Solidarische Ökonomie: Gesellschaften des Guten Lebens aufbauen

Der neoliberale Kapitalismus zeigt seine Risse. Die Solidarische Ökonomie wird zu einer umwälzenden Idee und Wirklichkeit in Lateinamerika

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Am 18. und 19. April 2018 fand in Cuajimalpa, Mexiko, das Internationale Treffen der Solidarischen Ökonomie und der Blauen Ökonomie statt
Am 18. und 19. April 2018 fand in Cuajimalpa, Mexiko, das Internationale Treffen der Solidarischen Ökonomie und der Blauen Ökonomie statt

Die Solidarische Ökonomie beinhaltet ein ganzheitliches Gesellschaftsmodell, das in seiner Struktur alle Faktoren definiert, aus denen sich das "Gute Leben" (Buen Vivir) zusammensetzt: wirtschaftliche, soziale, kulturelle, ökologische, erzieherische, wissenschaftlich-technologische und politische. Diesem Vorschlag liegen solidarische Werte und Praktiken zugrunde, die soziale Bewegungen mit ganzheitlichem und emanzipatorischem Fokus durch lokale Erfahrungen und globale Bündnisse verbinden, die auf Gerechtigkeit, Solidarität, Humanismus und Nachhaltigkeit setzen.

In diesem Konzept kommen ganz unterschiedliche Praktiken zusammen, denen die Förderung von gerechteren Beziehungen zwischen den Menschen und gegenüber dem sozialen und ökologischen Umfeld gemein ist. Darüber hinaus stellen sie die kapitalistischen Logik politisch und strukturell infrage, was mit dem Aufbau von solidarischen Formen des Tausches mit dem Ziel einhergeht, dass die Gemeinschaften ihre eigenen Formen des Wohlergehens wählen können.

Euclides Mance, brasilianischer Philosoph und einer der zentralen Theoretiker der Ökonomie der Befreiung, weist darauf hin, dass sich diese Erfahrungen von drei Blickwinkeln der Solidarischen Ökonomie aus begreifen lassen:

  • Die Solidarische Ökonomie des Überlebens ist grundsätzlich darauf ausgerichtet, die Erfüllung der Bedürfnisse der Menschen und der eigenen Initiativen zu befriedigen.

  • Die Solidarische Ökonomie des Widerstands versucht darüber hinaus, Widerstand gegen das kapitalistische Modell zu leisten. Allerdings fehlt es an einem umfassenderen Verständnis der Funktionsweisen des Kapitalismus und der Frage, wie dieser zu überwinden ist. Daher gelingt es mit ihren Vorschlägen nicht, bei dem Aufbau eines anderen ökonomischen post-kapitalistischen Systems voranzukommen.

  • Die Solidarische Ökonomie der Befreiung als Achse der Kämpfe kann unmittelbare ökonomische Forderungen berücksichtigen, die ökonomischen kapitalistischen Strukturen konfrontieren und beim Aufbau der Strukturen einer neuen Produktionsweise, eines neuen Systems des Austausches und einer neuen Gesellschaftsformation vorankommen. Sie organisiert Netzwerke, solidarische Wirtschaftskreisläufe und Konsum-, Austausch- und Produktionsketten, welche die die Produktivkräfte und menschlichen Gemeinschaften befreien.

Ein notwendiger Vorschlag in einem Kontext des Exklusion

Auch wenn weltweit viele traditionelle Praktiken der Produktion und des Austausches der Solidarischen Ökonomie nahe stehen, ist es von besonderer Dringlichkeit, diese andere Ökonomie im aktuellen lateinamerikanischen Kontext zu stärken.

Der Planet erlebt als Folge eines gefräßigen Kapitalismus eine Krise, die extreme Armut, Umweltzerstörung, den Verlust der Rechte der arbeitenden Menschen, die Kriminalisierung der sozialen Bewegungen, Arbeitslosigkeit und Prekarisierung der Arbeit, das organisierte Verbrechen und im weitesten Sinne des Wortes den Tod verursacht.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts begann in Lateinamerika mit der Erhöhung der Rohstoffpreise eine Periode des Wohlstandes. Im Jahr 2004 verzeichnete die Region ein wirtschaftliches Wachstum von 5,9 Prozent, angeführt von der Andengemeinschaft (Bolivien, Ecuador, Kolumbien und Peru), deren BIP in jenem Jahr um 9,5 Prozent anstieg, während es im Südkegel (Argentinien, Chile und Uruguay) mit einer Rate von 8,4 Prozent anstieg, in Brasilien um 4,9 in Mexiko-Mittelamerika um 4,9 und in der Karibik um 4 Prozent, wie aus den Daten der Cepal (Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik) hervorgeht. Alicia Puyana, forschende Dozentin an der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (Flacso), weist darauf hin, dass "es das Gefühl gab, als ob es in Lateinamerika gar keine Krise mehr gebe. Die Ökonomen waren der Auffassung, dass sich die Politiker und Beamten nicht mehr mit der anhaltenden Tragödie der Region beschäftigen müssten. Jetzt war die Aufgabe, den Wohlstand zu verteilen."

Doch mit dem Beginn der großen Weltwirtschaftskrise von 2008-2009 endete diese Zeit des Optimismus und der Reichtum wurde nicht verteilt. "Derzeit durchlaufen wir einen Zyklus der niedrigen Preise, die sich schwer erholen werden", sagt die Ökonomin, die voraussagt, dass die Rohstoffpreise für die nächsten 10 oder 15 Jahre niedrig bleiben werden. Somit ist für die Wirtschaften der Region – die nach zwei Jahren der Rezession gerade einmal um 1,1 Prozent im Jahr 2017 wachsen konnten – absehbar, dass das niedrige Wachstum anhalten wird. Zudem sind die Bevölkerungen "verärgert, denn der Wohlstand der Jahre des Wachstums wurde nicht genutzt", sagte Puyana. "Der Reichtum wurde in Argentinien, Brasilien, Uruguay und Venezuela ein wenig verteilt, aber es gab nicht die Absicht, das Wirtschaftsmodell zu verändern und weniger von den Rohstoffen abzuhängen". Für 2018 erwartet die Weltbank ein Wachstum von zwei Prozent für die Region.

Die ersten zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts waren in Lateinamerika von den Bolivarischen Allianz (Alba), dem Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) und der Pazifik-Allianz geprägt, drei große Projekte der politisch-ökonomischen Integration, denen multinationale Handelsverträge zugrunde liegen. Diese Epoche ist jedoch laut Arturo Oropeza, dem Wissenschaftler des Juristischen Forschungsinstituts der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (Unam), beendet. Der neoliberale Kapitalismus beginnt, seine Risse zu zeigen, seine Unfähigkeit zu einer gerechten und demokratischen Entwicklung, seinen konzentrierenden und ausschließenden Charakter. Angesichts dieses erschöpften Projekts wird die Solidarische Ökonomie zu einer umwälzenden Idee und Wirklichkeit, die das Potenzial hat, das Wohlergehen für die Menschen der Region zu schaffen.

2018 ist ein Schlüsseljahr für den politischen und ökonomischen Kurs Lateinamerikas. In sieben Ländern der Region finden Präsidentschaftswahlen statt: Costa Rica, Paraguay, Kolumbien, Venezuela, Mexiko, Brasilien und Kuba. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es in der Region wichtige politische Veränderungen geben wird, inmitten einer ökonomischen Periode, die als Zeit der "mageren Kühe" bezeichnet werden könnte und in der Ära der "globalen Politik der Aggression", befördert von USA unter Präsident Donald Trump.

In diesem Kontext ist die Solidarische Ökonomie eine notwendige Anstrengung, um solidarische Netzwerke der Zusammenarbeit zu schaffen, die Verbindungen zwischen den Menschen wertzuschätzen sowie ökologisch und ökonomisch nachhaltige Maßnahmen auszuweiten. Dies sind zudem Formen, um das Territorium, die Kenntnisse und die Rechte von der Basis der Gemeinschaften sowie regionaler und internationaler Strukturen aus zu verteidigen.

Der Rat für Volksbildung in Lateinamerika und der Karibik (CEAAL) in der internationalen Bewegung der Solidarischen Ökonomie

Am 18. und 19. April 2018 fand in Cuajimalpa, Mexiko, das Internationale Treffen der Solidarischen Ökonomie und der Blauen Ökonomie statt1. An dieser Zusammenkunft, organisiert vom CEAAL, dem zivilgesellschaftlichen Verein Dinamismo Juvenil A.C. und den Organisationen und Bildungsinstitutionen der Gruppe Promotor de Economía Solidaria de México, nahmen Repräsentanten aus zwölf Ländern teil, darunter Brasilien, Chile, Peru, Kolumbien, Kuba, Costa Rica, Guatemala, Spanien und Mexiko, mit Teilnehmenden von Organisationen, Bildungseinrichtungen, Kooperativen und Produktionsinitiativen aus 17 Bundesstaaten der Mexikanischen Republik.

Für den CEAAL war dieses Treffen sehr wichtig, da es eine Möglichkeit war, Solidarität zu leben und ökonomische, soziale, emanzipatorische und gerechte Prozesse einzuleiten. Es trug dazu bei, kollektives Wissen aufzubauen und die Erfahrungen der Teilnehmenden konnten zusammengebracht werden. Der Austausch der Erfahrungen wurde ermöglicht und durch theoretische Beiträge bereichert: von Euclides Mance, treibende Kraft der solidarischen ökonomischen Kreisläufe; Marcos Arruda, der ein System von Indikatoren vorschlägt, um den Weg zum Guten Leben hin auszurichten; und Carlos Bernal, der aus der Perspektive der Blauen Ökonomie die systematische Planung und die nachhaltige Verwertung der in jedem Ökosystem zur Verfügung stehenden Ressourcen mit einer minimalen Erzeugung von Abfällen vorschlägt.

Von Seiten des CEAAL, als Volkslehrende aus Lateinamerika und der Karibik, stehen wir vor der Herausforderung, Befreiungsprozesse aus der Perspektive der Bildung zu entwickeln. Diese sollen, gemeinsam mit den Subjekten unserer Tätigkeit selbst, einen Beitrag zur Aktion-Reflexion leisten und Methodologien einsetzen, die es uns erlauben, unsere Praktiken zu ändern. Wir beabsichtigen auch, einige der Werkzeuge der Solidarischen Ökonomie in die Praxis umzusetzen, wie die Bildung eines solidarischen Fonds; die Konzeption und Umsetzung eines virtuellen Kurses über Solidarische Ökonomien für das Gute Leben und die Emanzipation der Völker.

Die Autorinnen Celina Valadez, Elisiane de Fátima Jahn, Eva Carazo Vargas und Rosa Elva Zúñiga sind Volkslehrerinnen und Teilnehmerinnen der Arbeitsgruppe über die Solidarische Ökonomie des Rates für Volksbildung von Lateinamerika und der Karibik (Consejo de Educación Popular de América Latina y el Caribe, CEAAL)

  • 1. Auf dem Treffen versammelten sich über 200 Personen. Es wurden Erfahrungen aus Kooperativen, aus der Volksbildung, von Öko-Dörfern und systemischen Designs, ökonomischen solidarischen Kreisläufen und Netzwerken lokaler Kollektive geteilt. Es war selbst eine solidarische Erfahrung, bereichert durch die freiwilligen Beiträge des Familien, die den Kreislauf der Solidarischen Ökonomie Tianguis del Buen Vivir in Cuajimalpa bilden. Sie nahmen die teilnehmenden Personen auf und teilten ihre Erfahrung bei dem Aufbau des Kreislaufs