Die Entwicklung in Bolivien findet – zumindest was die allgemeine Öffentlichkeit angeht – unter dem Radar statt. Der wirtschaftliche Aufschwung unter der Führung des ersten indigenen Präsidenten ebenso wie die gesellschaftliche Entwicklung. So kurz vor den Wahlen am 20. Oktober wird sich das ändern, aber danach wird Bolivien schnell wieder vergessen – diese Website natürlich ausgenommen. Die Krisen in Venezuela und Ecuador, die Neuformierung der Farc in Kolumbien oder Brasilien unter Bolsonario sind für die Mainstream-Öffentlichkeit interessanter. Wenn überhaupt.
Wer sich tiefergehend für Bolivien interessiert, aber nicht selbst hinfahren kann, der sollte das Buch "Bolivien. Ein Länderporträt" von Katharina Nickoleit lesen. Es zeichnet die Geschichte des Landes nach und webt geschickt die Gegenwart in Form von Reportagen ein. Anhand von vielen Beispielen, fast immer illustriert an konkreten Personen und ihren Erfahrungen, zeichnet sie sowohl die Errungenschaften der Regierung von Evo Morales, wie beispielsweise die Seilbahnlinien in El Alto und La Paz, nach. Sie beschreibt die Versuche der Entkolonisierung, aber auch die ökologischen wie gesellschaftlichen Probleme, die mit dem Bergbauboom oder dem Vordringen des Koka-Anbaus ins Tiefland einhergehen.
Nickoleit kennt Bolivien, sie kennt die Leute und stellt sie mit viel Sympathie vor. Ob es die viel zu jungen Bergleute am Cerro Rico in Potosí sind, gerade erst Teenager geworden, die dort anstelle ihrer kranken Väter in den Berg kriechen, um Zinn abzubauen. Ob es die Frauen im Frauenhaus sind, die lernen, wie man Gemüse anbaut, und dabei auch in die Grundlagen des "buen vivir", des "guten Lebens", eingeführt werden, dem ideologischen Grundprinzip, das die Regierung propagiert.
Immer wieder stellt Nickoleit allgemeine politische Entwicklungen oder Konzepte sowie historische Begebenheiten in den Mittelpunkt eines Kapitels, die sie dann quasi von unten am konkreten Beispiel illustriert. Dies geht in diese Richtung problemlos. Eine umgekehrte Verallgemeinerung, eine Kritik ausgehend von wenigen Betrachtungen vor Ort, sollte jedoch nicht so einfach gemacht werden. Dies aber macht Nickoleit an einigen Stellen. Die Kritik an den Entwicklungen, die sicher vielfach angebracht ist – auch weil die eigenen Ansprüche der Regierung nicht erfüllt werden –, läuft somit meist ins Leere.
Die Kritik des Ganzen aus der Froschperspektive ist vergleichbar mit dem Schimpfen der Bürger auf die Politik da oben, ohne diese in die innen- und geopolitischen Zusammenhänge zu stellen oder den Weltmarkt, bzw. ohne in diesem Fall die spezifische Abhängigkeit Boliviens vom Weltmarkt, in den Blick zu nehmen. Diese analytische Ebene kommt in Nickoleits Buch zu kurz. Es ist kein politisches Sachbuch, sondern eine Reisebeschreibung mit vielen historischen und politischen Einschüben.
Schließlich kritisiert die Autorin noch einen "Autoritarismus" von Präsident Evo Morales, wobei sie zuvor an vielen Stellen die Errungenschaften seiner Regierung herausgestellt hat und somit keineswegs einseitig ist. An diesem Punkt ist sie ganz im Mainstream der westlichen Medien angekommen. Für eine tiefgreifende politische Analyse fehlt ihr mindestens der Platz. Hierfür müssten die positiven wie negativen Seiten des politischen und ökonomischen Systems aufgezeigt werden, auch hier die verschiedenen Vertreter der Parteien und Organisationen zu Wort kommen und schließlich deren Worte in den größeren Zusammenhang gestellt werden.
Nickoleits Buch ist dort gut, wo es uns die Bolivianer beispielhaft in ihrem spannenden Land näher bringt. Wenn man dies bedenkt, kann man das Länderporträt mit Gewinn lesen.
Katharina Nickoleit, Bolivien. Ein Länderporträt, Christoph-Links-Verlag, 192 Seiten, 18 Euro