Nicaragua / Politik

Unruhen in Nicaragua: Zeit für Dialog und Versöhnung frei von äußeren Einflüssen

Eine Stellungnahme von Chuck Kaufman vom Nicaragua Network/Alliance for Global Justice aus den USA zur aktuellen Entwicklung in Nicaragua

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Sandinistas demonstrierten am 9. Mai erneut gegen die Ǵewalt kleiner regierungsfeindlicher Gruppen in Nicaragua
Sandinistas demonstrierten am 9. Mai erneut gegen die Ǵewalt kleiner regierungsfeindlicher Gruppen in Nicaragua

Bevor ich zur Analyse der aktuellen Krise und Unruhen in Nicaragua komme, möchte ich kurz auf einige Leserreaktionen eingehen. Aus einigen der E-Mails wurde ersichtlich, dass es viele Menschen gibt, die die Rolle von Nicaragua Network/Alliance for Global Justice in der internationalen Solidaritätsbewegung nicht verstehen. Das Nicaragua-Network wurde im Februar 1979, sechs Monate vor dem Sieg der Revolution, gegründet, um die bestehenden lokalen Komitees in Solidarität mit der von der Sandinistischen Front für die Nationale Befreiung geführten bewaffneten Aufstände gegen die Somoza-Diktatur zu koordinieren. Wir wurden nicht von der Frente geleitet und wir rieten der Frente nicht, wie sie ihren Kampf oder die revolutionäre Regierung, die auf den Sieg folgte, ausrichten sollte. Wir erlebten gemeinsam mit unseren Schwestern und Brüdern in Nicaragua Freude und Trauer, aber unser Job, wie er von zahlreichen Nicaraguanern gegenüber vielen Gruppen von uns Gringos zum Ausdruck gebracht wurde, bestand eher darin, "unsere eigene Regierung zu wechseln".

In den 39 Jahren seit unserer Gründung hat sich Nicaragua Network/Alliance for Global Justice nicht verändert. Wir sind nicht Teil des Menschenrechts-Industriekomplexes geworden, der arrogant ein liberales Verständnis der individuellen Rechte des 18. Jahrhunderts durchsetzen will, das den US-amerikanischen und europäischen Kolonialinteressen dient. Wir sind Teil der antiimperialistischen Bewegung, die sich unter allen Umständen ausnahmslos gegen eine Intervention der USA in die souveränen Angelegenheiten anderer Nationen ausspricht. Es gibt keine humanitären Interventionen. Dies war und ist eine Lüge.

Nicaragua liegt uns sehr am Herzen. Wir freuten uns über den steigenden Lebensstandard und die Wiederherstellung der sozialen Rechte auf Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnen und angemessene Ernährung seit der Rückkehr der FSLN an die Macht durch demokratische Wahlen im Jahr 2007. Wir sind zuversichtlich, dass die Nicaraguaner selbst ihre gegenwärtige Krise friedlich lösen werden und dass unsere Meinungen darüber, wie sie dies tun sollten, unter Freunden und Familie gut zum Ausdruck gebracht werden kann, aber in öffentlichen Foren nicht hilfreich oder angemessen ist.

Wir sehen und erkennen an, dass die Regierung Nicaraguas und die nationalen Sicherheitskräfte Entscheidungen getroffen haben oder nicht getroffen haben, die zur aktuellen Krise beigetragen haben. Man müsste blind oder dumm sein, um etwas anderes zu glauben. Man müsste aber auch blind oder dumm sein, um zu glauben, dass jahrelange Ausbildung und finanzielle Unterstützung für die antisandinistische Zivilgesellschaft und die Ausbildung oppositioneller Jugendlicher nicht auch zur aktuellen Krise beigetragen hat. Wir werden uns für eine friedliche und konstitutionelle Lösung der Krise einsetzen, in der alle Stimmen gehört werden, und wir werden wachsam sein für die Art und Weise, wie die Instrumente des US-Imperialismus weiterhin genutzt werden, um die internationale Wahrnehmung des Versöhnungsprozesses zu manipulieren.

Während ich diesen Bericht am Donnerstag, dem 26. April, schreibe, liegt noch viel ‚Staub‘ in der Luft, aber die Unruhen in Nicaragua haben nachgelassen, die Steine und Trümmer wurden beseitigt, und alle verantwortlichen Bereiche der Gesellschaft bereiten sich auf den Dialog vor. In den letzten zehn Jahren wurde der größte Teil der öffentlichen Politik im Konsens von Unternehmen und Gewerkschaften, die von der Regierung vermittelt wurden, festgelegt. Es ist das, was sie das Drei-Parteien-Modell nennen, und es hat zu Arbeitsstabilität und einer für Investoren sicheren Wirtschaft geführt. Das ist das System, das letzte Woche zusammengebrochen ist.

Die Folgen davon sind nicht trivial. Ich habe einen Freund, dessen Sprachschule wegen Absagen aufgrund der Gewalt schließen muss und vielen geht es ähnlich. Der Tourismus ist betroffen und die Investoren werden vorsichtiger sein. Ich gehe davon aus, dass die Prognosen für das Wirtschaftswachstum von fünf Prozent aufgrund der gestiegenen Unsicherheit hinter den Erwartungen zurückbleiben werden. Nicaraguas Ruf als das sicherste Land Mittelamerikas hat einen schweren Schlag erlitten.

Die katholische Kirchenhierarchie hat angeboten, den Dialog zu vermitteln, und es sieht so aus, als hätten alle Parteien zugestimmt. Eine Sache, die meines Erachtens aus dem Dialogprozess hervorgehen muss, ist irgendeine Form der Wahrheitskommission. Alle waren überrascht vom Ausmaß der Gewalt. Es gab eine sehr wirksame bezahlte Social Media Kampagne, die sofort gestartet wurde, um alle Schuld auf die Regierung und die Sicherheitskräfte zu verlagern. Normalerweise ist es nicht ungewöhnlich, dass sich gegnerische Demonstranten gegenseitig mit Steinen bewerfen oder ein paar Schläge verpassen. Die Rolle der Polizei war es, sie auseinander zu halten.

Hat die Polizei in den ersten beiden Tagen der Krise mit unverhältnismäßiger und tödlicher Gewalt reagiert? Das ist durchaus möglich. Aber wenn ja, dann wäre es ein anderes Gesicht einer Polizei, die in der Revolution verwurzelt ist, die unter einer der neoliberalen Regierungen nach der Wahlniederlage der Sandinisten von 1990 alle Befehle zur Unterdrückung des Volkes ablehnte. [...]

Wir wissen, dass Polizisten aus der ganzen Welt nach Nicaragua kommen, um dort mehr über das Modell der Gemeindepolizei zu erfahren, einschließlich der Programme zur Vermittlung von Programmen für gefährdete Jugendliche und aktiven Sportprogramme, um junge Menschen für gesunde Aktivitäten zu begeistern. Also ja, ich kann nicht sagen, dass Polizeigewalt nicht doch ein Schlüsselfaktor bei den Unruhen in Nicaragua war, aber ich weiß auch, dass zwei Polizisten getötet und 121 Polizisten während der Unruhen auf nationaler Ebene verletzt wurden. Offensichtlich ist die Gewalt der Polizei nicht der einzige Faktor, der die Gewalt verschärft hat.

Die US-Regierung hat viele Millionen Steuergelder ausgegeben1, um antisandinistische zivilgesellschaftliche Gruppen zu finanzieren, zu denen auch solche gehören, die von Menschen organisiert wurden, die einst sandinistische Revolutionäre waren, sich aber seither dem traditionellen rechten Flügel angeschlossen haben, der ein Eingreifen der USA fordert. Dazu gehört auch die Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS), die sich einst von der FSLN in Fragen der internen Demokratie und der finanziellen Transparenz abspaltete. Aber anstatt links von den Sandinisten eine politische Position einzunehmen, hat hat sie mit rechten Parteien paktiert und ist inzwischen so weit nach rechts gerückt, dass der Präsident der MRS zu rechten Führern in die USA reiste, um sie sich mit der Autorin des Nica Acts2, Ileana Ros-Lehtenin, zu treffen und die USA aufforderte, Nicaragua vom Zugang zur internationalen Finanzinfrastruktur auszuschließen. [...]

Ich bin verblüfft, wie fortschrittlich denkende amerikanische Menschen behaupten könnte, die USA hätten keine Verantwortung für die gegenwärtigen Unruhen in Nicaragua. Nur mit absichtlicher Ignoranz kann man die Parallelen zwischen Nicaragua und Venezuela und Syrien, die alle auf einen Regimewechsel abzielen, nicht erkennen. Muss Nicaragua den Weg von Libyen und der Ukraine gehen, bevor die Progressiven in den USA sagen: „Oh, naja. Ich schätze, die USA haben doch eine Rolle gespielt.“

Die Intervention der USA ist nicht einmal ein Geheimnis. Luisa Molina, die Leiterin der Coordinadora Civil, ein antisandinistischer Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher Gruppen, erklärte auf Kanal 12 über die gewalttätigen Proteste an der Universität von Mittelamerika in Nicaragua: "Das ist nicht weniger als das Ergebnis der Arbeit, die wir als Zivilgesellschaft beim Aufbau der Staatsbürgerschaft geleistet haben". Junge Menschen haben Seminare und Kurse erhalten, für die sie Diplome bekamen, die von ausländischen Organisationen wie dem International Republican Institute, einem Zweig der National Endowment for Democracy (NED), finanziert werden. Sie schloss: "Heute sind dies die Ergebnisse einer langjährigen Ausbildung in Werten und Prinzipien, die wir der Jugend Nicaraguas ermöglicht haben".

Ich weiß nicht, wie die ganze Geschichte aussieht. Du wahrscheinlich auch nicht. In Nicaragua wahrscheinlich auch niemand, denn bei solchen ‚Erdbewegungen‘ kann niemand das ganze Bild sehen. Wir hatten einen Korrespondenten, der u.a. schrieb:

"Ich denke, im Allgemeinen ist das, was die Menschen in den USA über die Gewalt wissen, wenig (und selbst das, was wir hier über sie wissen, ist auch sehr unsachlich). Meine Erfahrungen der letzten Woche waren ganz anders als das, was die Medien gezeigt haben. Was ich sah, waren Straßenkämpfe zwischen unbewaffneten Demonstranten und unbewaffneten Gegenprotestanten die Woche über, die sich bis Freitag in bewaffnete Auseinandersetzungen verwandelten, wobei die Polizei eine sehr begrenzte Rolle spielte. Ich hatte Angst um meine Sicherheit, als ich eine sehr schlecht bewaffnete Polizei sah, die sich unter Mörserfeuer von antisandinistischen Zivilisten und prosandinistischen Zivilisten zurückzog. Wie Sie wissen, sind mehrere Polizisten unter den Toten, ebenso wie viele pro-sandinistische Zivilisten und ein Journalist von einer im Grunde regierungsfreundlichen Station. Und es sind viele Studenten."

Wir hoffen, dass sich die Menschen in Nicaragua versöhnen. Die letzte Woche hat der nationalen Einheit einen schweren Schlag versetzt. Der Schaden für das Vertrauen der Menschen in ihre öffentlichen Institutionen, die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Wirtschaft wird eine lange Zeit der Heilung benötigen, und wenn sie nicht richtig behandelt werden, könnte es sein, dass sie nie heilen. Die verlorenen Leben und die zerbrochenen Körper können niemals wieder zurückgegeben werden kann. Wir weinen mit unseren Schwestern und Brüdern in Nicaragua und erneuern unser Versprechen, alle Handlungen unserer eigenen Regierung zur Störung ihrer Souveränität oder zur Einmischung in ihren Versöhnungsprozess aufzudecken und abzulehnen.

Der Beitrag erschien zuerst bei NicaNotes, einem Blog für Menschen, die zu Nicaragua arbeiten und/oder an Nicaragua interessiert sind, veröffentlicht vom Nicaragua Network (USA), einem Projekt der Allianz für globale Gerechtigkeit. Hier werden Nachrichten und Analysen aus dem Kontext der langen Geschichte des Nicaragua-Netzwerks in Solidarität mit der Sandinistischen Revolution veröffentlicht.

  • 1. Hier nachzusehen: die nicaraguanischen NGO, die vom National Endowment for Democracy gefördert wurden
  • 2. Das US-Repräsentantenhaus hat Anfang Oktober 2017 das “Nicaraguan Investment Conditionality Act of 2017” (Nica-Act) angenommen. Mit diesem Gesetz sollen finanzielle Sanktionen gegen Nicaragua verhängt werden. Es sieht vor, das Land von Krediten und Finanzierungen durch internationale Institutionen abzuschneiden und künftige Möglichkeiten für Anleihen zu blockieren. Auch die Tilgung von Schulden soll unmöglich gemacht werden. Der US-Senat muss noch darüber abstimmen. In Kraft tritt der Nica Act mit der Unterzeichnung durch Präsident Donald Trump