Widerstand gegen das Privatisierungsmodell

Camila Vallejo: "Wir verstehen den Kampf der Indignados, aber in Chile haben wir die Schwelle der Unzufriedenheit überschritten"

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Camila Vallejo auf einer Demonstration am 18. August
Camila Vallejo auf einer Demonstration am 18. August

Unmittelbar vor dem Nationalen Aktionstagen der Studierenden in Chile, dem "Paro Nacional", besuchte eine Delegation des Studierendenverbandes Europa. Am 18. Oktober 2011 führte die BBC ein Interview mit Camila Vallejo in Paris, dessen deutsche Übersetzung wir hier veröffentlichen.


Die Sprecherin von Confech, dem Dachverband der chilenischen Studenten, ist überzeugt, dass die Forderungen der Studenten nicht spontan aufkamen, sondern die Folge eines langwierigen Prozesses sind, bei dem die gegenwärtige Situation Chiles und die darin existierenden Ungerechtigkeiten untersucht wurden. Sie fordert, dass man jetzt “nach vorne schauen müsse, um eine Alternative für das Land aufzuzeigen”. Gleichzeitig drückt sie ihren Wunsch aus, auch in Zukunft “die Bewegung mitgestalten zu wollen, weil erstmalig die Belange einer einzelnen Gruppe sich zu einer sozialen Bewegung ausgeweitet haben, die viele Bevölkerungsschichten miteinbezieht”.

Nach ungefähr sechs Monaten des Protestes, bestimmt die Studentenbewegung, zu deren Forderungen eine öffentliche und kostenfreie Bildung gehört, weiterhin die politische Agenda des Landes. Diesen Dienstag begann ein weiterer 48stündiger Streik. Studierende, Professoren, Umweltschützer und die Central Unitaria de Trabajadores, eine der wichtigsten Gewerkschaften Chiles, unterstützen den Protest, der bei den geplanten Demonstrationen am Mittwoch Nachmittag seinen Höhepunkt erreichen wird.

Am Vorabend der Mobilmachung sprach BBC World in Paris mit Camila Vallejo, Vorsitzende der Studierendenföderation der Universidad de Chile, eine der Führungsfiguren der Bewegung. Vallejo, eine 22jährige Geographiestudentin, hält sich zusammen mit anderen drei Studierendenvertretern seit Freitag in Europa auf, um ihre Forderungen darzulegen, sowie um zu versuchen, die Bewegung zu “internationalisieren”.

Sie sind nach Europa gekommen, um sich mit internationalen Organisationen und mit Intellektuellen zu treffen. Welche der Ratschläge, die man Ihnen von Seiten der Intellektuellen mitgegeben hat, hat Ihnen am besten gefallen?

Camila Vallejo: Der Philosoph Edgard Morin hat uns Mut zugesprochen. Er sagte, dass eine höhere Bildung nicht marktabhängig sein dürfe, sondern dass sie gewährleistet werden müsse, weil sie für die Entwicklung der Länder unabdingbar sei. Und Stéphane Hessel, der Autor des Buches “Empört Euch!”, ermunterte uns, unsere Kommunikation weiter auszubauen, um unsere Anliegen einer weltweiten Öffentlichkeit bekannt zu machen und um unsere Ansichten in allen Medien zu verbreiten.

Wenn wir von Stéphane Hessel sprechen, glauben Sie, dass die chilenische Studentenbewegung in irgendeiner Weise mit Sozialbewegungen, wie die der Indignados oder der Occupy Wall Street verwandt ist?

Die chilenische Studentenbewegung ist kein Teil der Bewegung der Indignados. Sie ist keine spontane Bewegung, sondern Folge eines lang andauernden Prozesses, bei dem die aktuelle Situation Chiles und die darin vorkommenden Ungerechtigkeiten untersucht wurden.

Wir verstehen den Kampf der Indignados, aber in Chile haben wir die Schwelle der Unzufriedenheit bereits überschritten. Jetzt müssen wir nach vorne schauen, um eine Alternative für das Land aufzubauen.”

In Anbetracht der Tatsache, dass es auch in anderen Staaten Proteste der Studierenden gibt, wie glauben Sie, dass die Bewegung internationalisiert werden kann?

Die unterschiedlichen Bewegungen – in Chile, Kolumbien, Brasilien, Frankreich, Spanien – sind nicht durch Nachahmung entstanden, sondern jede einzelne hat ihre jeweiligen Besonderheiten. Aber sie präsentieren sich als etwas Einheitliches. Es ist der Kampf der Leute, die sich aufmachen, um ein anderes Gesellschaftsmodell, sowohl auf nationaler, als auch auf internationaler Ebene aufzubauen. Es existiert ein Zusammenhang zwischen ihnen und der besteht im Widerstand gegen das Privatisierungsmodell bzw. im Aufbruch sich das Recht auf Widerstand zu erkämpfen.

In Frankreich sind wir mit Vertretern der UNEF (Nationale Union der Studierenden in Frankreich) zusammengekommen. Wir konnten uns ein Bild machen über den Bewusstseinsbildungsprozess, den sie durchlaufen, um sich gegen verdeckte Privatisierungen zu wehren, welche die Regierung durchführen will. Wir durchleben unterschiedliche Prozesse, aber wir verfolgen die gleichen Ziele und es existiert eine internationale und solidarische Verbindung zwischen den Jugendlichen.

Welches Bildungsmodell ziehen Sie für Chile in Betracht?

Die Studierenden wollen nichts kopieren. Chile denkt an ein eigenes Modell, das kostenfrei ist und die Integration aller erlaubt. Wir wünschen uns eine Bildung, die die Gesellschaft verändern kann und die Berufstätige hervorbringt, die imstande sind, eine Demokratie aufzubauen.

Wie sehen Sie die Zukunft der Studentenbewegung?

Die Studentenbewegung befindet sich nach fünf Monaten der Mobilisierung in einer entscheidenden Phase. Wir müssen uns überlegen, wie wir weiter taktisch vorgehen, damit die Bewegung bestehen kann. Heute ist der Dialog mit der Regierung abgebrochen. Sie wird die Reformen der Studierendenbafögs ausarbeiten, die sie durch das Parlament bringen möchte, aber sie schließt uns von dieser Debatte aus.

So kommt es, dass wir nicht nur dem Parlament misstrauen, sondern dass sich unsere Arbeit auch dagegen richten muss. Wir wollen nicht, dass das Parlament den Haushaltsplan verabschiedet, solange es keine Gesetzesvorlagen hervorbringt, die im Bildungsbereich im gegenseitigen Einvernehmen mit den Vorstellungen der Studierenden stehen.

Befürchten Sie nicht, dass Ihre herausragende Rolle sich eher zum Nachteil der Studentenbewegung als Ganzes auswirkt?

Die Personifizierung der Bewegung liegt in der Verantwortung der Politiker und der Medien. Das ist eine Strategie, die sehr häufig bei sozialen Bewegungen angewandt wird. In Chile wird sie sehr oft eingesetzt, und ich glaube auch in anderen Ländern.

Bei Kuba redet man vom Castrismo, bei Venezuela vom Chavismo. Alles wird mit den mutmaßlichen Führungsfiguren personifiziert, und man will nicht sehen, dass es ein Prozess ist, der von einer Mehrheit getragen wird. Im Grunde versucht man so die Bewegung zu zerstören. Auf diese Weise sind wir am meisten verwundbar. Mir hat man vorgeworfen, dass ich von der Kommunistischen Partei manipuliert, und dass ich für meine Interviews bezahlt werden würde. Sie meinten, dass ich aus dem Ganzen persönlich profitieren würde.

Sie stehen kurz vor dem Studienabschluss. Wollen Sie sich trotzdem weiter an der Bewegung beteiligen?

Bei studienbezogenen Themen will ich mich weiterhin beteiligen, das hängt aber auch vom Ausgang der nächsten Wahlen im FECh ab. Mit allen Freunden und Weggefährten, die weniger medial bekannt sind, wollen wir die Bewegung weiter aufbauen. Und wir wollen sie politisch gestalten, weil zum ersten Mal die Belange einer einzelnen Gruppe sich zu einer Sozialbewegung ausgeweitet haben, die viele Bevölkerungsschichten umfasst.”

Denken Sie auch an eine politische Karriere?

Ich engagiere mich und bin bereit mich beim Aufbau dieser oder anderer Bewegungen einzubringen. Im Umfeld der nächsten Wahlen glaube ich, dass sich alle Jugendliche mehr einbringen müssen, sie sollten sich in die Wählerverzeichnisse eintragen und für die Stadträte kandidieren. Sie sollten sich mit den von Rechten regierten Rathäusern auseinandersetzen und mit allen, die mit unseren richtigen Ansätzen nicht einverstanden sind.

Heutzutage sind die jungen Menschen politisch interessiert, und sie sollten auch Verantwortung übernehmen. Wir müssen uns engagieren und uns bei Projekten beteiligen. Und deswegen müssen wir uns, bei einem richtigen Verständnis des Wortes, zur Machtausübung berufen fühlen.