesteuert werden, in der Auftragsmörder, die niemand gewählt hat, alle Macht haben und die Bürger gar keine.

Damit wir weiterhin unabhängig bleiben, hier einige dringende Empfehlungen:

- die Aktualisierung von Gesetzen und Politiken, die Grenzbelange und Ausländer betreffen, um sie an die heikle derzeitige Situation anzupassen

- die Ausweitung der Zusammenarbeit zwischen Behörden und sozialen Bewegungen, um obige Verordnungen und Normen anzuwenden und den Paramilitarismus zu lokalisieren und zu neutralisieren

- die Koordinierung sämtlicher akademischer staatlicher Institute, um eine fortlaufende, umfassende und ständig aktualisierte Studie über die juristischen, geografischen, ökonomischen, kulturellen, politischen und sozialen Aspekte der Situation in Kolumbien und ihre Auswirkung im Land und in der Region durchzuführen

- die Ausarbeitung einer Kultur-, Bildungs- und Kommunikationspolitik, die auf der Integration und Gleichstellung der Immigranten basiert, unter Betonung der Gemeinsamkeiten anstatt der Unterschiede und stets inspiriert von der Empathie und Überzeugung und niemals von Ablehnung und Aversion

- die Neugestaltung unseres Bildungs- und Kultursystems mit dem Ziel, das Gefühl der Nationalität und das Bewusstsein für die Heldentaten zu stärken, die das Vaterland geschaffen haben. Kolumbien betont in seiner Bildung die Geschichte und Geographie des Landes. Dank Präsident Rafael Caldera sind in Venezuela diese Themen zu Unrecht aus dem Lehrplan der Grundschule entfernt worden.

In dem Film "Die große Illusion" von Jean Renoir (1937) fliehen zwei Männer aus deutscher Kriegsgefangenschaft durch einen verschneiten Wald. Einer von ihnen fragt, ob sie schon die Grenze überquert hätten, weil alles gleich aussieht. Der andere antwortet: Ich weiß es nicht -  die Grenzen haben die Menschen erfunden.

Eine Welt ohne Grenzen wird es erst geben, nachdem die die sozialen Klassen trennenden Grenzen und der Privatbesitz an den Produktionsmitteln verschwunden sind.