Venezuela / Politik

Links-Populismus in Venezuela?

Wie radikal muss die Kritik sein? Wie radikal muss sie mit sich selbst sein?

"Vierzehn Staats- und Regierungschefs von Karibikanrainern haben (...) mit Venezuela die Errichtung einer Organisation beschlossen, die Förderung, Raffinierung und Lieferung von Treibstoffen und Energie durchführt. Ziel ist auch hierbei die Sicherstellung der "Energiesouveränität". Gerade die schwachen Wirtschaften der Karibikländer leiden unter den hohen Ölpreisen, derzeit etwa 60 Dollar pro Barrel auf dem Weltmarkt. Die Zusammenarbeit mit Venezuela ermöglicht es ihnen, die Importkosten für Treibstoffe zu reduzieren und die Zahlungsfristen auszuweiten. Statt wie marktüblich 30 Tage haben die Unterzeichner des Abkommens drei Monate Zeit, die Treibstofflieferungen zu bezahlen. Teile der Rechnung können auch mit Gütern oder Dienstleistungen beglichen werden. Die Zusammenarbeit mit Brasilien und Argentinien soll durch das gemeinsame Unternehmen Petrosur durchgeführt werden. Für Chávez sind beide Projekte Schritte in Richtung auf die von ihm angestrebte energetische, politische, wirtschaftliche und soziale Integration der Länder Lateinamerikas.

So hat Venezuela inzwischen Abkommen zur dauerhaften Treibstofflieferung mit Argentinien, Paraguay und Uruguay und zur zeitweiligen mit Bolivien, Chile, Panama und Peru unterzeichnet. Die staatliche Treibstoffgesellschaft Venezuelas hat mit dem uruguayischen Staatsunternehmen Ancap vereinbart, bei der Förderung von Rohöl zu kooperieren. PdVSA wird das Rohöl in Uruguay auf Anlagen von Ancap raffinieren. Somit ist die Benzinversorgung von Uruguay für die nächsten 25 Jahre gesichert. Das Land muss 75 Prozent des für die Raffinierung erworbenen Rohöls innerhalb von 90 Tagen bezahlen, die restlichen 25 Prozent erst innerhalb von 15 bis 17 Jahren. Die erste Rate dieser Rückzahlung wird Venezuela wieder in Uruguay investieren - in eine Fabrik zur Herstellung von Alkohol in Bella Unión (Artigas) und in eine Zementfabrik.

Der argentinische Präsident Néstor Kirchner und Chávez vereinbarten vergangenes Jahr in Buenos Aires gemeinsame Geschäfte mit einem Volumen von 559 Millionen US-Dollar, darunter den Tausch von vier Millionen Barrel Erdöl gegen Industrieprodukte aus Argentinien (landwirtschaftliche Maschinen, Kräne und hydraulische Maschinen.

Auch wollen zwei Unternehmen aus den beiden Ländern, Buques y Astilleros aus Venezuela und Astilleros Río Santiago aus Argentinien, zusammen für 110 Millionen US-Dollar zwei Erdöltanker bauen. Darüber hinaus beschlossen beide Länder eine Zollvereinbarung, die einen Warenaustausch von jährlich einer Milliarde US-Dollar vorsieht. " Junge Welt vom 20.2.2006

An sich sind solche Abkommen nicht der Rede wert und schon gar kein Grund zur Aufregung. Privilegierte Handelsabkommen, protektionistische Schutzzölle, Import- bzw. Exportquoten gehören zum Alltag der global player, die sich den "freien Markt" auf die Fahne schreiben - vorausgesetzt, er ist nicht der eigene. Für völlig normal halten sie es deshalb; ihre nationalen Industrien (verkleidet als nationale Interessen) gegen billigere Waren aus dem Ausland zu schützen. Aufsehen erregt das Petrocaribe- und andere Süd-Süd-Abkommen nur, weil diesmal global loser etwas tun, was eigentlich nur global player vorbehalten ist.

Was ist also das Besondere an diesem eigentlich ganz normalen Abkommen?

Man hat sich daran gewöhnt: Der reiche "Norden" privilegiert die von ihm abhängigen Nationalökonomien des Südens, prämiert Wohlverhalten, also freien Zugang zu den Märkten, (steuerfreien) Transfer von Gewinnen in die Metropolen, Monopolstellungen von ausländischen Unternehmen im Bereich strategischer Ressourcen und Regierungen des Südens, die diese Politik der Verarmung gegen ihre eigene Bevölkerung durchsetzen.

Das Petrocaribe-Abkommen durchbricht die vorherrschende Richtung und setzt dem Nord-Süd-Gefälle eine Süd-Süd-Achse entgegen.

Für sich genommen wäre das Petrocaribe-Abkommen eine Marginalie im Welthandel. Die den Welthandel dominierenden Konzerne und Regierungen würden nicht einmal husten. Doch Venezuela ist ein "Schwergewicht" in dieser Region, fünftgrößter Erdölexporteur der Welt. Hinzu kommt, dass dieses Abkommen nicht für sich alleine steht, sondern in der Reihe verschiedener Projekte der venezuelanischen Regierung, die klar und deutlich das Ziel verfolgt: Die Hegemonie des Westens zu durchbrechen, einen regionalen Markt Lateinamerika zu etablieren und gesellschaftliche Entwicklungen zu fördern, die über die hegemoniale und regionale Ordnung der Unterwerfung hinausweisen:

In diesem Sinne wurde 2005 in Puerto La Cruz/Venezuela der "1. Energiegipfel der karibischen Staaten" abgehalten. Initiiert wurde dieses Treffen von der venezuelanische Regierung, dem Staatschefs aus fünfzehn karibischen Nationen folgten. Ziel war es, eine engere Kooperation in der Energiewirtschaft zu beraten, vor allem auf dem Sektor Öl. Grundlage dieser lateinamerikanischen Kooperation sollen Öllieferungen unterhalb des Weltmarkpreises sein, einschließlich der Möglichkeit, Öl gegen andere Güter zu tauschen (solidarischer Gütertausch).

Diese privilegierte Partnerschaften sind in ein strategisches Konzept eingebettet, mit dem Namen: "ALBA" (Alternativa Bolivariana para las Americas). Der Reichtum der lateinamerikanischen Länder soll nicht mehr länger in den Norden/Westen abfließen, sondern auf dem Kontinent bleiben. Die Gewinne sollen nicht länger die Hegemonie des Postkolonialismus stärken, sondern politisch und wirtschaftlich "unabhängige" Wege finanzieren helfen. So versteht sich ALBA als Gegenmodell zu dem von der US-Regierung initiierten Projekt einer gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA (engl. FTAA), das von Gegnern dieser unblutigen Unterwerfung mit "Al CArajo", Haut ab, übersetzt wird.

Keine Frage, die Summe dieser Abkommen würde die nationalen Ökonomien des Südens begünstigen. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, wo genau die Gewinne hinfließen.

In den letzten Jahrzehnten gab es verschiedene, kleinere Versuche in diese Richtung. Fast immer kamen diese Handelsabkommen ausschließlich einer kleinen Minderheit zugute, die in den jeweiligen lateinamerikanischen Ländern das Sagen hatte. Es war, knapp gesagt, ein Projekt der nationalen Eliten. Die dabei verwendete Rhetorik vom ungerechten Welthandel und der Ausbeutung durch den Norden diente meist nur dazu, die Gewinnmargen neu zu verteilen, den Anteil, der den nationalen Eliten zufällt, zu vergrößern.

Reiht sich die Politik der venezuelanischen Regierung in diese links-populistische Praktiken ein? Ist an der bolivarischen Politik einzig die rote Verpackung neu, in der die ausbeuterische Vergangenheit und ein raffgieriger Caudillo recycled werden?

Seit 1998 ist das Parteienbündnis MVR mit Hugo Chávez an der Macht. In den fast acht Jahren hat sich viel in Venezuela verändert. Viele Bedenken, viele Vorwürfe könnten an der Wirklichkeit überprüft werden. Ich kenne wenige Einschätzungen, die diese Chance genutzt, diese Anstrengung unternommen haben. Ich vermute, dass das wenig mit dem bolivarischen Prozess in Venezuela zu tun hat, viel mit der politischen Verfasstheit der deutschen Beobachter.

Wenn man sich die wenigen Medien anschaut, die in Deutschland demokratisch und gerecht zu 95 Prozent die "öffentliche Meinung" unter sich aufteilen, dann muss es heute schlimm, nein viel schlimmer sein, als unter den autoritären Vorgängerregierungen und Diktaturen - die bei den allermeisten deutschen Kommentatoren gnädig bis wohlwollend wegkamen. Von Faz bis Zeit, von Spiegel bis FR sind sich die für Pluralismus zuständigen Meinungsmacher einig: In Venezuela herrsche ein "Feldherr (...) ein Personenkult (...) wie man ihn sonst nur aus totalitären Systemen kennt" (Faz), ein von Eingebungen gesteuerter "Heilsbringer" (FR). Einig sind auch alle darin, dass das politische Programm, das dieser neue, alte Caudillo verkünde nichts weiter als Populismus enthalte, viele großartige, radikale Versprechungen, mit dem bekannten Ergebnis: Es bleibt alles beim Alten: die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer, was z.B. die "Zeit" genau weiß.

Bei dieser Gesamtdiagnose scheren sich die deutschen Meinungsmacher auch nicht um eklatante Widersprüchlichkeiten: So weiß die Faz von einem "Sozialismus mit viel Öl" zu berichten, die FR von "Attacken auf die Privatwirtschaft", während sie gleichzeitig den Vorwurf des (Links-)Populismus erheben. Wie passt das eine zum anderen? Entweder kritisiert man die radikalen Veränderungen oder genau das Gegenteil, dass alles beim Alten bleibt! Doch bei dieser zivilisierten Form der Steinigung scheint es nicht mehr darauf anzukommen, ob die Kritik zumindest in sich logisch ist. Entscheidend ist vielmehr, soviel Steine wie möglich Richtung Venezuela zu schmeißen, Hauptsache es prasselt.

Ich möchte einen dieser großen Stein aufheben und ihn genauer unter die Lupe nehmen. Was hat es mit dem Vorwurf des Populismus auf sich? Was hat es mit einem Caudillo auf sich, der das Volk nur als Staffage für seine selbstbereichernde Politik missbraucht?

Zum linken (und rechten) Populismus gehört in aller Regel ein Feind, der letztendlich nicht im eigenen Land, in der oligarch-strukturierten Klassengesellschaft selbst zu suchen ist, sondern im Ausland. Die wortreiche und martialische Rhetorik gegen den Neo-Kolonialismus, gegen die Erben der Conquista, in Gestalt multinationaler Konzerne und IWF fehlt in keiner lateinamerikanischen Spielart des Populismus. Ist die Wahl mit dieser nationalen Rhetorik gewonnen, kann man sich auf eines ganz sicher verlassen: Die Macht internationaler Konzerne wird nicht angetastet, ihre paradiesischen Möglichkeiten, Menschen und Ressourcen auszubeuten und Gewinne fast steuerfrei außer Landes zu bringen, nicht beschnitten... und die Lebensverhältnisse der Mehrheit bleiben erbärmlich.

Steht auch die Chávez-Regierung in dieser Tradition? Hat sie etwas an der hegemonialen Macht des Nordens geändert? Schützt sie die eigene nationale Oligarchie, die Teil der internationalen Wertschöpfungskette ist? Haben sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen verändert?

Das siegreiche bolivarische Parteienbündnis MVR hat mit den populären Forderungen nach einem Ende der Korruption, des Klientelismus, der staatlicher Ineffizienz und Verschwendung die Macht gewonnen. Auch das gehört zum Standardprogramm aller Populismen, auch der lateinamerikanischen Spielarten (Peronismus z.B.). Für gewöhnlich dient diese Rhetorik nur als Vorhang, hinter dem das Klientel ausgetauscht wird, das den Reichtum unter sich neu aufteilt. Am System der Vetternwirtschaft ändert sich nichts.

Steht auch die bolivarische Regierung mit Chávez in dieser politischen Tradition?

Eine zentrale Rolle im Populismus spielt das Volk. Die Unmittelbarkeit zwischen Führer und Volk soll suggerieren, dass dazwischen nichts mehr passt - weder der korrupte Staat noch Strukturen, die die Partizipation der Bevölkerung garantieren. In der Wirklichkeit des Populismus hat das Volk keine institutionelle Macht, es ist und bleibt eine Metapher. Das Volk hat im Populismus die Macht zu legitimieren und dann zu schweigen - teilnahmslos und vor allem machtlos.

Auch Hugo Chávez besingt, bekniet, beschwört das venezuelanische Volk, manchmal auch die Einheit alle lateinamerikanischen Völker. Die wenigen Bilder, die man hier im Fernsehen zu sehen bekommt, scheinen diese autoritäre Verknüpfung aus Caudillo und Masseninszenierung, aus Popanz und Illusion zu bestätigen.

Welche reale, gesellschaftliche Macht hat heute die venezuelanische Bevölkerung? Welches (Verfassungs-)Recht hat die Bevölkerung, sich einzumischen, mitzuentscheiden, mitzugestalten - ob es dem Präsidenten passt oder nicht?

Fangen wir also mit der Kritik der Rechten an, zum Beispiel der der Frankfurter Allgemeinen Zeitung/FAZ, hinter der bekanntlich immer ein kluger Kopf steckt. Ihr jüngster Bericht vom 27.11.2006 beginnt mit dem reißerischen Titel: "Sozialismus mit viel Erdöl". Das klingt schlimm und vor allem machbar. Jetzt könnte man annehmen, die Faz liefere im folgenden schlimme Beweise für den von ihr gesichteten Sozialismus, Verstaatlichungen von Fabriken, Enteignungen von Villen, Verhaftung von Unternehmern.... Obwohl der Artikel eine ganze Seite füllt, findet sich weit und breit nichts aus dem Horrorkabinett rechter Zwangsvorstellungen über das sozialistische Kommandowirtschaftswesen. Als käme es auch in der Faz und bei ihren Lesern auf Logik nicht an, liest man im Text genau das Gegenteil: Zwar diktiere Chávez den Ölmultis eine "drastische Erhöhung der Förderabgaben", die früher bei 20, jetzt bei 60 Prozent liegen, doch "die Multis verdienen mindestens genauso viel wie früher" - was vor allem den gestiegenen Erdölpreis geschuldet ist. Wie auskömmlich Multis in Venezuela leben, wie wenig sie der Schrecken aller Schrecken, ihre Verstaatlichung umtreibt, kann man ein paar Zeilen später lesen: "Die Produktion der Staatsgesellschaft PDVSA ist heute nur halb so hoch wie vor acht Jahren. Die andere Hälfte steuern inzwischen private Förderunternehmen bei." Dazu zählen Öl-Multis wie Chevron Texaco, ExxonMobil, British Petroleum und die spanische Repsol, den man vieles nachsagen kann, nur kein Hang zum Sozialismus.

Nicht nur die internationalen Ölmultis schwimmen mitten im Sozialismus im Geld, auch die venezolanische Unternehmerschaft schlägt das Gespenst vom Sozialismus mit harten Fakten: "Venezuelas Unternehmerschaft, die zum Jahreswechsel 2002/2003 noch einen monatelangen politischen Streik durchgezogen hatte, hat sich längst angepasst. Zu gut laufen die Geschäfte. Investiert wird zwar nur das Nötigste, doch das Importgeschäft läuft gut."

Ähnlich verwirrend, verwirrt entwickelt die Faz einen weiteren Kritikpunkt. Schrieb sie noch an anderer Stelle, "Chávez steckt den Großteil der Zusatzgewinne ein", was den üblen Geruch persönlicher Bereicherung verbreiten soll, liest man anderer Stelle: "Viel Geld fließt in die so genannten Missionen, wie der ehemalige Fallschirmspringer Chávez seine meist ad hoc kreierten Sozialprogramme nennt. Das Militär verteilt Lebensmittel zu Billigpreisen. Bei der Mission Barrio Adentro leisten Tausende meist aus Kuba angeheuerte Ärzte in den Armenvierteln medizinische Grundversorgung. Andere Missionen sind der Alphabetisierung und anderen Bildungsinitiativen gewidmet.(...) Als erfolgreichste aller Missionen gilt die staatliche Ladenkette Mercal, die Nahrungsmittel und andere Waren des Grundbedarfs zu subventionierten Preisen für die ärmere Bevölkerung anbietet. Die Waren sind dort um die Hälfte billiger als in normalen Geschäften."

Wenn man sich bei der Beschreibung dieser Veränderungen nicht auf den Fallschirmspringer Chávez und die "angeheuerten" kubanischen Ärzte konzentriert, sondern auf die Beseitigung brutalster Ungerechtigkeiten (all der Vorgängerregierungen, die die Faz so liebevoll protegiert hat), bekommt man eine Ahnung, was das für den Großteil der venezolanischen Bevölkerung bedeutet, die jahrzehntelang trotz Ölreichtum zu extremer Armut gezwungen wurde.

Wie ad hoc und holprig diese Projekte auch laufen, sie könnten doch ein Ansporn sein, für all jene, die - selbst in einem der reichsten Länder der Welt wie in Deutschland z.B. behaupten, man könne sich diese Sozialsystem nicht mehr leisten.

Statt zur Selbstreflektion neoliberaler Glaubensgrundsätze überzugehen, verzichtet die Faz ein weiteres Mal auf jede Art von Logik und führt dafür den Politologen Friedrich Welsch an, "der einst den jungen Chávez an der Universität politische Planung gelehrt hat". Laut dieses Politologen werde Chávez "nicht an materiellen Leistungen gemessen. Sein Charisma und seine Glaubwürdigkeit würden es Chávez erlauben, eine "symbolische Politik" zu betreiben."

Wie ein Politologe und die Faz ein kostenloses Gesundheitssystem, die Sicherstellung einer bezahlbaren Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, die Beseitigung des Analphabetismus, ein kostenlosen Schul- und Universitätssystem vor den Augen ihrer wohlgenährten Leserschaft immaterialisieren, hat schon etwas makaberes und zynisches.

Nun, nicht nur in Lateinamerika, auch in vielen Ländern Westeuropas wären viele Menschen mittlerweile froh, die Regierungen würden wenigstens diese Art der symbolischen Politik betreiben.

Auch die Frankfurt Rundschau, das Flaggschiff der liberalen Presse ist "not amused" über die Politik der gegenwärtigen bolivarischen Regierung: "... das Wählerpotential von Chávez (scheint) derzeit ebenfalls eher begrenzt zu sein. Auch jenseits der Rechten, die den linkspopulistischen Chávez als eine Art Steigbügelhalter von Fidel Castro brandmarkt, halten viele Venezolaner wenig vom konfrontativen Kurs des Präsidenten. Die Attacken auf die Privatindustrie, die Beschimpfungen der US-Amerikaner, die kostspielige Unterstützung von politischen Freunden im Ausland verprellen viele. Die jüngste Niederlage der Regierung, die trotz aller Bemühungen keinen Sitz im Weltsicherheitsrat erlangte, dürfte Chávez ebenfalls geschadet haben."

Es ist schon verblüffend, mit welch serviler Unterwürfigkeit die FR die Logik der hegemonialen Weltordnung schluckt und mit platten linken Attitüden gewürzt an ihre Leserschaft weitergibt.

Was das Wählerpotential für die bevorstehende Präsidentschaftswahl anbelangt, so täuscht sich nicht ein Mal die Faz darüber hinweg, dass der amtierende Präsident Chávez eine sichere Mehrheit auf seiner Seite hat. Manch andere westliche Regierungen würde nach acht Jahren Regierungszeit von einem solch begrenzten Wählerpotential träumen!

Man muss kein Chávez-Anhänger sein, um diese Wahlprognosen als Teil einer politischen Kampagne zu begreifen, obwohl selbst in deutschen Bank-Kreisen etwas ganz anderes Fakt ist. So schreibt z.B. die Euro am Sonntag vom 15.1.2006: "Ende Dezember muss sich dann auch Chávez dem Votum der Bürger stellen. An der Wiederwahl des früheren Luftwaffenoffiziers, der Soziologie und Politikwissenschaften studierte, gibt es keinen Zweifel. Vor allem die sozial Schwächeren wollen, dass er im Amt bleibt. Denn als Chávez 1998 an die Macht kam, hatte sie nichts davon, im fünfreichsten Ölstaat der Welt zu leben, schreibt der Direktor des Zentrums für Amerika-Studien (Censa), Roger Burbach. Heute dagegen müssen die Bürger Venezuelas nichts bezahlen, wenn sie zum Arzt gingen. Mangelernährung und Analphabetismus konnten weitgehend beseitigt werden. Kein Wunder, wenn Chávez es auf Popularitätswerte von 60 Prozent bringt."

Tatsächlich trafen die Banker-Prognosen und nicht die FR ins Schwarze: Hugo Chávez wurde am 3.12.2006 mit über 60 Prozent der abgegebenen Stimmen zum dritten Mal Präsident Venezuelas.

Abgesehen von diesem selbst für Banker-Wissen unterirdischen Wahlorakel - was meint die FR damit, wenn sie "vom konfrontativen Kurs des Präsidenten" spricht, von dem "viele Venezolaner wenig" halten? Könnte es sein, dass sich hinter den "vielen Venezolaner" vor allem die FR und ihr Weltbild von der "alten Welt" verbergen? Hat die bolivarische Regierung in ihrer Amtszeit Krieg geführt? Hat sie einem Freund logistische Hilfe geleistet, bei einem Angriffskrieg? Wie würde die FR eine Regierung charakterisieren, die beides praktiziert?

Während die FR so empfindlich gekränkt reagiert, wenn eine Regierung aus der hegemonialen Unterordnung ausschert, schweigt sie bis heute darüber, dass der Krieg der rot-grünen Bundesregierung gegen die BR Jugoslawien ein Angriffskrieg war, der sich nicht einmal auf eine UN-Resolution stützen konnte.

Warum müssen alle auf der Welt so sein wie die liberale FR, die zwar die Kriegsverbrechen der US-Regierung, ihre Folterpraxis, ihre Politik der Verschleppung und der geheimen Gefängnisse verurteilt, aber die enge und freundschaftliche Zusammenarbeit der deutschen Bundesregierung mit dieser US-Regierung deckt? Sind Hilfestellungen bei Kriegsverbrechen, das Decken von völkerrechtswidrigen Handlungen nicht Beihilfe?

In der Tat, die venezuelanische Regierung begleitet die US-Kriegspolitik nicht mit "kritischer Solidarität", sondern verurteilt sie laut und deutlich. Sie begnügt sich nicht, ihre "Bedenken" unter Freunden vorzutragen, sondern sie bestreitet der US-Regierung jedes (moralisches) Recht, unter dem Vorwand den Terror zu bekämpfen, Krieg zu führen. Eine Regierung, der jeder Terror, jedes Gewaltregime Recht ist, wenn es amerikanische Interessen dient bzw. exekutiert.

Dieser hegemonialen Ordnung, in der die EU das optimierende Korrektiv bildet, verweigert die venezuelanische Regierung ihre Gefolgschaft. So belässt sie es auch nicht dabei, ab und an die Reformierung der Un-Institutionen leise und folgungslos anzuregen. Sie unternimmt ganz konkrete Schritte, die diktatorische Macht der nicht gewählten und nicht legitimierten fünf ständigen Mitglieder im UN-Sicherheitsrat zu brechen. Auf dem Weg dorthin rang sie um ein Mandat für eins der freiwerdenden, gewählten Sitze im UN-Sicherheitsrat. Ist das nicht ein bescheidenes Anliegen? In der Tat, die US-Regierung und die meisten europäischen Regierungen unternahmen in trauter Eintracht alles, um diesen Vorstoß zu verhindern. Aber gäbe es nicht genug Grund, die Tatsache zu würdigen, dass es trotz enormen Druckes, vieler Erpressungen und über 40 Abstimmungen gelungen ist, 80 Regierungen hinter die Kandidatur Venezuelas zu vereinen?

Auch der Vorwurf, die venezuelanische Regierung betreibe "Attacken auf die Privatindustrie" verrät mehr über das devote Wirtschaftsverständnis der FR als über die konkreten Verhältnisse in Venezuela. Wie bereits ausgeführt, geht es der venezuelanischen Unternehmerschaft gut, für multinationale Konzerne wie Chevron ist es "schwer, nicht hier (in Venezuela) zu sein"

Warum erschrickt die FR, wenn in Venezuela die Leitlinien einer sozialen Marktwirtschaft, die soziale Verpflichtung des Eigentums, der gerechte Ausgleich von Kapital und Arbeit nicht nur in Parlamentsreden und Kommentaren beschworen, sondern in (Regierungs-)Handeln umgesetzt werden? Attackiert die Tatsache, dass heute auch Unternehmen in Venezuela Steuern zahlen und Schutzrechte der ArbeiterInnen einhalten müssen die Privatindustrie wirklich? Oder attackiert diese Politik vor allem ein liberales Selbstverständnis, das die Verlängerung der (Lebens-)Arbeitszeiten, die Entkernung von Schutzrechten, die Privatisierung öffentlichen Eigentums und sozialer Sicherungssysteme in einem Atemzug bedauert und für alternativlos und notwendig erklärt?

Venezuela ist keine außerirdisches Kuckucksnest, sondern Teil der globalisierten Weltwirtschaft. Ist Venezuela vielleicht deshalb so gefährlich, weil es beweist, dass man Gewinne besteuern, Profite beschneiden, soziale Lebensbedingungen schaffen kann, in denen alle am gesellschaftlichen Leben partizipieren - ohne den Kapitalismus abzuschaffen? Ist das Beispiel Venezuela deshalb so gefährlich, weil es vor Augen führt, dass man für all das kein Sozialismus braucht? Könnte es sein, dass die FR Angst davor hat, dass nicht nur die Menschen in Lateinamerika eine Ahnung davon bekommen, was alles möglich ist, ohne dass der Kapitalismus ALH II beantragen muss, ein Almosen, das laut höchstrichterlicher Rechtsprechung durchaus die Lebenswürde respektiert?

Sicherlich verwundert es nicht wirklich, dass die Verfechter der "alten Welt" nichts von dem bolivarischen Prozess in Venezuela halten und schon gar nichts von seiner Ausbreitung in ganz Lateinamerika. Denn diese Entwicklung richtet sich nicht nur gegen die Vorherrschaft der USA, sondern auch gegen seine innere Konkurrenz, die der Europäischen Union.

Kritik kommt aber auch von Teilen der Linken, die die hegemoniale Ordnung nicht verteidigen, sondern überwinden wollen. Zum Teil decken sich die Vorwürfe, zum Teil gehen sie weit darüber hinaus, wie z.B. in der Zeitschrift Konkret, in der die "Verbrüderung eines lateinamerikanischen Sozialisten mit einem iranischen Dschihadisten" angeprangert wird. Der politische und wirtschaftliche Schulterschluss mit der iranischen Regierung mündet schließlich in dem Urteil, Hugo Chávez sei "ein Gotteskrieger" - dem man nicht folgen, sondern bekämpfen werde.

Während die rechten Kritiker am bolivarischen Prozess in Venezuela etwas für Sozialismus halten, was sich in jeder Verfassung Westeuropas finden lässt, einschließlich der Möglichkeit der Enteignung, ist für einen Teil der Linken genau dies ein Grund mehr, auf Distanz zu gehen. Sie werfen der venezuelanischen Regierung vor, dass sie zwar vom "Sozialismus im 21. Jahrhundert" rede, aber am Kapitalismus nichts grundlegend ändere.

Immer noch fließen fünfzehn Prozent des venezuelanischen Erdöls in die USA, immer noch schwimmt die Oligarchie im Geld und fliegt zum Shopping nach Paris oder London.

Sicherlich wäre die venezuelanische Regierung macht-politisch in der Lage, die Öllieferung in die USA einzustellen. Was politisch konsequent wäre, ist in der bestehenden Weltordnung ein Grund zur militärischen Intervention. Bekanntlich gehören zu allen Militärdoktrien des Westens die militärische Sicherung strategischer Ressourcen, wozu gerade auch Erdöl zählt. Ist es nicht klüger, die Öllieferungen fortzusetzen, um Zeit zu gewinnen, den gesellschaftlichen Prozess im Inneren voranzubringen?

Auch die Oligarchie zu enteignet, wäre in Venezuela kein großer Verlust. Sie investiert "nur das Nötigste" und lebt im Wesentlichen vom (luxuriösen) Importgeschäft. Eine eigene verarbeitende Industrie existiert so gut wie nicht. Seit Jahrzehnten hat sich die Oligarchie an den Ölrenditen bereichert und den Rest einfach importiert. Selbst Nahrungsmittel ließ sie zu zwei Drittel einführen, obwohl Venezuela über äußerst fruchtbare Agrarflächen verfügt.

Neben der Petrokratie existiert in Venezuela auch noch eine kleine, reiche Schicht von Großgrundbesitzern. Fünf Prozent aller Eigentümer an Grund und Boden verfügen über vier Fünftel des Agrarlandes. Umgekehrt bewirtschaften 75 Prozent der Kleinbauern gerade einmal sechs Prozent des Landes. Auch hier fordert ein Teil der venezuelanischen Linken eine sofortige Enteignung der Großgrundbesitzer.

In all diesen Fragen schlägt der bolivarischen Prozess eine andere Richtung ein.

Die Eigentumsverhältnisse werden - bislang - nicht angetastet. Einzig und allein im Fall der dauerhaften Nichtwertung von Firmeneigentum sieht die neue Verfassung eine Enteignung vor - mit Entschädigung. Ganz anders sieht es hingegen mit der Wertabschöpfung mittels Steuern vor. Während in Europa die Steuerbelastung für Kapitaleigner lateinamerikanische Zero-Zustände ansteuert, erhöht die bolivarische Regierung sowohl bei der staatlichen Erdölkonzern PDVSA, als auch gegenüber privaten Kapitaleignern die Steuerquote deutlich.

Auch die Ende 2001 verabschiedete Landreform verzichtet auf eine entschädigungslose Enteignung der Großgrundbesitzer. Nachweisen müssen sie jedoch, dass sie Grund und Boden legal erworben haben und sie ihre Latifundien produktiv nutzen.

Auch ohne die Enteignung der Großgrundbesitzer verändert sich die Situation der Kleinbauern spürbar. Seit Einführung der Landreform ließ die bolivarische Regierung "je zehn Hektar große Parzellen aus Staatsbesitz an 130.000 Kleinbauernfamilien verteilen... 100.000 Familien will die Regierung in den kommenden sechs Monaten Land zuweisen..."

Parallel dazu wird der rechtmäßige Erwerb von Großgrundbesitz überprüft. Über 40.000 Farmen werden inspiziert, inwieweit sie genutzt werden und nicht brachliegen.

Das Problem der Enteignung ist eben nicht nur eine Frage der (Staats-)Macht. Wer keine Staatsbetriebe will und auch jede Form der Zwangkollektivierung (einschließlich Umsiedlungen aufs Land) ablehnt, muss zu aller erst die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass eine Agrarwirtschaft entstehen kann, mit der die Selbst-Versorgung und Subsistenz langfristig möglich ist. Dieser Prozess dauert um einiges länger als die Verabschiedung eines Dekrets zur Enteignung der Großgrundbesitzer. Die Forderung nach Enteignung von Großgrundbesitz ist schnell ausgesprochen. Viel mühsamer ist der Prozess, Menschen für diese ländliche Perspektive zu gewinnen, sie zu qualifizieren und mit entsprechenden technischen Mitteln auszustatten. All das in einem Land, in dem 90 Prozent der Bevölkerung in den Städten wohnt und lebt. Genau aus diesem Grund werden in den letzten Jahren massiv Kooperativen auf dem Land gefördert, Anbaumethoden getestet und ländliche Gebiete, die für Agrarwirtschaft geeignet sind, infrastrukturell erschlossen.

Auch der Prozess der Vergesellschaftung lebenswichtiger Belange dauert länger als das Auszählen von Wahlstimmen. Wenn es darum geht, die Bevölkerung in alle Entscheidungen miteinzubeziehen, Strukturen aufzubauen, die eine kontinuierliche Partizipation ermöglichen, dann schöpft Venezuela so wenig aus den Vollen wie irgendein anderes Land auf dieser Erde. Die Struktur aufzubauen und zu erproben, die Partizipation im Alltag zu ermöglichen, verlangt einen langen Atem, viel experimentieren, viele Enttäuschungen.

Überall im Land entstehen lokale, regionale Räte, in denen alle Belange des Lebens diskutiert, beratschlagt und mitentscheiden werden. Diese Möglichkeit der direkten Beteiligung ist kein Laune des "Aló Presidente", sondern Bestandteil der neuen bolivarischen Verfassung, die seit 1999 in Kraft ist. Der Rechtswissenschaftler Huberto Njaim zählt 61 Artikel, die "direkt auf die Partizipation Bezug nehmen. Lediglich 21 gehen auf die Repräsentation ein."

Fast in jedem Barrio, in jedem Stadtteil, überall auf dem Land sind Gesundheitskomitees entstanden, die den Bedarf vor Ort bestimmen und die Voraussetzungen dafür schaffen müssen, dass kubanische Ärzte die Lücke füllen, die seit Jahrzehnten die Politik der Vorgängerregierungen geschaffen hat.

Elemente von Selbstverwaltung entstehen, werden institutionell abgesichert und mit einen eigenen Etat ausgestattet, z.B. Stadtteilräte (Consejos Comunales): "Unmittelbares Ziel der Stadtteilräte wird es sein, die gravierenden Strukturprobleme der Gemeinden zu bewältigen. Chaotische Verkehrsituationen, unzureichende Strom- und Wasserversorgung, mangelnde Müllentsorgung oder eine hohe Kriminalitätsrate - solche alltäglichen Probleme sollen künftig mit direkter Beteiligung der Bewohner gelöst werden."

Um die Vormacht der privaten Radio- und Fernsehstationen zu brechen, werden überall lokale und kommunale Radio- und TV-Kollektive gefördert. Anstatt die privaten Sender, die allesamt in der Hand der Opposition sind, zu schließen, wird die Richtung der Kommunikation geändert, umkehrt - nicht mehr länger von oben nach unten, sondern von unten. Wie ein Netz ohne Zentrale breiten sie sich nach allen Seiten aus. Bis heute sind es über 100 lokale Radio- und Fernsehstationen.

Ein keynesianisches, staatsinterventionistisches Modell der nachholenden, kapitalistischen Entwicklung oder ein Übergangsstadium zum "Sozialismus des 21. Jahrhundert"?

Wenn Sozialismus und/oder Rätedemokratie, eine nicht-kapitalistische Gesellschaft kein Staats- und Regierungsakt ist, sondern ein Prozess wachsender gesellschaftlicher Partizipation, dann kommt es darauf an, diese Strukturen aufzubauen und zu stärken, bis sie in der Lage sind, eine andere Form von Gesellschaftlichkeit zu tragen. Es geht eben nicht um Verstaatlichung, sondern um die Rückgewinnung von Entscheidungsmacht, um den Aufbau von Strukturen, die nicht von (staatlichem) Paternalismus geprägt und abhängig sind, sondern von gesellschaftlicher Teilhabe. Diese kann man nicht von oben dekretieren. Sie müssen gegen die jahrzehntelang eingeübte Machtlosigkeit in Bewegung gesetzt, auf die Füße gestellt werden. Man bricht nicht wirklich mit dem Bestehenden, wenn nicht das Neue an die Tür des Alten tritt, erst pocht und dann rüttelt. Das Neue, das Andere muss nicht nur in der Theorie gedacht werden. Das Neue muss in der Praxis das Bestehende überflüssig machen, um an seine Stelle treten zu können. Ein solcher Prozess überspringt also nicht das Bestehende, sondern wächst im Bestehenden, treibt ausdauernd und unversöhnlich das Bestehende an den Rand seiner Möglichkeiten. Dann ist der Zeitpunkt gekommen, das Bestehende hinter sich zu lassen. Dieser Zeitpunkt bestimmt sich also nicht an der Vision von einer anderen/besseren Welt, sondern an ihrer Gegenwärtigkeit.

Dieser Weg ist riskant. Anstatt den alten Staatsapparat sauber zu zerschlagen, wird er - im besten Fall - Zug um Zug ausgehöhlt, ersetzt, entmachtet und überflüssig gemacht. Eine parallele Machtstruktur entsteht, die sich ganz langsam Kompetenz und Beständigkeit aneignet. Millionen von Menschen, die bisher bestenfalls Objekt paternalistischer Gefälligkeiten waren, entdecken, erproben ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten, Subjekte ihres Lebens zu werden, es selbst in die Hand zu nehmen, es gemeinsam zu gestalten. All das hört sich pathetisch an, erst recht, wenn man die Vorstellung von einem selbstbestimmten Leben aufgegeben hat. Wenn man jedoch in den barrios, in den ärmsten Stadtvierteln Caracas miterlebt, wie Volksküchen, Zentren und Gesundheitskomitees entstehen, wie Ausschüsse und Räte gebildet werden, um Vorstellungen auszutauschen und Pläne zu entwickeln, wie die erbärmlichen Lebensbedingungen an den Hängen von Caracas verändert werden können, dann ist es nicht mehr Pathos, sondern die Umsetzung dessen, wovon die Linke in Westeuropa bislang nur träumen kann: Eine andere Welt ist möglich!

Wird sich der nach wie vor mächtige Staatsapparat (trotz zahlloser Entlassungen von Ministern und höheren Angestellten) durchsetzen? Wird die ökonomisch nicht entmachtete Klasse ihre verlorene politische Macht zurückgewinnen? Werden sich die vielen Basisorganisationen und Parallelstrukturen an dem Bestehenden aufreiben? Wird die Euphorie irgendwann in Resignation und Enttäuschung umschlagen?

Diese Fragen beantworten sich nicht mit dem Idealismus derer, die den bolivarischen Prozess - der sich durch Blockaden und Sprüngen auszeichnet - mit Leib und Seele tragen und vorantreiben. Mindestens genau so entscheidend wird sein, welche Ressourcen in diesen Prozess umgelenkt, welche Mittel dem "Sozialismus des 21. Jahrhundert" zur Seite gestellt werden.

Die bolivarische Verfassung sieht ein hohes Maß an Einspruchsrecht vor, Parlamentsentscheidungen, Gesetzesverordnungen zu kassieren bzw. zu widerrufen. Gemäß Artikel 74 genügen bereits zehn Prozent der Wahlberechtigten, um eine Volksabstimmung zu erzwingen. Doch die Macht partizipativer Beteiligung hat ihre Grenzen, wenn es ums Geld geht: "Haushaltsgesetze, Gesetze, die Steuern einführen oder modifizieren... können nicht einer Volksabstimmung ... unterworfen werden."

Der Wettlauf zwischen Restauration der alten Staatsmacht und der partizipativen, basis-demokratischen Macht wird nicht an der Frage der Enteignung des Kapitals entschieden. Zuvorderst wird der Staatshaushalt, seine Verteilung darüber entscheiden, welcher Weg finanziell getragen, welcher ökonomisch erschwert bzw. blockiert wird. Bis heute wird diese Zitterpartei zwischen dem fragilen Parteienbündnis MVR und den alten Machteliten ausgetragen - unter institutionellem Ausschluss aller basis-demokratischen Sektoren. Auch dieser Weg ist riskant - in Venezuela steht er jedoch unter einem glücklichen Stern. 50 Prozent des Staatseinkommens kommen aus dem formal verstaatlichten Erdölsektor. Ein direkter Zugriff auf den dort erwirtschafteten Mehrwert wäre also möglich, eine direkte Einbindung von Kooperativen und Genossenschaften machbar.

Will dieser Prozess der Doppelmacht gelingen, muss der Mehrwert in den Aufbau von Parallelstrukuren fließen. Man könnte meinen, dass dies ein leichtes Spiel sein könnte - schließlich befindet sich der Erdölsektor in Staatsbesitz und ist somit dem Willen der Regierungspartei unterworfen. Dass nicht die Eigentumsfrage entscheidend ist, dass eine Verstaatlichung nicht der Zauberstab des Sozialismus ist, lässt sich gerade am Beispiel der seit 1976 verstaatlichten Erdölindustrie eindrucksvoll belegen. Bis zum Wahlsieg der bolivarischen Regierung 1998 war der staatliche Erdölsektor eine sprudelnde Quelle der Bereicherung für die an der Macht befindlichen politische Klasse - in der ehemaligen Sowjetunion nicht anders als in Venezuela. Die mit der Nationalisierung gegründete Staatsfirma PdVSA entwickelte sich zum Staat im Staat, im Privatbesitz einer Klasse, die politische Ämter und lukrative Posten in der PdVSA unter sich aufteilte. Zwar wurde in den über 30 Jahren formal an der Verstaatlichung nichts geändert, doch hinter der Fassade nationaler Souveränität wurde alles abgeräumt und verkauft, was in Erdölgeschäft Gewinne und Profite verspricht. Es dauerte Jahre, bis die bolivarische Regierung das System aus Schachtelbeteiligungen und Mischunternehmen entschlüsselte, das die Faz süffisant so bilanziert: 50 Prozent der Erölproduktion ist noch formal in der Hand der staatlichen PdVSA, die andere Hälfte ist in den Besitz ausländischer Ölkonzerne übergegangen.

Das 2001 erlassene Erdöl- und Erdgas-Gesetz sieht zwar nicht die Annullierung dieser versteckten Privatisierungen vor, doch einen gewaltigen Zugriff auf den dort erwirtschafteten Mehrwert. Fortan müssen alle im Energiesektor tätigen Firmen Abgaben in Höhe von 30 Prozent auf Öl und 20 Prozent auf Gas in den Staatshaushalt abführen. Gleichzeitig machte sich die bolivarische Regierung daran, den Paria-Status des Staatskonzerns zu brechen und zu entmachten. Verdiente ein leitender Angestellter einst ca. 7000 Dollar, kommt heute derselbe auf etwa 1500 Dollar. Auch die hierarchische Struktur innerhalb des Staatsbetriebes wurde aufgebrochen, die "sala situacional" institutionalisiert: "Alle an einem Projekt beteiligten Mitarbeiter arbeiten zusammen in einem Konferenzraum... In der "Generaldirektion für soziale Entwicklung" ... machen Militärs und Soziologiestudentinnen mit Einwohnern eines verarmten Stadtteils Pläne für Arbeitsbeschaffungsmassnahmen."

Was an entwürdigende Maßnahmen der Agentur für Armut bzw. Arbeit erinnert, zielt in Venezuela auf die Stärkung von Genossenschaften und (Klein-)Kollektiven. Die PdVSA verpflichtet sich, Aufträge vorrangig dorthin zu vergeben bzw. zum Aufbau solcher kollektiven Strukturen beizutragen.

Den Selbstbedienungsladen PdVSA wird auch mit einem weiteren Schritt angetastet und aufgebrochen: Immobilien, die bislang die Gewinne verstecken sollten, werden sozialen, gesellschaftlichen belangen zur Verfügung gestellt: Eine der vielen neuen bolivarischen Universitäten in Caracas hat ihre Heimat in einem ehemaligen Gebäudekomplex der PdVSA gefunden. Darüber hinaus verpflichtet sich die PdVSA, einen Teil des erwirtschaften Mehrwerts direkt in die Finanzierung der Alphabetisierungs- und Bildungsprogramme zu stecken.

Ein Prozess mit offenem Ende

Nicht nur in der deutschen Linken wird darüber - in kleinem Kreis - gestritten, was man von diesem bolivarischen Prozess halten soll. Die einen winken ab und sehen darin i.w. nur (längst überfällige) Reformen, zu denen die Oligarchie, die sich mit Petrodollars kubanische Zigarren anzündet, nicht mehr in der Lage war. Die anderen schauen nicht darauf, ob die Reformen verkraftbar sind, sondern ob mit ihnen die Machtbasis all derer verbreitert wird, die nicht an eine Reformierung des Bestehenden, sondern an seine Überwindung interessiert sind.

Auch innerhalb und außerhalb des Parteien- und Regierungsbündnisses MVR wird fast jeden Tag über diese Gretchenfrage gestritten. Es vergeht keine Woche, wo nicht ein Minister zurücktritt oder gefeuert wird, ein Parteimitglied austritt, ein Weggefährte des bolivarischen Prozesses die Seite wechselt. Die einen gehen, weil ihnen alles zu radikal ist , die anderen weil es nicht radikal genug ist.

Selbst wenn wir in all diese Köpfe schauen könnten, würden wir die Antwort auf diese wichtige Frage nicht finden. Man wird sich also mit dieser Ungewissheit auf eine Seite stellen müssen - um sie stark zu machen.


Dieser Beitrag findet sich auch in dem von Rainer Mönkediek und Uwe Rolf herausgegebenen Buch "Süßes für Konsumenten - bittere Last für die Dritte Welt", Sozio-Publishing, 2007, S.149-168