Puerto Rico: "Die Welt wird nicht erfahren, was hier passiert"

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Zerstörte Häuser in Punta Diamante/Ponce, Puerto Rico
Zerstörte Häuser in Punta Diamante/Ponce, Puerto Rico

Eine Kurznachricht auf Democracy Now1 vom 20. Oktober: "Einen Monat nachdem der Hurrikan Maria als ein Kategorie-4-Sturm Puerto Rico heimsuchte, haben ungefähr drei [von 3.4] Millionen Bewohnern noch immer keinen Strom und mehr als ein Million immer noch kein sauberes Trinkwasser. Die offizielle Todeszahl lautet jetzt 48. Mindestens 113 Menschen werden noch vermisst. Auf der ganzen Insel sagen Bewohner, dass sie Augenentzündungen und Magen-Darm-Krankheiten wegen kontaminiertem Wasser haben. Am Donnerstag sagte US-Präsident Donald Trump, seine Administration verdiene die Bestnote zehn für ihre Reaktion auf die aktuelle humanitäre Krise in Puerto Rico."

Einen Tag vor Trumps Eigenlob brachte Democracy Now ein Interview mit der Community- und Hip-Hop-Aktivistin Rosa Clemente, die in Puerto Rico gerade mit anderen Medienarbeitenden ein unabhängiges Rechercheprojekt gestartet hatte. In der Einleitung zu Ausschnitten aus einer Videodokumentation von Clemente sagte die Interviewerin Amy Goodman: Einen Monat nach Maria "haben verzweifelte Anwohner begonnen, Wasser aus der Dorado Groundwater Contamination Site, einer Sondermülldeponie, zu pumpen. Die US-Umweltbehörde EPA warnt, dass das Wasser Chemikalien enthalte, die die Leber schädigen und das Krebsrisiko erhöhen". Als sie in der Sondermülldeponie filmten, berichtet Clemente, "kam ein Soldat zu uns und sagte: ‘Schaut, zieht eure Strümpfe hoch. Das sind Chemikalien.‘ Er sagte, er sei in Afghanistan und Irak gewesen und habe nie derart viel Inkompetenz von der Spitze bis runter zu den Gemeinden gesehen."

Clemente weiter: "Die Menschen in Puerto Rico sterben. Man will ein Puerto Rico ohne Puerto-Ricaner. Von kontaminiertem Wasser zu Müttern, die keine Milch geben können, zu Babys, die zerstampfte Bananen essen müssen, weil keine Babynahrung erhältlich ist, zu Menschen, die von drei Uhr früh bis ein Uhr nachmittags für zwei Pack Eis Schlange stehen – das sind massive Menschenrechtsverletzungen. Dies ist ein Kolonialproblem. Und nach dem, was wir gesehen haben, ist die Regierung von Puerto Rico kollabiert. Und wir konnten mit einem Hyundai und einem Kia an Orte fahren, von denen die Armee sagt, sie könne sie nicht erreichen, nach Aguadilla, Moca, Utuado. Die Leute haben nicht ein Zehntel davon gesehen, was in all diesen Orten passiert."

Sie filmte in Puerto Rico auch Freiwillige der American Nurses United (Vereinigung von Krankenpflegepersonal), von der eine sagte: "Wie sage ich einer Mutter, dass sie ihrer Zweijährigen, die Dauerdurchfall hat, kein Wasser geben soll, weil das die Kleine krank macht? Ich habe nichts, was ich anbieten könnte. Niemand kommt dorthin. Sie lebt auf dem Berg."

Zu den Krankenschwestern meint Clemente: "Sie fürchteten einen Choleraausbruch, Leptospirose von all den Ratten, toten Tieren, im Wasser. Und sie teilten uns mit, dass die USNS Comfort [Spitalschiff der Navy], die dort liegt, 3.000 Patienten aufnehmen kann und zurzeit deren 16 hat. Eine persönliche Erfahrung: Meine Tante war im Spital in Bayamón. Sie ließen mich für zehn Minuten mit einem Schutzanzug zu ihr. Und die Schwester sagte: 'Sogar wenn du eine möglicherweise tödliche Infektion hast, können wir nicht operieren, weil wir kein Wasser haben.' Die Leute müssen evakuiert werden, und die Comfort liegt da einfach vor Anker mit weniger als 20 Leuten von 3.000.“ (Nach dem Wirbelsturm Katrina 2005 ankerte das 600-Betten-Spitalschiff Bastian der Navy vor der Küste von New Orleans und blieb untätig. Es wurde schließlich abgezogen.)

In der gleichen Sendung wurde ein Aufruf der Bürgermeisterin von San Juan, Carmen Yulín Cruz, an die puerto-ricanische Diaspora in den USA eingespielt: "Wenn man über 50 ist, darf man ein wenig emotional werden. Deshalb werde ich das so sagen, wie ich es sagen kann. An all die jungen Leute da draußen, an die Diaspora: Verdammt, lasst uns nicht allein. Erhebt eure Stimme, damit sie das Echo unserer Stimmen sei. Ohne euch sind wir geliefert. Die Welt wird nicht erfahren, was hier passiert, wegen der Verrenkungen eines Mannes, der nichts anderes kann, als seinen Hass herum zu tweeten. Aber wir dürfen das nicht zulassen. Also liegt es an uns, aber auch an euch, denn schließlich sind wir eine Nation. Eine Nation." Rosa Clemente sagte zur Bürgermeisterin: "Carmen Yulín Cruz ist die De-facto-Leaderin von Puerto Rico geworden. Sie ist die Stimme der Bürgermeister, die bis heute keine Walkie-Talkies erhalten haben."

Ende September war in der Los Angeles Times zu lesen: "Ungefähr hundert Leute starben nach Angaben des lokalen Bestattungsdirektors in den drei Tagen nach dem Sturm in der Lajas-Region, doppelt so viel wie normal: 'Wir wissen nicht, ob sie nicht genügend Medikamente oder Sauerstoff hatten – alle waren ohne Strom.'"

Am 11. Oktober berichtete der Guardian: "Offizielle der Fema sagen, dass die Regierung und ihre Partner nur 200.000 Mahlzeiten pro Tag verteilen, um die Bedürfnisse von mehr als zwei Millionen Menschen abzudecken. Es fehlen pro Tag zwischen 1,8 und 5,8 Millionen Mahlzeiten."

Am 24. September 2017 berichtete die New York Times: "Binnen Stunden löschte Wirbelsturm Maria 80 Prozent der Ernteerträge aus."

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Yarimar Bonilla ist Karibikspezialistin an der Rutgers University (New Jersey). In einem Beitrag in der Washington Post vom 22. September 2017 erinnert sie sich an ein Interview mit einer Fondsmanagerin in Puerto Rico vom letzten Sommer, die "das wirtschaftliche Klima extrem optimistisch" einschätzte. Sie hatte, einen Zahlungsausfall der Insel vorwegnehmend, die Kundengelder in lukrative US-Aktien geleitet. Denn seit der Wahl von Trump seien die Kurse am Steigen. Die Finanzmanagerin machte in diesem Kontext noch folgende Aussage: "Das Einzige, was wir jetzt noch brauchen, ist ein Wirbelsturm." Bonilla erklärt: "Sie bezog sich darauf, dass solche Naturkatastrophen Bundesgelder mitbringen und sich oft als Segen für die Bauindustrie erweisen." Sie habe ihr, Bonilla, geraten, Aktien von Home Depot (größtes US-Baumarkt-Unternehmen) zu kaufen.

Die Stromversorgung liegt nach Hurrikan Maria wörtlich am Boden. Kein Wunder, das staatliche Elektrizitätswerk Prepa hatte zwar jahrelang Schulden gemacht, aber das Geld nicht in die Infrastruktur investiert. Die Prepa wurde auch bewusst heruntergewirtschaftet, um die "Notwendigkeit" ihrer Privatisierung zu unterstreichen. Wie segensreich eine solche wäre, zeigt folgende Begebenheit, wie sie Berta Joubert-Ceci in Mundo Obrero, einem Blatt einer linken Gruppe in den USA, beschreibt: "Nach dem Sturm herrschte der Schaden wegen umgestürzter Leitungsmasten und niedergerissener Kabel vor. Aber das ist nicht alles. Der Mangel an Material im Inventar entblößte den gescheiterten Plan des US-Unternehmens AlixPartners, eines Plans, für den Prepa 45 Millionen US-Dollar zahlte. Er sah vor, das Elektrizitätswerk zu "restrukturieren", so dass sie ihren Anteil von neun Milliarden Dollar an den Staatschulden zahlen könne. Das bedeutete, ein Minimum an Inventar – von Brennstoff bis zu den Masten – um die Ausgaben zu drücken (…) Jetzt, nach dem Sturm, hat Gouverneur Ricardo Rosselló unter der Leitung des Ingenieurkorps der Armee (ACE), das Puerto Rico zwecks Wiederherstellung des Energiesektors aufgezwungen wurde, eine Reihe US-Unternehmen unter Vertrag genommen, um Prepa gegen den Widerstand der Stromarbeitergewerkschaft UTIER zu privatisieren." 2

Laut Berta Joubert-Ceci, die sich auf die Aussagen des ehemaligen UTIER-Präsidenten Ricardo Santos stützt, weigert sich die Regierung, die wichtige Palo Seco-Stromanlage in der Nähe der Hauptstadt San Juan wieder hochzufahren, um so die Bevölkerung für die Privatisierungspläne zu gewinnen. Santos zufolge ist die Anlage aber betriebsbereit. Doch Gouverneur Rosselló habe einen Vertrag mit Western Solutions angekündigt, wonach das Unternehmen einen Dieselgenerator installieren und für sechs Monate für 35 Millionen Dollar vermieten werde, um die Palo-Seco-Region mit 50 Megawatt zu versorgen. Palo Seco könne dagegen dreimal so viel Strom für wesentlich weniger Geld liefern. Laut Bloomberg vom 19. Oktober installiert das Unternehmen APR zwei Mietgeneratoren in "einer San-Juan-Anlage". ACE gab am 16. Oktober bekannt, einen 240-Milliionen-Dollar-Auftrag für die Reparatur des Stromnetzes an die von Irak und New Orleans her berüchtigte texanische Fluor Corporation vergeben zu haben.

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Das Pentagon-Medium DoD News berichtet am 16. Oktober 2017: "'Als ich vor zwei Wochen hierher kam, hatten wir 25 Helikopter und 4.500 Mann', sagte der General [Jeffrey S. Buchanan] in einem Telefoninterview von der Insel. 'Jetzt haben wir 68 Helikopter und 14.300 Mann.'"

Das puerto-ricanische Rechercheteam des "Zentrum für Investigativen Journalismus" (CPI)3 veröffentlichte am 10. Oktober 2017 einen Artikel von Joel Cintrón Arbaseti über private Sicherheitsunternehmen, die jetzt auf der Insel aktiv wurden. Da wäre Ranger America, die mit Fema zusammenarbeitet und etwa für Einzelhändler, Supermärkte und die Regierung arbeitet. Academi, so der neue Name für Blackwater, die mit dem Pentagon- und US-Geheimdiensten verflochtene Söldnerorganisation, die in Irak massakrierte und in Katrina-New-Orleans gegen die Armutsbevölkerung operierte, "ist bereit [nach Puerto Rico] zu gehen", wie Paul Donahue von der Academi-Besitzerin Constellis dem CPI bestätigte. Man warte nur noch auf das Regierungs-Okay für den Geschäftsvorschlag von Academi. Diese ist schon auf den Karibikinseln Dominica und Saint Martin aktiv. Eine weitere US-Sicherheitsfirma, die Whitestone Group, sucht für den Inseleinsatz "pensionierte Soldaten mit Waffenbewilligung für sofortige Reaktionen in Puerto Rico" für einen Wochenlohn von 2.400 Dollar plus Unterkunft und Ernährung. Auch Whitestone war schon in New Orleans aktiv gewesen. Der Journalist beschreibt das martialische Auftreten schwerbewaffneter und vermummter Mitglieder solcher Sicherheitsunternehmen rund um die Shopping Mall Ciudadela in San Juan.

Oberst James DeLapp vom ACE ist mit der Reparatur des Stomnetzes befasst und erinnert sich: "Wir hatten eine sehr ähnliche Situation nach der Eröffnung des Irakkrieges. Das erinnert sehr an jene Sorte von Einsatz" zur Behebung der Schäden.

Im oben erwähnten Interview erzählte Rosa Clemente auch von ihrem Besuch in der Stadt Utuado: Dort "gingen wir zum Fema-Center. Sie waren nicht darauf aus zu sagen, wo es lag. Es gibt keinen Wegweiser dorthin. Ein Nationalgardist zeigte uns den Weg: 'Da lang, dann da.' Wir gelangten dorthin. Es gab etwa 40.000 Essensportionen, die nicht an die Leute verteilt worden sind. Aber es gab eine vollständige militärische Besetzung der Stadt. Wir fragten die Leute: 'Warum? Was meint ihr?' Sie sagten: 'Es gibt Kupfer. Es gibt möglicherweise Uran in den Minen. Deswegen wollen sie diese Stadt einnehmen, wisst ihr, diesen Teil der Insel.'"

Die oben erwähnte Berta Joubert-Ceci berichtete in einem weiteren Artikel von den Hilfesendungen aus der Diaspora nach Puerto Rico: "Aber einmal dort angekommen, macht sich Fema verantwortlich für die Sendungen und erschwert ihre Verteilung. Tausende von Containern bleiben in den Häfen liegen."  Fema macht die Straßenverhältnisse und "arbeitsfaule puerto-ricanische LKW-Fahrer" für den Missstand verantwortlich. Doch die Fahrer beklagen sich, dass sie keine Arbeitsaufträge erhalten, obwohl sie, um kostbares Benzin zu sparen, tage- und nächtelang vor den Häfen ausgeharrt haben.

  • 1. Unabhängiges US-amerikanisches Politikmagazin im nichtkommerziellen Rundfunk, das international von über 700 Hörfunk-, Fernseh- und Internetsendern übernommen wird
  • 2. AlixPartners: ursprünglich auf Unternehmenssanierungen spezialisierte Consulting-Firma im Besitz der Private-Equity-Firma CVC Capital Partners. ACE: Ingenieurkorps der US-Armee, berüchtigt u. a. wegen ihrer Komplizenschaft bei korrupten milliardenschweren Aufträgen für führende US-Unternehmen wie Halliburton beim "Wiederaufbau" des Irak nach seiner Besetzung. ACE hatte auch die Dämme in New Orleans gebaut, die nach Katrina 2005 brachen. Für ihren "Wiederaufbau" bedachte ACE, genauso wie Fema, die gleichen Multis – Bechtel, Halliburton, Fluor etc. – mit Großaufträgen, die schon in Afghanistan und Irak abgesahnt hatten (Quelle: Vorwärts, 16.9.05)
  • 3. Das CPI hat auf seiner Homepage auch wichtige Artikel (spanisch und englisch) über die Eigentümer der puerto-ricanischen Schuldenpapiere veröffentlicht. Vor allem riesige Hedgefonds und die Banken Santander und UBS. UBS verlangt von Puerto Rico eine Zahlung von 1,2 Milliarden Dollar im Zusammenhang mit Gemeindeanleihen, die sie, als sie ihren Schrottcharakter erkannte, aus dem eigenen Portfolio abstieß – primär an Rentner, die ihr bisschen Erspartes dabei verloren, weil sie sich von der UBS zum Kauf dieser "bombensicheren" Papiere hatten überreden lassen. Die UBS ist für diese von ihre "sichere Landung" genannte Operation schon mit 1,1 Milliarden bestraft worden und gewärtigt eine weitere Milliarden-Buße