Multinationale Unternehmen zwingen Lateinamerika ihr Recht auf

Schiedsgerichte entscheiden in 62 Prozent der Streitfälle für die Konzerne. Mit dem Geld, um das es dabei geht, könnte die extreme Armut in 16 Ländern der Region behoben werden

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Die 327 Klagen gegen lateinamerikanische Staaten in den letzten 30 Jahren machen ein Viertel aller Fälle aus, die von Multis weltweit angestrengt wurden
Die 327 Klagen gegen lateinamerikanische Staaten in den letzten 30 Jahren machen ein Viertel aller Fälle aus, die von Multis weltweit angestrengt wurden

In den letzten 30 Jahren hat der Druck ausländischer Investoren auf die lateinamerikanischen Staaten von Tag zu Tag zugenommen, und die Zahl der Klagen wegen "Vertragsverletzung" seitens dieser Staaten hat sich vervielfacht. Von sechs bekannten Fällen im Jahr 1996 ist die Zahl bis heute auf 1.190 angestiegen.

In diesem Zeitraum wurden die Staaten zur Zahlung von 33,638 Milliarden Dollar verurteilt, die somit aus den öffentlichen Kassen verschwunden sind. Nach Angaben des Transnational Institute (TNI) mit Sitz in Amsterdam, Niederlande, ist dies ein Drittel mehr als die Verluste, die zwischen 1970 und 2021 durch die Auswirkungen von Klimakatastrophen auf dem Kontinent entstanden sind.

Laut dem jüngsten Bericht von Bettina Müller und Luciana Ghiotto vom TNI-Forschungsteam, der in der letzten Augustwoche veröffentlicht wurde und aktualisierte Daten bis 31. Dezember 2021 enthält, sind Argentinien, Venezuela, Mexiko, Peru und Ecuador mit 211 durch multinationale Unternehmen eingebrachten Klagen die Länder, die in den letzten drei Jahrzehnten am stärksten unter juristischem Druck gelitten haben.

Ein neoliberales Instrument, das Abhängigkeit fördert

Bilaterale Investitionsabkommen (BIT) sind die Instrumente, mit denen diese Ansprüche geltend gemacht werden können. Dabei handelt es sich um Abkommen zwischen zwei Ländern, die darauf abzielen, die Rechtssicherheit von Investoren zu schützen.

Wie die spanische Organisation Ecologistas en Acción erklärt, enthalten sie in der Regel eine Reihe von Standardbestimmungen, die für transnationale Unternehmen stets vorteilhaft sind und zum Beispiel die direkte oder indirekte Enteignung von Unternehmen verhindern. Sie enthalten nur selten Hinweise auf die Menschenrechte.

Die schädlichste Bestimmung ist zweifellos jene über die Beilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten (Investor-state dispute settlement, ISDS). Wenn ein Unternehmen der Ansicht ist, dass ein Staat die eine oder andere Klausel eines Abkommens nicht eingehalten hat, kann es sich der Justiz dieses Landes entziehen und internationale Gerichte anrufen.

Das Internationale Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (International Centre for Settlement of Investment Disputes, ICSID), das am häufigsten in Anspruch genommen wird, der Internationale Schiedsgerichtshof der Internationalen Handelskammer oder die Kommission der Vereinten Nationen für internationales Handelsrecht sind die Einrichtungen, an die sich große Unternehmen häufig wenden. Diese können den betroffenen Anlegern eine Entschädigung zuerkennen, die in den meisten Fällen auch entgangene Gewinne umfasst, das heißt die Gewinne, die dem Anleger nach seiner Berechnung durch die Maßnahmen des beklagten Landes entgangen sind und die der Kläger als Verletzung seiner Interessen ansieht.

Diese Abkommen, die von der spanischen Umweltorganisation als "ein grundlegendes Instrument der liberalen Globalisierung" bezeichnet werden, profitieren von drei Elementen, die ihr Wesen ausmachen:

- Die äußerst vage Formulierung der meisten dieser Rechtsinstrumente, die es ermöglicht, einen Staat aus fast jedem Grund zu verfolgen.

- Die undurchsichtigen und intransparenten Methoden, mit denen Fälle gelöst werden, die letztlich von internationalen Schiedsrichtern entschieden werden.

- Und schließlich, wie Ecologistas en Acción hervorhebt, "die Einseitigkeit und Ausschließlichkeit von ISDS, da Investoren Staaten anprangern können, aber die umgekehrte Situation nicht akzeptieren, das heißt, wenn es um Investoren geht, die gegen irgendeinen Teil des Abkommens verstoßen (oder wenn sie Menschenrechte verletzen)".

Auf der Website ISDS Impacts, die die Studie von TNI aufgreift, wird erklärt, dass "das System der Investor-Staat-Streitbeilegung in Tausenden von internationalen Verträgen enthalten ist". Es ist der Mechanismus, der es ausländischen Investoren ermöglicht, Regierungen vor internationalen Gerichten zu verklagen, wenn sie der Meinung sind, dass Änderungen in der Regierungspolitik – selbst solche, die dem Schutz der Umwelt oder der Gesundheit dienen – ihre Gewinne beeinträchtigen.

Transnationale Konzerne: Raubvögel

Dem TNI-Bericht zufolge machen die 327 Klagen gegen lateinamerikanische und karibische Staaten in den letzten 30 Jahren ein Viertel aller Fälle aus, die von multinationalen Unternehmen weltweit angestrengt wurden.

In der Region wurde die überwiegende Mehrheit (86,8 Prozent der Fälle) von US-amerikanischen, kanadischen und europäischen Anlegern eingereicht. Unter den Europäern vor allem aus Spanien, den Niederlanden, Großbritannien und Frankreich.

Drei von vier Fällen wurden vor das ICSID gebracht, eine der fünf Organisationen der Weltbankgruppe. Die Ergebnisse sprechen für sich: In 62 Prozent der entschiedenen Fälle haben die Unternehmen gegen die Staaten gewonnen, indem sie entweder einen günstigen Schiedsspruch erhielten oder von einer Vergleichsvereinbarung profitierten.

23 der 42 Länder Lateinamerikas und der Karibik haben bereits Erfahrungen mit dem strengen internationalen Schiedsgerichtssystem gemacht. Besonders heftig werden Argentinien (62 Klagen), Venezuela (55), Mexiko (38), Peru (31) und Ecuador (25) angegriffen.

Dieser Mechanismus zur Verfolgung der Staaten Lateinamerikas hat sich insbesondere zwischen 2011 und 2021 intensiviert. In diesem Zeitraum stieg die Zahl der Klagen von 91 auf 180 und verdoppelte damit die Gesamtzahl der Verfahren. Die meisten dieser Klagen wurden von multinationalen Unternehmen eingereicht, die in den Bereichen Bergbau sowie Öl- und Gasförderung tätig sind. Aber auch Unternehmen, die von Gas und Elektrizität sowie dem verarbeitenden Gewerbe profitieren, spielen dabei eine bedeutende Rolle.

Argentinien, das 87 Prozent der gegen das Land gerichteten Klagen verloren hat, hat damit auf dem Kontinent die meisten Niederlagen vor solchen Gerichten erlitten. Und es hält den Rekord für den Betrag, der in einem einzigen Fall gezahlt worden ist: fünf Milliarden Dollar, die im Rahmen einer Vergleichsvereinbarung an das spanische Unternehmen Repsol überwiesen wurden. Die verlorenen Gerichtsverfahren kosteten das südamerikanische Land 9,222 Milliarden Dollar, die es an die Investoren zahlen musste.

In 64 Prozent der gegen Venezuela ‒ das von internationalen Gerichten am zweithäufigsten mit Sanktionen belegte Land des Kontinents ‒ erhobenen Klagen war die Entscheidung negativ. Zugleich hat das Land den teuersten Schiedsspruch des Kontinents zu seinen Gunsten erhalten. Im Jahr 2019 verurteilte das ICSID-Tribunal den transnationalen Konzern Conoco Phillips zur Zahlung von 8,366 Milliarden Dollar.

Konkret in Geld ausgedrückt, sind die Staaten fast immer die großen Verlierer, stellt das Transnational Institute in seinem jüngsten Bericht fest. "Rechtsstreitigkeiten kosten sie Millionen von Dollar an Verteidigungs- und Prozesskosten". Selbst in Fällen, in denen die Schiedsgerichte zugunsten der Staaten entscheiden, ist es nicht ungewöhnlich, dass diese Millionen Dollar für die Beauftragung von Anwaltskanzleien für ihre Verteidigung ausgeben müssen, die bis zu 1.000 Dollar pro Stunde für die Beratung verlangen können. Ein emblematischer Fall ist der von Ecuador, das bis 2013 155 Millionen Dollar ausgegeben hat, um seine Rechtsverteidigung zu gewährleisten und die Kosten für das Schiedsverfahren zu tragen.

Die von den Unternehmen seit 1996 geforderten Beträge belaufen sich laut dem ausführlichen TNI-Bericht auf 240,733 Milliarden Dollar. Bei 68 der 327 Klagen sind die geforderten Beträge jedoch nicht bekannt, so dass diese Zahl deutlich höher ist. Die Gerichte haben die lateinamerikanischen Staaten bisher zur Zahlung von 33,638 Milliarden Dollar verurteilt.

Nach Berechnungen der Vereinten Nationen könnte mit diesem Geld das Drama der extremen Armut in 16 Ländern des Kontinents gelöst werden.

"Dieser Betrag ist höher als die Auslandsverschuldung von El Salvador, Nicaragua und Belize zusammen (Werte für 2020) und ist um ein Drittel höher als der Gesamtverlust, den die Region zwischen 1971 und 2021 durch Klimakatastrophen erlitten hat", erklärt TNI.

In Bezug auf die anhängigen Klagen (es ist nur bekannt, was die Unternehmen in 44 der 96 offenen Fälle an Ansprüchen geltend machen) könnte dies für Lateinamerika und die Karibik zusätzliche Verluste in Höhe von 49,626 Milliarden Dollar bedeuten. Dies ist die unverblümte und dramatische Realität eines ungleichen Kampfes.

Es ist etwa so, als kämpften im Ring zwei Akteure (ein Boxer und der Schiedsrichter) gemeinsam gegen den anderen Boxer, der durch die Hiebe von vier Fäusten K.o. geschlagen wird.

Der Beitrag ist zuerst erschienen bei lateinamerika anders Nr. 4, Dezember 2022