Im Rahmen einer wohl international koordinierten Kampagne wird die schreckliche Umweltkatastrophe im Amazonas dazu genutzt, den Präsidenten von Bolivien, Evo Morales, in eine Reihe mit dem zynisch und lächerlich agierenden Präsidenten von Brasilien, Jair Bolsonaro, zu stellen. Unter Schlagzeilen wie "Boliviens linker Bolsonaro" (Spiegel), "Schlimmster Urwald-Abfackler ist Morales" (ntv) oder "Schlimmer als Bolsonaro" (Schweizer Tageszeitung Der Bund) wird behauptet, dass Boliviens linker Präsident einen noch radikaleren Kahlschlag im Regenwald betreibt als der ultrarechte brasilianische Präsident.
Ich forsche zur nachhaltigen Entwicklung in Bolivien und bin überrascht, wie einseitig und schlecht recherchierte Informationen verbreitet werden. Die politische Zielrichtung der "Berichte" ist klar. Deren Gehalt steht aber in krassem Widerspruch mit den Faken, so wie sie hier vor Ort verfügbar sind . Ein kurzer Blick darauf zeigt, dass wir froh sein müssen, dass es Bolivien – als einzigem Land – gelungen ist, professionell auf die Waldbrandkatastrophe zu reagieren.
In den Berichten wird oft auf Zahlen aus Brasilen verwiesen, die zeigen, dass in Bolivien die Entwaldungsrate um 115 Prozent und in Brasilien "nur" um 84 Prozent zugenommen hat. Dies sagt jedoch nichts über die effektiv entwaldeten Flächen aus: Während in Bolivien im Jahr 2018 154.488 Hektar Primärwald in Landwirtschaftsflächen umgewandelt wurden, waren es in Brasilien im gleichen Jahr 1,34 Millionen Hektar! Brasilen hat 8,5 mal mehr Wald vernichtet als Bolivien und bleibt damit Weltmeister in der Entwaldung des Amazonas!
Es wird behauptet, dass die Waldbrände mit dem kürzlich von Morales unterzeichneten Dekret zur Umwandlung von Wald- in Landwirtschaftsflächen zu tun haben. Das ist falsch. Richtig ist, dass die Brandrodung im Departamento Santa Cruz – wo es jetzt brennt – unter der neoliberalen Regierung im Jahr 2001 vom damaligen Präsidenten und früheren Militärdiktator, Hugo Banzer, erlaubt wurde. Das vor sechs Wochen unterzeichnete Dekret sollte die Umwandlung von Wald in Landwirtschaftsflächen auch für das Departamento Beni ermöglichen. Das Dekret ist jedoch noch nicht anwendbar, da die Reglements dazu fehlen.
In den Berichten wird auch erwähnt, dass die gesamte Abholzung in Bolivien zwischen 2016 und 2017, verglichen mit den beiden Vorjahren, um 60 Prozent zunahm. Dies ist zwar richtig. Falsch ist aber, die alleinige Schuld dafür bei der im Artikel offen angegriffenen "linken" Regierung von Evo Morales zu suchen. Wie die gut erforschte Geschichte von Bolivien zeigt, unterschlägt diese Sichtweise eine grundlegende Tatsache: Seit vielen Jahrhunderten sind es bis heute die "neuen" "alten" kolonialen Machtgruppen, welche die großen Linien der Politik – auch unter Morales – durch wirtschaftliche Machtkonzentration auf nationaler und internationaler Ebene in politische Macht übersetzen. Diese sehen sich traditionell als über den mehr oder weniger demokratischen Institutionen stehend.
Hierzu ein Beispiel. Als 2006 die bolivianische Regierung alle natürlichen Ressourcen – Rohstoffe sowie Land und Wald - unter staatliche Hoheit stellte, schürten die Machteliten von Santa Cruz und Beni einen gewaltigen Konflikt. Unter aktiver Einmischung der US-amerikanischen Botschaft kam es zu gewaltsamen Protesten, versuchten Anschlägen und der Organisation einer terroristischen Zelle. Ziel war es, der mit überwältigter Mehrheit gewählte Regierung von Morales Konzessionen für die Eliten abzuringen. Im schlussendlich erfolglosen Versuch, die staatliche Hoheit über die von der Elite vorher privat und exklusiv kontrollierten Ressourcen zurückzunehmen, wurde sogar vorgeschlagen, dass sich das Tiefland vom Hochland von Bolivien abspaltet und einen eigenen Kleinstaat bildet, der natürlich unter Kontrolle der Machteliten und deren Allianzen mit transnationalen Firmen stehen sollte.
Die in Santa Cruz und Beni dominanten Großgrundbesitzer bauen vor allem transgene Soja und Zuckerrohr an. Dies in enger Allianz mit Agrarkonzernen, die ihren Sitz in der Schweiz, Deutschland oder in Brasilien haben: Syngenta, ADM, Dreyfuss, Bayer, BASF oder JBS SA-Brasilen. Die damit verbundene wirtschaftliche und politische Machtposition nutzten sie schon vor der Zeit von Morales schamlos aus, um die immensen Waldflächen in lukrative "grüne Wüsten" aus Monokulturen umzuwandeln. Manchmal geschieht dies mit und leider oft auch ohne Bewilligung. Ihre Macht beziehen sie in erster Linie aus der Monopolisierung des Landbesitzes: Nach der offiziellen Landwirtschaftszählung von 2013 in Santa Cruz sind 3,2 Prozent der Betriebe über 500 Hektar groß. Sie kontrollieren damit etwas mehr als 54 Prozent der gesamten Landwirtschaftsflächen. Im Beni halten 15 Prozent mehr als 500 Hektar Land. Diese kontrollieren damit 92 Prozent der Gesamtfläche, die vor allem für Viehzucht und etwas Ackerbau genutzt wird.
Gegenwärtig sind 750.000 Hektar von den Waldbränden betroffen. Auch wenn behauptet wird, die Regierung hätte mehr tun müssen, sollte Folgendes berücksichtigt werden: Nach Berechnung einer Naturschutzorganisation sind im Jahr 2004 drei Millionen Hektar Wald in Flammen aufgegangen. Dies geschah während der Amtszeit von Carlos Mesa. Gemacht wurde damals praktisch nichts. Heute ist Carlos Mesa der meistunterstützte Präsidentschaftskandidat der Opposition. Er findet, dass Evo Morales der Hauptschuldige für die Waldbrände ist, auch wenn diese zum Glück nur 25 Prozent von dem ausmachen, was er damals selber zu verantworten hatte.
Im Vergleich dazu hat die heutige Zentralregierung rasch und professionell reagiert. Nachdem weder Gemeinde- noch Regionalregierung die Brände löschen konnten, wurden die wichtigsten Ministerien zu einem Dringlichkeitskabinett gebündelt. Dieses hat seinen Sitz vom entfernten La Paz ins Katastrophengebiet verlegt. Von dort aus werden die Arbeiten von mehreren tausend Soldaten, Polizisten, Feuerwehrkräften und Freiwilligenbrigaden koordiniert. Zur raschen Brandbekämpfung wurden Helikopter, Flug- und Fahrzeuge ins Gebiet gebracht. Um nicht von der nur schleppend angelaufenen internationalen Hilfe abhängig zu sein, wurde außerdem das größte vorhandene Löschflugzeug aus den USA gemietet. Der Boeing-Supertanker ist seit über einer Woche erfolgreich im Einsatz.
Einige Tage nach der Umsetzung der dringendsten Hilfs- und Löscharbeiten, hat Morales am 27. August eine "ökologische Pause" für das ganze Katastrophengebiet erlassen. Das bedeutet, dass in diesem Gebiet während einer Zeit von mindestens zwei Jahren der Verkauf von Land oder Nutzungsänderungen untersagt sind. Damit macht er Gebrauch von einem Gesetz, das es der Regierung erlaubt, in die Landrechte einzugreifen, wenn wichtige ökologische Funktionen beinträchtig wurden oder solche in Zukunft zu erwarten sind. Damit zwingt die Regierung die Landbesitzer der betroffenen Ländereien, die verwüsteten Flächen wieder so herzustellen, dass sie die für die Gesamtgesellschaft wichtigen ökologischen Funktionen, wie z.B. Schutz von Biodiversität, Wassereinzugsgebieten, Erhaltung von Territorien indigener Bevölkerung, Fixierung von Kohlenstoff und Sauerstoffproduktion etc., wieder erfüllen können. Damit wird verhindert, dass sich die Landbesitzer über raschen Verkauf der betroffenen Ländereien aus der Verantwortung ziehen.
In der gleichen Woche hat die bolivianische Regierung das Staatsabkommen OTCA zur Kooperation der mit dem Amanzonasbecken verbunden Staaten – Bolivien, Brasilien, Kolumbien, Ecuador, Guayana, Peru, Suriname und Venezuela – angerufen. In dessen Zentrum steht die gegenseitige internationale Hilfe beim Schutz der Amazonasregion. Brasilen, Peru und Kolumbien waren gegen das von Bolivien vorgeschlagene Dringlichkeitstreffen, da sich deren Regierungen nicht mit der ihnen verhassten venezolanischen Regierung treffen wollten. Auch hier zeigt sich das zynische Verhalten der "großen Herren" über den Amazonas: Während Millionen Hektar Wald abbrennen, wird die internationale Kooperation klein- und schlecht geredet und dem von den USA betrieben Sturz der gewählten Regierung in Venezuela geopfert.
Damit ist klar, anstatt Bolivien schlecht zu reden, sollten wir das Land loben und aktiv unterstützten. Anstatt dumme Sprüche wie Bolsanaro zu klopfen, geht Boliviens Regierung so gut wie möglich, professionell und beherzt gegen das Flammeninferno vor.
Prof. Dr. Stephan Rist, Geographisches Institut & Interdisziplinäres Zentrum für Entwicklung und Umwelt (CDE), Universität Bern. Leiter des SNF/R4D Projektes zu "Ernährungsnachhaltigkeit in Südamerika und Afrika"