Hunderttausende haben in ganz Uruguay am Tag der Verschwundenen demonstriert

Demonstrierende fordern Antworten zu den Verschwundenen der Diktatur. Gesetzentwurf der Rechten begünstigt Täter.

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Die Demonstrierenden riefen Parolen wie "Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit" und "Nie wieder Staatsterrorismus", "Sie wissen, wo sie sind, wir fordern Antworten"
Die Demonstrierenden riefen Parolen wie "Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit" und "Nie wieder Staatsterrorismus", "Sie wissen, wo sie sind, wir fordern Antworten"

Montevideo. Die Beteiligung an der traditionell größten Demonstration in Uruguay, dem Schweigemarsch am 20. Mai, hat in diesem Jahr alle Erwartungen übertroffen. Ein Meer von Menschen, die Hälfte davon Jugendliche, füllte die Hauptstraße von Montevideo.

Der Schweigemarsch erinnert an die 197 Verschwundenen der Diktatur (1973-1985). Die Angehörigen der Opfer des Staatsterrorismus rufen seit 29 Jahren zu dieser Demonstration auf, um die Aufklärung der damaligen Verbrechen und die Verurteilung der Täter zu fordern. Sie verlangen ein entschlossenes Handeln der Regierungen, um das Schweigen der Militärs über das Verschwindenlassen während der Diktatur zu brechen.

Insgesamt sind es in ganz Uruguay mehrere hunderttausend Menschen gewesen, die nach Medienberichten auf die Straße gegangen sind. Auch in den 19 Provinzhauptstädten fanden Umzüge und Kundgebungen statt. Die Menschen hielten Porträts der Opfer hoch. Am Ende der Demonstrationszüge ertönten die Namen der Verschwundenen aus Lautsprechern. In den Tagen zuvor waren Häuserwände und Mauern mit Bildern und Parolen geschmückt worden. Überall tauchte das Symbol der "Margarita" auf, einer Blume, der ein Blatt fehlt und die für die Verschwundenen steht.

Gegen die hermetische Informationsverweigerung der Militärs riefen die Demonstranten Parolen wie "Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit" und "Nie wieder Staatsterrorismus", aber auch "Sie wissen, wo sie sind, wir fordern Antworten". Die wenigen noch lebenden Mütter marschierten langsam an der Spitze des Zuges, begleitet von Geschwistern, Kindern und Enkeln der Opfer.

Die Organisation der Hinterbliebenen erklärte: "Sie haben die Archive, die Dokumente, sie wissen, wo unsere Angehörigen begraben sind". Die 29-jährige Demonstrantin Luna Prieto sagte gegenüber der Zeitung El País: "50 Jahre sind vergangen und die Informationen werden immer noch unter Verschluss gehalten und zum Schweigen gebracht". Ihr Großvater war Rubén Prieto, ein linker Aktivist, der vor der Diktatur in Uruguay nach Argentinien geflohen war und dort 1976 im Alter von 24 Jahren entführt wurde.

Ein anderer Angehöriger, der 46-jährige Valentín Río, sagte: "Ich weiß nicht mit Sicherheit, was mit meinem Vater passiert ist, wo er begraben ist, wer die ausführende Hand war. Wir wissen, dass all diese Informationen existieren und dass der Staat Zugang zu ihnen haben kann, vor allem über die Justiz", betonte er. Sein Vater, Miguel Ángel Río, wurde 1977 in Buenos Aires verschleppt. Er war 29 Jahre alt.

Río ist der Ansicht, dass es in Uruguay zwar Fortschritte gegeben habe, wie die Anerkennung der Existenz des Verschwindenlassens. Auch seien sterbliche Überreste von Opfern in Kasernen gefunden worden. Es habe aber nicht die notwendige politische Entscheidung gegeben, diese Verbrechen der Diktatur vollständig aufzuklären. Teile der Gesellschaft, die ideologisch und personell mit der Diktatur verbunden waren, seien immer noch bestrebt, die Straflosigkeit der Täter zu erreichen.

So wird derzeit im Parlament ein Gesetzentwurf der rechten Regierungskoalition diskutiert, der verurteilte Diktaturverbrecher aus Altersgründen begünstigen will. Sollte das Gesetz verabschiedet werden, würden Verurteilte, die 65 Jahre oder älter sind, ihre Strafe nicht mehr im Gefängnis, sondern im Hausarrest verbüßen. Die Mehrheit der Täter ist heute in den Siebzigern, weil die Ermittlungen und die Gerichtsverfahren jahrelang verschleppt wurden. Das neue Gesetz würde dann eine Gruppe von etwa 70 bis 100 Militärs betreffen, die heute von der Sonderstaatsanwaltschaft für Verbrechen gegen die Menschlichkeit untersucht werden.

Die Bilanz der staatlichen Reaktion auf die schweren Menschenrechtsverbrechen der letzten 50 Jahre ist dürftig. Etwa 80 ehemalige Agenten der Diktatur wurden vor Gericht gestellt. Einige wurden verurteilt, gegen andere laufen noch Verfahren. Mehr als 20 Angeklagte sind mittlerweile verstorben. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Observatorio Ibarburu befanden sich 2023 29 von ihnen in Haft, einige könnten unter Hausarrest gestellt werden, sollte die rechte Regierungskoalition mit ihrem Gesetzentwurf im Kongress Erfolg haben.

Die UN-Berichterstatter:innen Aua Baldé, Fabian Salvioli und Reem Alsalem schrieben im April einen Brief an den Präsidenten Uruguays, Luis Lacalle Pou. Sie warnten vor dem Gesetz, weil es Gerichtsverfahren gefährden, Menschenrechtsverbrechen verharmlosen und die Opfer erneut verletzen könnte. Vor allem aber verstoße es gegen Internationales Recht. Sie erinnerten daran, dass die Vergünstigungen für Personen, die wegen Menschenrechtsverbrechen verurteilt wurden, "auf keinen Fall" größer sein dürften als die für gewöhnliche Häftlinge.

Sie verwiesen auch auf das Römische Statut, wonach "Maßnahmen wie Hausarrest aus humanitären oder gesundheitlichen Gründen nur ergriffen werden dürfen, wenn es in der vorgesehenen Haftanstalt keine andere praktikable Lösung gibt, und nur vorübergehend, bis die Notsituation vorüber ist".