"Die wichtigste und schwierigste Arbeit im Fall einer verschwundenen Person"

Gespräch mit Mercedes Doretti über die Arbeit der EAAF im Fall Ayotzinapa und über das Projekt "Frontera"

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Bei einer öffentlichen Veranstaltung legte die EAAFam 9. Februar 2016 ihren Bericht zum Fall Ayotzinapa vor
Bei einer öffentlichen Veranstaltung legte die EAAFam 9. Februar 2016 ihren Bericht zum Fall Ayotzinapa vor

Die Gruppe der Gerichtsmediziner aus Argentinien (Equipo Argentino de Antropología Forense, EAAF) wurde 1984 von Dr. Clyde Snow, Gerichtsmediziner und Anthropologe aus den USA gegründet, um die Fälle der Verschwundenen während der Militärdiktatur in Argentinien zu klären. Sie hat eine lange Erfahrung in der Identifizierung von menschlichen Überresten von Verschwundenen und Opfern bewaffneter Konflikte in verschiedenen Ländern.

Zwischen 1995 und 1997 war die Gruppe mehrmals nach Bolivien gefahren, um die Überreste von Ernesto Che Guevara und acht seiner Mitkämpfer, die sich unter der damaligen Landepiste des Flughafens von Vallegrande befanden, zu identifizieren. Ende 1997 konnten die Überreste von Guevara und sieben weiteren Guerrilleros an deren Familien übergeben werden.

In Mexiko arbeitete die EAAF zum ersten Mal an dem Protokoll über die Identifizierung von verschwundenen Personen, die auf Grund ihrer politischen Aktivitäten dem sogenannten schmutzigen Krieg in den 1960er und 80-er Jahren zum Opfer fielen.

Auch 2001 arbeitete das EAAF-Team wieder in Mexiko. Diesmal an dem Fall "Campo Algodonero" (Baumwollfeld): im November 2001 wurden die Leichen von acht ermordeten Frauen auf einem Baumwollfeld in Ciudad Juárez im Bundesstaat Chihuahua gefunden. Bei der Exhumierung haben die mexikanischen Behörden die internationalen Standards nicht eingehalten. Auf Anforderung der Angehörigen der Opfer hat die EAAF mit einer neuen Identifizierung der Leichen begonnen. Das Team konnte drei identifizieren. Die Familien dieser drei ermordeten Frauen brachten den Fall bis zur Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH). Die CIDH verurteilte 2009 den mexikanischen Staat.

2004 kam die Gruppe in die nördliche Stadt Ciudad Juárez im mexikanischen Bundesstaat Chihuahua, wo seit 1993 immer wieder Morde an Frauen registriert werden. Während ihres Aufenthalts von 2004 bis 2009 hat die EAAF 33 Leichen von Frauen identifiziert und an ihre Familien übergeben. Als sie 2009 auf Grund der zunehmenden Gewalt im Chihuahua das Land verlassen mussten, waren 50 weibliche Überreste noch nicht identifiziert.

Als im November 2014, zwei Monate nach dem Verschwindenlassen der 43 Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa, Überreste in einem geheimen Massengrab in Cerro Pueblo Viejo im Bundesstaat Guerrero gefunden wurden, hatten die mexikanischen Behörden die Vermutung, dass diese den jungen Männer zugeordnet werden könnten. Aus der Erfahrung, dass die Behörden oft keine seriöse Ermittlung durchführen, verlangten die Eltern  die Beteiligung der EAAF bei der Identifizierung. Seitdem arbeitet das Team an dem Fall Ayotzinapa (auch als Fall Iguala bekannt). Die Lehramtsstudenten waren in der Nacht zum 27. September 2014 in der Stadt Iguala von Bundespolzisten angegriffen und verschleppt worden. Seitdem sind sie verschwunden.

Nur in diesem Fall brach die EAAF mit ihrem gewohnten Vorgehen und ging an die Öffentlichkeit mit Kommuniqués, die die Version der mexikanischen Regierung über den Verbleib der 43 Lehramtsstudenten widerlegten.

Mercedes Doretti vom EAAF sprach während ihres Aufenthalt in Deutschland mit amerika21.de über die Arbeit im Fall Ayotzinapa und über ein aktuelles Projekt der Gruppe.


Die EAAF hat bei der Identifizierung von Verschwundenen in mehreren Ländern gearbeitet. Was unterscheidet den Fall der 43 Lehramtsstudenten von den anderen Fällen?

Was den Fall Ayotzinapa besonders macht, ist, dass alles unter der Beobachtung nationaler Sicherheitskräfte passiert ist. Das macht ihn besonders schwer.

Hattet ihr während eurer Ermittlungen Zugang zu Informationen, Akten und Zeugen?

Wir halten uns immer an die Abkommen, die wir mit den Regierungen geschlossen haben. Je nach Abkommen haben wir dann mehr oder weniger Zugang zu den Voruntersuchungen. Im Fall Ayotzinapa haben uns zuerst die Menschenrechtsorganisationen angerufen. Wir arbeiteten gerade an den Funden von Cerro Pueblo Viejo, als uns eines Tages die Organisationen, die die Eltern der 43 begleiten, angerufen haben. Dann sind wir zu der Müllkippe in Cocula gefahren. Wir haben einige Wochen vor Ort und mehr als ein Jahr an der Auswertung der Funde gearbeitet. Lange Zeit hatten wir keinen Zugang zu den Voruntersuchungen. Später, nach und nach, haben wir sie teilweise zu sehen bekommen.

Arbeitet das EAAF-Team derzeit immer noch an dem Fall Ayotzinapa?

Wir arbeiten immer noch daran. Mit der Umsetzung des Überwachungsmechanismus der Expertengruppe der nteramerikanischen Menschenrechtskommission, die August 2016 beschlossen wurde, werden wir ab Oktober an neuen Suchstellen arbeiten.

Welche Empfehlungen würdet ihr der mexikanischen Regierung aus der Sicht der forensischen Technik geben? Wäre es nötig, eine Gruppe von Gerichtsmedizinern in Mexiko zu bilden, wie es in Peru und in Guatemala der Fall war?

In Mexiko gibt es bereist mehrere Gruppen von Gerichtsmedizinern: Die Bundesstelle für Gerichtsmedizin unter Obhut der Generalstaatsanwaltschaft (PGR); die Stelle für Gerichtsmedizin der Bundespolizei. Es gib weitere in jedem Bundesstaat des Landes, sowie eine Nicht-Regierungsgruppe von Gerichtsmedizinern, vergleichbar mit denen in Peru und Guatemala. Diese Gruppe heißt Equipo Mexicano de Antropología Forense (Mexikanische Gruppe von Gerichtsmedizinern) und ist seit ein paar Jahren aktiv.

Es gibt auch Einsätze im Bundesstaat Tlaxcala. Dort hat die Universität an dem Fall der illegalen Massengräber von Tenancingo1 gearbeitet.

Auf Grund des Ausmaßes von Fällen von Verschwundenen und von willkürlichen Hinrichtungen im Land ist es sehr wichtig, dass mehrere Gerichtsmediziner an den Fällen arbeiten.

Das EAAF arbeitet an dem "Proyecto Frontera" (Projekt Grenze). Worum geht es genau?

Das Projekt hat das Ziel, einen Mechanismus für den Austausch von gerichtsmedizinischen Information zwischen USA, Mexiko und Zentralamerika zu bilden. Die Informationen, die ausgetauscht werden, betreffen die verschwundenen Migranten und die Überreste, die ihnen eventuell zugeordnet werden könnten.

Als wir das Projekt vor fünf Jahren angefangen haben, gab es in Zentralamerika gar keine Datenbanken mit DNA-Informationen der verschwundenen Migranten.

Heutzutage gibt es in Mexiko immer noch keine vollständige DNA-Datenbank, jeder Bundesstaat hat seine eigene. Das Problem ist, dass kein Informationsaustausch zwischen ihnen stattfindet. Es gibt keine koordinierte Zusammenarbeit zwischen den Behörden und der Leitung der entsprechenden DNA-Datenbanken.

Eines der größten Probleme, mit dem wir uns auseinandersetzten mussten, war, dass die DNA-Informationen zwischen Zentralamerika und den USA nicht ausgetauscht werden konnten, weil es keine Infrastruktur dafür gab. Wenn wir zum Beispiel ausreichende Informationen über einen verschwundenen Migranten in Arizona, Texas hatten, konnten wir diese aus Mangel von Informationen auf Grund fehlender DNA-Datenbanken und aktualisierter Listen von Verschwundenen in Zentralamerika nicht vergleichen.

Daher arbeiten wir im Rahmen des Projekts Frontera daran, diese Defizite auszugleichen.

Das erste was wir gemacht haben, war, Datenbanken für verschwundene Migranten einzurichten und zwar in deren Herkunftsgemeinden und Herkunftsländern.

Wir haben dann diese mit den Daten der Behörden, der Nichtregierungsorganisationen aber auch mit denen der Komitees von Angehörigen verglichen und aktualisiert. Dabei boten wir technischen Unterstützung an. Wir haben dann die genetischen Informationen der Angehörigen der Verschwundenen in diese Datenbanken aufgenommen.

Bevor das Projekt Frontera entstand, wurde die DNA-Information verglichen, aber nur wenn eine gewisse Wahrscheinlichkeit gegeben war, das heißt, es wurden die Überreste mit der in Frage kommenden Familie verglichen.

Bis heute haben wir 971 Fälle in Honduras, Guatemala, El Salvador und Mexiko dokumentiert aber auch ein paar einzelne Fälle in Ecuador, Peru, Brasilien und Nicaragua. Die DNA der Angehörigen all dieser Fälle wurde überprüft und wir tauschen diese Informationen aus. So haben wir einen massiven Austausch an Informationen mit den Bundesstaaten Arizona und teilweise mit Texas.

In Fällen von Massakern, bei denen es Migrantinnen Migranten unter den Opfern gab, so wie es in Mexiko passiert ist, haben wir mit den Behörden einen 100-prozentigen Informationsaustausch.

Wir haben bislang 121 Überreste identifiziert.

Durch die Beteiligung mehrerer Länder wird das Projekt größer und auch der Informationsaustausch. Idealerweise wäre ein regionaler Mechanismus zu entwickeln, um den Angehörigen der Opfer eine schnellere Antwort geben zu können und um zu vermeiden, dass Fälle offen bleiben.

Wir sind Teil des Ausschusses, der 2013 mit dem Ziel gegründet wurde, an den schwer identifizierbaren Überresten der 722 ermordeten Migranten zu arbeiten.

Wir arbeiteten auch an der Identifizierung der Leichen des illegalen Massengrabes von San Fernando3, mit circa 200 Leichen.

An dem Fall Cederyta4 haben wir 2012 ebenfalls gearbeitet.

In allen diesen Fällen haben wir Informationen ausgetauscht. Wir geben uns sehr viel Mühe diesen Austausch zu erweitern, damit wir so viele Überreste wie möglich identifizieren können.

Wie ist das Projekt-Frontera entstanden?

Normalerweise bekommen wir die Aufträge.

Das Projekt Frontera haben wir, das EAAF-Team, entwickelt und zwar auf Grund der zahlreichen Überreste aus Ciudad Juárez, die wir aus Mangel an DNA- und anderen Informationen nicht identifizieren konnten.

Zunächst dachten wir, dass die Identifizierung einfach wäre. Nach und nach sahen wir, dass die Listen der verschwundenen Frauen nicht aktualisiert waren. Es gab keine nationalen DNA-Datenbanken und die Kommunikation mit und zwischen den verschiedenen Staatsanwaltschaften funktionierte in Mexiko nicht. Wir sind davon ausgegangen, dass in anderen zentralamerikanischen Ländern die Lage ähnlich sei.

Daher haben wir ein Jahr lang recherchiert. Wir fragten die zuständigen Regierungen, NGO und Komitees von Angehörigen, ob sie Interesse hätten an dem Projekt mitzuarbeiten. Die Antwort war sehr positiv. Wir begannen dann das Projekt 2010.

Das EAAF arbeitet im Projekt Frontera mit einem Team aus 12 Gerichtsmedizinern sowie Personen, die in den jeweiligen Ländern arbeiten und Angehörigen.

In Mexiko gibt es immer noch tausende von Leichen, die nicht identifiziert sind. Tausende Familien warten auf eine Identifizierung. Gleichzeitig verschwinden aber immer mehr Personen.

Mexiko sollte einen Plan entwickeln, damit den Familien der Opfer eine Antwort über ihre verschwundenen Verwandten gegeben werden kann.

  • 1. 2014 wurden in Tenancingo, Bundesstaat Tlaxcala, zwei Massengräber mit insgesamt 150 Leichen gefunden
  • 2. Am 24. August 2010 wurden 72 Leichen im Bundesstaat Tamaulipas gefunden. Es handelte sich um Migranten aus Zentralamerika und Ecuador, die von der organisierten Kriminalität in Absprache mit den nationalen Sicherkräften und dem Migrationsministerium erschossen wurden, als ihre Familien das Erpressungsgeld nicht bezahlt haben
  • 3. Im April 2011 wurden circa 200 Leichen in mehreren illegalen Massengräbern in San Fernando, im Bundesstaat Tamaulipas gefunden. Viele der Opfer waren in Reisebussen unterwegs, als diese von bewaffneten Gruppen mit Zustimmung der lokalen Polizisten angehalten wurden. Die Passagiere, vor allem Männer, wurden entführt. Ihre Leichen wurden später in San Fernando gefunden
  • 4. Am 13. May 2012 wurden 49 verstümmelte Leichen im Cadereyta im Bundesstaat Nuevo León gefunden. Sie alle waren Migranten aus Zentralamerika, die von der organisierten Kriminalität in Absprache mit lokalen Polizisten entführt und ermordet wurden
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