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Weihnachtsente: Tränengas gegen Kinder in Bolivien

Medien dramatisieren Rangelei von Kinderarbeitern mit Sicherheitskräften. Präsident Morales nach Treffen für Stärkung der Rechte arbeitender Kinder und gegen Altersbeschränkung

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Titelblatt von "El Diario" mit Foto von attackierter Polizeisperre vor Bannmeile an der "Plaza Murillo" in La Paz
Titelblatt von "El Diario" mit Foto von attackierter Polizeisperre vor Bannmeile an der "Plaza Murillo" in La Paz

Kurz vor Weihnachten hat eine Falschmeldung über mutmaßliche Polizeigewalt gegen demonstrierende Kindergewerkschafter (UNATSBOL) in Bolivien ihre Reise durch die internationale Medienlandschaft angetreten.

Das vom paneuropäischen Nachrichtennetzwerk Euronews vergangene Woche verbreitete Bildmaterial erweckt mit einem verzerrenden und stark dramatisierenden Schnitt beim Zuschauer den Eindruck, staatliche Sicherheitskräfte der Antiaufstandseinheit UTOP der bolivianischen Polizei seien mit Gewalt gegen Minderjährige vorgegangen. "Die Polizei setzte Trängengas ein", behauptete ohne einen einzigen Beweis die laut Eigenbeschreibung "meistgelesenste Nachrichtenagentur in Europa". Auch bolivianische Zeitungen wie die schon mehrfach wegen Regierungsbashing aufgefallene "Página Siete" und "El Diario" verbreiteten die Nachricht von der unbewiesenen Polizeigewalt.

Konnte kein Medium Bilder von knüppelnden Uniformierten und tränengasschwangerer Luft liefern, legen ungeschnittene Aufnahmen, unter anderem ausgestrahlt vom französischen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender TF1, andere Schlüsse vom aufgebauschten Vorgang ab. Unter Anwesenheit einer Handvoll von Fotojournalisten und TV-Kameras auf beiden Seiten der Polizeisperre vor der Demonstrationsbannmeile vor Parlament und Regierungspalast an der "Plaza Murillo" waren zwei Jugendliche über die Eisengitter gesprungen, wobei Demonstranten auf die Beamten eingeschlagen und sie mit Gegenständen beworfen hatten. Diese Jugendlichen wurden anschließend, ohne sichtlichen Einsatz besonderer Gewalt, in Gewahrsam genommen. 

Aus Rangeleien mit offensichtlich defensiven Sicherheitskräften und dem Versuch der Demonstranten, die Straßensperre zum Präsidentenpalast und Parlamentsgebäude niederzureissen, wurde bei Europress sogar die Meldung, "gut 150 Kinder" hätten sich "Straßenschlachten mit der Polizei" geliefert. Auch deutsche Medien nahmen das Weihnachtsdrama über den unchristlichen Polizeieinsatz mit "Tränengas und Knüppeln" gegen demonstrierende Kinderarbeiter am bolivianischen Regierungssitz ungeprüft auf, darunter Spiegel Online und die TAZ, wobei erstere das ungeschnittene Bildmaterial mitlieferte.

Bei Anti-Demonstrationseinsätzen gegen große Menschenmengen verschießt UTOP gewöhnlich Tränengas-Kartuschen aus speziellen Abschussvorrichtungen. Diese sind bei der Demonstrantion der rund 100 demonstrierenden Kindergewerkschaftlern nicht zum Einsatz gekommen. "Das waren nicht nur Kinder, sondern Jugendliche und Erwachsene, was es hier abzulehnen gilt ist doch die Tatsache, dass Erwachsene Kinder und Heranwachsende benutzen, um Gewalt zu provozieren", verneinte auf einer anschließenden Pressekonferenz postwendend der Polizeichef von La Paz, Luis Cerruto jeglichen Einsatz chemischer Substanzen. Auch der Einsatz von Knüppeln ist weder fotographiert noch gefilmt worden. Tatsächliche Übergriffe der Polizei würden natürlich immer untersucht, zitiert die regierungskritische Tageszeitung "El Deber" Cerruto in einem Artikel mit dem wahrheitswidrigen Titel "Polizei rechtfertigt Tränengaseinsatz gegen Kinder".

Dabei versucht Bolivien die im zweitärmsten Land Südamerikas weit verbreitete Kinderarbeit endlich menschlicher zu gestalten. Nach Verhandlungen zwischen der Gewerkschaft der Kinderarbeiter (UNATSBOL) und der regierenden Bewegung zum Sozialismus“(MAS) einigten sich die Konfliktparteien schließlich auf Verbesserungen. Wie die staatliche Tageszeitung "Cambio" mitteilte, ist eine der wichtigsten Forderungen der Kindergewerkschaft, die Vereinbarkeit von Arbeit, Bildung und Gesundheitsversorgung, gesichert.

Die Kindergewerkschaft war gegen die geplante Einschränkung von Kinderarbeit auf die Straßen gegangen, wobei es am Regierungssitz La Paz zu den besagten Scharmützeln mit der Polizei kam. Das "Gesetz für Jungen, Mädchen und Jugendliche" (NNA), das vergangene Woche von der Abgeordnetenkammer verabschiedet und an den Senat weitergeleitet worden war, hatte das Mindestalter für Kinderarbeit auf 14 Jahre festgelegt. Diese Regelung sei jedoch ohne UNATSBOL beschlossen worden, so die Kritik.

Viele Kinder unter 14 Jahren würden damit ihre Lebensgrundlage verlieren, brachten die Kindergewerkschaftler vor. Nach einem dreistündigen Treffen mit Senatspräsidentin Gabriela Montaño zwei Tage vor Weihnachten wurde den Kindern mehr Einfluss auf das NNA-Gesetz zugesagt. Der Senat werde die Kinderarbeiter ab Anfang Januar 2014 anhören und die Norm in ihrem Sinn überarbeiten. Einen Tag vor Weihnachten traf sich auch Präsident Evo Morales mit den UNATSBOL-Vertretern. Aus eigener Erfahrung sei er gegen eine Altersbeschränkung von Kinderarbeit, sie gehe an der Realität des Landes vorbei: "Die Arbeit von Mädchen, Jungen und Heranswachsenden sollte nicht verboten werden, aber sie sollten auch nicht ausgebeutet oder dazu verführt werden", so Morales, der als Kind unter anderem auf argentinischen Zuckerrohrfeldern arbeitete.

In der deutschsprachigen Presse wurden die Äußerungen von Morales mit Schlagzeilen wie "Morales findet Kinderarbeit akzeptabel" (STERN, Berner Zeitung), "Boliviens Präsident Morales: Kinderarbeit OK" (Wirtschaftsblatt) oder "Bolivien: Präsident Morales hält Kinderarbeit für legitim" (ZEIT) dann noch als Nachtisch zur Weihnachtsente serviert.

Das geplante NNA-Gesetz bringt für die rund 850.000 arbeitenden Kinder (28 Prozent aller Kinder im Alter von fünf bis 17 Jahren) Boliviens eindeutige Verbesserungen. So wird das Recht auf Ausbildung gestärkt, Arbeitgeber müssen zwei Stunden täglich bei Lohnfortzahlung den Besuch einer Bildungsstätte sicherstellen. Familie und Kinderarbeiter müssen den Schulbesuch garantieren und einen Zeitplan erarbeiten, der Arbeit und Schule unter einen Hut bringt. Auch wird erstmals die Lohngleichheit zwischen Erwachsenen und Kindern festgeschrieben. Die Mitgliedschaft in einer Krankenversicherung wird Pflicht.