Brasilien / Politik

Die Elite in Brasilien führt Krieg gegen die Grundlagen der Demokratie

Um zu verstehen was in Brasilien vor sich geht, muss man sehen, wer als Präsident und wer als Finanzchefs eingesetzt wird

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Michel Temer (mitte) unter Partei-Freunden. Links sein Vertrauter Moreira Franco, rechts Eduardo Cunha
Michel Temer (mitte) unter Partei-Freunden. Links sein Vertrauter Moreira Franco, rechts Eduardo Cunha

Diesen Beitrag haben wir mit Erlaubnis von The Intercept übernommen, wo er  am 21. April 2016 erschien


Für Außenstehende ist es in der aktuellen politischen Krise Brasiliens und mit Blick auf den laufenden Versuch, Präsidentin Dilma Rousseff zu stürzen - die bei ihrer Wiederwahl vor nur 18 Monaten mit 54 Millionen Stimmen erfolgreich war - nicht einfach, bei der Vielzahl der widerstreitenden Behauptungen Klarheit zu behalten.

Um das wahrhaft Undemokratische zu verstehen, das derzeit stattfindet,muss man  einen nähereren Blick auf den werfen, den die brasilianischen Eliten und ihre Medien als Präsidenten installieren wollen: den korrupten, zutiefst unpopulären, der Oligarchie dienenden Vizepräsidenten Michel Temer. Dann klärt sich, was derzeit wirklich vor sich geht und weswegen die Welt aufs äußerste beunruhigt sein sollte.

Simon Romero, der Chef des Brasilien-Büros der New York Times, hatte vergangene Woche ein Interview mit Temer, und so beginnt sein exzellenter Artikel:

"Rio de Janeiro.Laut einer kürzlichen Umfrage würden nur zwei Prozent der Brasilianer für ihn stimmen. Nach Zeugenaussagen, die ihn mit groß angelegten Schiebereien in Verbindung bringen, steht er unter Beobachtung. Und die Justiz erwägt ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn. Michel Temer, der Vizepräsident Brasiliens, bereitet sich darauf vor, das Steuer Brasiliens zu übernehmen, falls der Senat entscheidet, Präsidentin Dilma Rousseff vor Gericht zu stellen."

Wie kann irgendjemand ernsthaft glauben, dass die Wut auf Korruption die Bemühungen der Elite antreibt, Dilma abzusetzen, wenn sie jetzt jemanden zum Präsidenten machen, der viel gravierender der Korruption beschuldigt wird als sie? Es ist eine offensichtliche Farce. Aber da ist noch etwas Schlimmeres.

Der Dritte in der Reihe der Präsidentschaftsanwärter, direkt nach Temer, wurde als schamlos korrupt entlarvt: Der evangelikale Eiferer und Präsident der Abgeordnetenkammer, Eduardo Cunha. Er war treibende Kraft bei den Aktivitäten für die Amtsenthebung; im vergangenen Jahr wurde er dabei nertappt, Millionen Dollar Schmiergeld auf Schweizer Banken versteckt zu haben. Im Kongress hatte er gelogen und jegliche Konten auf Auslandsbanken geleugnet. Auf Romeros Frage, welche Haltung Temer gegenüber Cunha einnehmen werde, wenn er an der Macht ist, antwortete Temer folgendermaßen:

"Herr Temer verteidigte sich und seine engsten und vielfach angeschuldigten Mitstreiter. Er bekräftigte seine Unterstützung für Eduardo Cunha, den in Skandalen verfangenen Parlamentspräsidenten und Koordinator der Bestrebungen für die Amtsenthebung im Kongress, und fügte hinzu, er würde Cunha nicht auffordern zurückzutreten. - Herr Cunha wäre der nächste Anwärter auf die Präsidentschaft, im Falle dass Temer das Ruder übernimmt."

Allein dies illustriert den massiven Schwindel, der hier stattfindet. Wie mein Partner, David Miranda, in seiner Kolumne im Guardian schrieb: "Jetzt ist klar geworden, dass keinesfalls Korruption der Grund ist, Brasiliens zweifach gewählte Präsidentin zu stürzen, Korruption ist nichts als ein Vorwand". Die führenden brasilianischen Medien werden fordern (wie Temer), nach Dilmas Absetzung die anderen korrupten Politiker ebenfalls zur Verantwortung zu ziehen, aber sie werden genau das nicht tun, und Temers skandalöse Unterstützung für Cunha beweist das. Laut Pressemeldungen plant Temer, als Generalstaatsanwalt – eine Schlüsselposition der Regierung zur Untersuchung von Korruptionsfällen – einen speziell von Cunha ausgewählten Politiker einzusetzen. Und wie Miranda in seiner Kolumne feststellt: "Der wirkliche Plan hinter dem Absetzungsverfahren gegen Rousseff besteht darin, den laufenden Untersuchungen ein Ende zu setzen, die Korruption also zu verstecken und nicht, sie zu bestrafen."

Aber es gibt weitere zentrale Motive. Man schaue sich an, wer Brasiliens Wirtschaft und Finanzen übernehmen soll, sobald Dilmas Wahlsieg annulliert ist. Vor zwei Wochen meldete Reuters als Temers Favoriten für die Zentralbank Paulo Leme, den Vorsitzenden von Goldman Sachs in Brasilien. Und heute berichtet Reuters: "Murilo Portugal, Chef von Brasiliens mächtiger Bankenlobby" – und langjähriger Funktionär des Internationalen Währungsfonds – "ist aussichtsreicher Kandidat für das Finanzministerium im Falle von Temers Machtübernahme." Temer gelobte auch eine strenge Sparpolitik für eine bereits notleidende Bevölkerung: er beabsichtigt "die Regierung zu verkleinern" und die "Ausgaben zusammenzustreichen".

In einer Telefonkonferenz am Freitag, 15. April mit JP Morgan nannte der Vorsitzende der Banco Latinoamericano de Comercio Exterior SA, Rubens Amaral, das Absetzungsverfahren gegen Dilma "einen ersten Schritt zur Normalisierung Brasiliens". Er sieht "definitiv neue Möglichkeiten", sofern Temers neue Regierung "strukturelle Reformen" in die Wege leitet, wie die Finanzwelt sie verlangt. Die neuesten Meldungen über Temers bevorzugte Kandidaten lassen erkennen, dass Herr Amaral und seine Plutokraten zufrieden sein werden.

Die führenden brasilianischen Medienkonzerne wie Globo, Grupo Abril (Veja) und Estadão unterstützen indes das Amtsenthebungsverfahren fast einstimmig („Keine abweichende Meinung erlaubt“), und, wie Miranda in seiner Kolumne ausführlich beschreibt, befeuerten die Straßenproteste von Beginn an. Warum ist das bezeichnend? "Reporter ohne Grenzen" veröffentlichte am21. April seine "Pressefreiheit-Rankings 2016“. Darin rangiert Brasilien wegen der Gewalt gegen Journalisten auf Platz 103, aber auch wegen dieser entscheidenden Tatsache: "Die Medien sind nach wie vor hochkonzentriert, vor allem in den Händen großer industrieller Familien, die oft mit der politischen Klasse verbunden sind."  Ist es etwa nicht glasklar, was hier vor sich geht?

Um also zusammenzufassen: Brasiliens Finanz- und Medieneliten geben vor, dass die zweifach gewählte Präsidentin des Landes wegen Korruption abgesetzt wird, während sie konspirieren, um die korruptesten politischen Figuren an die Macht zu bringen. Damit drängen die Oligarchen Brasiliens eine gemäßigt linke Regierung aus dem Amt, die in vier aufeinanderfolgenden Wahlen im Namen der Ärmeren des Landes gewann, und übergeben stattdessen Goldman Sachs und den Lobbyisten der Banken die Kontrolle über die brasilianische Wirtschaft, die siebtgrößte der Welt.

Der Betrug, der hier vor sich geht, ist ebenso unverfroren wie zerstörerisch. Aber es ist das bekannte Muster, das sich rund um den Globus wiederholt, besonders in Lateinamerika, wo eine winzige Elite einen eigennützigen, selbstsüchtigen Krieg gegen die Grundlagen der Demokratie führt. Brasilien mit seiner weltweit fünftgrößten Bevölkerung war ein hoffnungsvolles Beispiel dafür, wie eine junge Demokratie reifen und sich entwickeln kann. Aber nun werden die demokratischen Strukturen und Prinzipen von der gleichen Finanz- und Medienklasse frontal angegriffen, die jahrzehntelang die Demokratie unterdrückt und diesem Land die Gewaltherrschaft aufgezwungen hat.

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