"Wir erleben eine grundlegende Krise der Zivilisation"

Interview mit dem Menschenrechtsaktivisten Leonardo Boff aus Brasilien

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Leonrardo Boff bei einer Gedenkveranstaltung für Marielle Franco und Anderson Pedro Gomes in Rio de Janeiro am 20. März 2018
Leonrardo Boff bei einer Gedenkveranstaltung für Marielle Franco und Anderson Pedro Gomes in Rio de Janeiro am 20. März 2018

Die Signale der globalen Gesellschaft sind beunruhigend: "Wir befinden uns inmitten einer grundlegenden Krise, die uns in eine Ära der Barbarei führt, in der die Grundrechte verschwinden", sagt Leonardo Boff. Als Sozialaktivist, Mitinitiator der Befreiungstheologie, einer der Herausgeber des Briefes von der Erde im Jahr 2000 und alternativer Nobelpreisträger 2001 vereinigt Boff die unterschiedlichsten Facetten eines Menschen der Reflexion und der Tat. Dieses Interview konzentriert sich auf seine Tätigkeit im Bereich der Menschenrechte. In seinem Heimatland Brasilien gehört er zu den bekanntesten Aktivisten, im Ausland ist er weniger bekannt. 1979 gründete Boff mit anderen zusammen das Zentrum für die Verteidigung der Menschenrechte in Petrópolis im Bundesstaat Rio de Janeiro und ist 40 Jahre später noch dessen Präsident.

Das Zentrum für die Verteidigung der Menschenrechte in Petrópolis (CDDH) wurde während der letzten brasilianischen Diktatur (1964–1985) gegründet. Was bedeutete es in der Praxis, die Grundrechte der Menschen zu verteidigen?

Das Zentrum wurde als Reaktion auf die damalige Militärregierung gegründet: Sie griff systematisch die Menschenrechte an und betrachtete ihre Gegner als subversive Elemente. Damals war der Kampf um die Demokratie unerlässlich, da auch diese vom Militär verboten war. Dennoch lautete unser Motto von Anfang an "Dem Leben dienen". Damit brachten wir den Wunsch zum Ausdruck, weit über eine rein juristische Sicht der Rechte hinauszugehen und das bedrohte Leben in den Mittelpunkt zu stellen. Dies war in der Stadt Petrópolis, in der ich noch heute lebe, von wesentlicher Bedeutung: Aufgrund ihrer gebirgigen Topographie war sie Schauplatz kontinuierlicher Erdrutsche, die viele Opfer forderten. Das CDDH hat vielen Menschen geholfen, ihre Häuser zu reparieren oder wieder aufzubauen, nicht zuletzt dank der Mithilfe aller. Wir haben das Leben schon damals ganzheitlich betrachtet, unter Einbezug der Natur. Von Anfang an konzentrierte sich der Einsatz auf die Rechte der ärmsten Menschen am Stadtrand, angefangen bei der Bewusstseinsbildung für ihre Rechte, damit sie Protagonisten ihrer eigenen Ansprüche werden konnten.

Das heißt, die Verteidigung der Menschenrechte aus der Perspektive und dem Fokus marginalisierter sozialer Akteure.

In der Tat. In diesen Jahren haben wir intensiv für die Rechte sensibilisiert und darüber aufgeklärt, und zwar – ganz wichtig – immer aus der Sicht der Armen. Für uns war klar, dass das Recht auf Leben und die Mittel zum Überleben die obersten Rechte sind. Dann erst kommen die anderen, wie das der freien Meinungsäußerung, der Staatsbürgerschaft usw., aber immer mit dem Anliegen, Gemeinschaften zu schaffen, in denen die Armen mit unserer Unterstützung ihre Probleme diskutieren und nach tragfähigen Lösungen suchen können. Da die Stadt Petrópolis politisch und sozial sehr konservativ ist 1, gab es fast keine Organisationen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzten. Durch Treffen und Kurse zu sozialen Rechten konnten wir eine kritischere, befreiende Vision gegenüber dem dominanten System fördern. Dabei steht immer die Arbeit mit jungen Menschen im Vordergrund.

Könnten Sie uns ein Beispiel für eines dieser emblematischen Projekte nennen?

Das für mich bedeutendste Projekt nannten wir "Brot und Schönheit", mit dem wir 300 Menschen, die auf der Straße lebten, mit Grundnahrungsmitteln versorgten. Sie konnten duschen, erhielten in Spendenaktionen gesammelte saubere Kleider und konnten reichlich und sehr gutes Essen genießen. Am Abend kam dann der Moment der Schönheit. Es ging darum, ihre Identität zu bewahren: Wir haben sie bei ihrem Namen genannt, da die meisten von ihnen nur Spitznamen hatten. Wir unterstützten sie bei der Erhaltung ihrer Gesundheit, viele wurden alphabetisiert, wir haben ihre Geschichten bekannt gemacht, es gab kulturelle Aktivitäten. Und wenn möglich haben wir versucht, ihnen bei der Arbeitssuche zu helfen, um ihre Autonomie zu fördern.

40 Jahre später erlebt Brasilien eine komplexe und unsichere Realität, auch aus der Sicht der Menschenrechte. Wie deuten Sie heute, ein Jahr danach, die Machtübernahme von Jair Bolsonaro, der sogar eine Rückkehr zur brasilianischen Militärdiktatur fordert? Was lief in der politischen Erziehung des Volkes schief und ermöglichte diesen historischen Fehltritt?

Das ist eine sehr komplexe Frage. Zunächst einmal haben die mächtigen Oligarchien nie akzeptiert, dass der Sohn eines armen Mannes, der den Hunger überlebt hatte, Präsident werden sollte. Lula da Silva wurde nur solange geduldet, wie er ihre Anhäufung von Vermögen respektierte, seit jeher die höchste und konzentrierteste der Welt. Lula seinerseits gelang es in den Regierungsjahren der Arbeiterpartei (PT), fast 40 Millionen Menschen aus der Armut zu befreien. Er hat Sozialprogramme wie "Mein Zuhause, Mein Leben" und "Licht für alle" umgesetzt, die die entlegensten Winkel des Landes beleuchtet haben. Darüber hinaus hat er jungen Schwarzen und Armen eine Ausbildung ermöglicht, auch an der Universität. Doch hatte die PT ein strategisches Problem im Parlament, wo sie in der Minderheit war, bei den Verhandlungen mit Parteien ohne jegliche soziale Sensibilität. Lula entfernte sich auch von einem Teil jener Basisgruppen, die ihn an die Macht gebracht hatten. Zudem waren wichtige Mitglieder vom Team Lulas und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff korrupt. Lula und Dilma wurden zu Sündenböcken der Korruption gemacht, während die PT auf der Korruptions-Skala Brasiliens nur an zehnter Stelle steht.

Man muss auch sagen dass in den letzten Jahren und in vielen Regionen der Welt die Rechte an Kraft gewonnen hat, nicht zuletzt durch die ausdrückliche Unterstützung von US-Präsident Donald Trump.

In Brasilien haben all diese Elemente eine Anti-PT-Stimmung geschaffen. Von den USA wurde eine Strategie befördert, wo Richter, Parlamentarier und Polizisten den Staat mit der Begründung angriffen, er sei ineffizient, um Volksführer wie Lula zu disqualifizieren. Er wurde durch ein völlig irreguläres Gerichtsverfahren ins Gefängnis gesteckt und wegen "unbestimmter Handlungen" verurteilt, ein Tatbestand der in keinem Strafgesetzbuch der Welt vorkommt. Lula ist ein politischer Gefangener. Während des Wahlkampfes wurden viele gefälschte Nachrichten verbreitet, die Brasilien mit einer Welle von Hass, Wut und sozialem Zerfall überfluteten. In dieser Situation öffnete die sehr vereinfachte Losung "Es muss sich etwas ändern" Jair Bolsonaro die Tür.

Mit einer elitären Wirtschaftsagenda, aber mit populistischen Versprechungen...

So ist es. Bolsonaro ist ein ehemaliger Soldat, unterstützt von den großen Machtgruppen der extremen Rechten, ohne jegliche Bildung, immer auf der Suche nach Konfrontation, er lobt die Folterer von einst, die Militärdiktaturen von Brasilien, Chile und Paraguay. Er beleidigte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und den französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Er stützt sich auf die Neo-Pfingstgemeinden und ihre Massenfernsehprogramme, mit denen Millionen von Menschen mit irreführenden und verzerrten Botschaften manipuliert werden. Er baute die von den Regierungen Lula und Dilma entwickelten Programme zur sozialen Integration rasch ab und beseitigte wesentliche Arbeitnehmerrechte. Viele verzweifeln im Land. Mehrere Analysten glauben, dass Bolsonaro seine Amtszeit nicht beenden wird, da die Oligarchen, die ihn unterstützt haben, nicht mehr an ihn oder an diese Art von extrem neoliberaler Wirtschaft glauben, ohne Wachstum und mit Einschränkung der produktiven Investitionen.

Wofür steht die Regierung Bolsonaro im Bereich der Menschenrechte?

Sie ist explizit homophob, sie äußert sich gegen die LGBT-Bevölkerung, aber auch gegen Schwarze und Indigene. Sie hat einen vulgären Kommunikationsstil à la Donald Trump via Internet, handelt autoritär und missachtet die Verfassung. Wir erleben die Realität einer postdemokratischen und gesetzlosen Gesellschaft. Da Folter und der allgemeine Zugang zu Schusswaffen und Gewalt verteidigt werden, hat letztere extrem zugenommen. Allein im vergangenen Jahr wurden mehr als 65.000 Morde registriert.

Was sind die Prioritäten für Menschenrechtsverteidiger und soziale Organisationen?

In diesem Zusammenhang müssen wir für die Grundrechte jener Menschen kämpfen, von denen Bolsonaro nie spricht und die er verachtet: die Arbeiterinnen und Arbeiter, die unterdrückten Minderheiten, die Ärmsten. In Sachen Menschenrechte kehren wir in die Ära der Militärdiktatur zurück, als es darum ging, das Leben der Gefangenen und Gefolterten zu retten. Heute wird die Welle der Gewalt von einem Präsidenten ausgelöst, der als Kandidat die Repressionen und Folterer lobte. Diejenigen, die Gewalt anwenden, insbesondere gegen die Armen und Schwarzen, fühlen sich von der obersten Autorität des Landes unterstützt. Bolsonaros Paranoia bringt ihn dazu, in jeder Opposition eine kommunistische Präsenz zu sehen und sich wie ein Opfer einer globalen Verschwörung zu fühlen. Er unterstützt die Abholzung im Amazonasgebiet, zu dem Minenunternehmen aus den USA und China uneingeschränkt Zugang haben, und verfolgt eindeutig eine Vision ohne Indigene. Die großflächigen Brandrodungen im Amazonasgebiet können sich auf den Segen des Präsidenten verlassen, was wiederum einen riesigen nationalen und internationalen Skandal verursacht hat.

Mit anderen Worten, es gibt eine Besinnung auf die Menschenrechte in ihrem ursprünglichsten Sinne?

In der vorherigen Phase hatten mehrere Akteure an der Basis bedeutende Fortschritte bei der Konzeptionierung und Förderung sozialer Rechte, der Rechte der Natur und von Mutter Erde erreicht. Meiner Meinung nach haben diese Themen inzwischen ihre zentrale Bedeutung verloren. Heute geht es um die Wahrung der grundlegenden Menschenrechte, die bedroht sind. Dennoch denkt man weiter auch über die Rechte der Natur nach, wie im Rahmen der Bischofssynode zu Amazonien2. Brasilien kann dank seiner Wälder und großen Flüsse, die als CO2-Absorptionsfilter dienen, einen bedeutenden Beitrag für den gesamten Planeten leisten.

Der nationalistische Rückzug, der von der brasilianischen Regierung vorangetrieben wird, fällt zusammen mit fremdenfeindlichen Projekten und Mauern gegen Migrantinnen und Migranten, die in anderen Teilen der Welt, in Europa oder in den USA, verstärkt werden...

Ich glaube wir erleben eine grundlegende Krise der Zivilisation, den Eintritt in eine Ära der Barbarei. Die Solidarität zwischen den Menschen wird schwächer und die Taubheit gegenüber den Schreien der Natur und der Erde nimmt zu. Wir stellen fest, dass wir keine Lösungen für die Probleme haben, die wir selbst geschaffen haben. In Wahrheit haben wir den Garten Eden in ein Schlachthaus verwandelt und der Mensch – anstatt ihn zu heilen – wird zum Satan der Erde. Wenn unsere globalisierte Zivilisation nicht alle einzuschließen vermag, wird sie sterben und eine beispiellose ökologische und soziale Katastrophe auslösen. Wir leben in einer humanitären Notlage, wo Menschen andere nicht als Menschen erkennen. Ich beziehe mich auf Menschen, die Respekt und Erfüllung ihrer Rechte verdienen. Ihre Verneinung stellt eine Art Todesurteil dar. Tatsächlich sterben viele jeden Tag, sei es in den Gewässern des Mittelmeers auf dem Weg nach Europa, oder unterwegs in Lateinamerika in Richtung USA.

Das Interview führte Sergio Ferrari in Zusammenarbeit mit der Schweizer Stiftung cooperaxion

  • 1. Petrópolis ist eine Großstadt im brasilianischen Bundesstaat Rio de Janeiro. 1857 erhob Kaiser Dom Pedro II den Ort zur Stadt
  • 2. Vom 6. bis zum 27. Oktober 2019 kamen im Vatikan Kardinäle, Bischöfe und Experten zusammen, um bei einer Sondersynode über "neue Wege für die Kirche und eine ganzheitliche Ökologie" im Amazonas-Gebiet zu sprechen