Anhaltende Proteste in Brasilien

Demonstrationen und Streiks im ganzen Land. Forderung nach Demilitarisierung der Polizei wird lauter

violencia.jpg

Die Proteste richten sich auch gegen die Polizeigewalt
Die Proteste richten sich auch gegen die Polizeigewalt

São Paulo. Während die Bilder der Massenproteste in Brasilien zunehmend aus der internationalen Berichterstattung verschwinden, halten die Proteste landesweit an und bleiben hinsichtlich ihrer Forderungen und der politischen Positionierung vielseitig. In mehreren Städten gingen am Mittwoch und Donnerstag Abend erneut tausende Menschen auf die Straße. In der Landeshauptstadt von Espírito Santo, Vitória, protestierten am Donnerstag Abend (Ortszeit) mehrere tausend Menschen gegen die hohen Mautgebühren einer der zentralen Hauptverkehrsadern. Es kam zu Zusammenstößen mit der Militärpolizei und mehreren verletzten Demonstranten.

In ganz Brasilien wurden mindestens 14 Schnellstraßen von protestierenden Lastwagenfahrern blockiert. Indigene Gruppen aus dem Bundesstaat Maranhão blockierten am Donnerstag ihrerseits die zentrale Bahnlinie, die den Eisenerztransport Vales aus der Mine Carajás im Bundesstaat Pará mit dem Überseehafen von São Luís, Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Maranhão, regelt. Die indigenen Gruppen fordern bessere Gesundheitsversorgung. Rund 300 Indigene halten zudem seit dem 24. Juni das Landesgesundheitsamt in São Luís besetzt.

Indessen stößt die brasilianische Regierung bei ständischen Organisationen auf Widerstand gegen ihren ersten Reformvorschlag. Ärztevereinigungen sowie Medien kritisieren den Plan der Regierung, gut ausgebildeten kubanischen Ärzten einen Zugang zum brasilianischen Arbeitsmarkt zu ermöglichen, um das öffentliche Gesundheitssystem zu verbessern. In mehreren Städten demonstrierten Ärzte gegen den Gesetzentwurf, der es ausländischen Ärzten erlauben würde, im brasilianischen Gesundheitssystem (SUS) zu arbeiten. In abgelegeneren ländlichen Regionen vor allem des Nordens und Nordostens Brasiliens gibt es einen massiven Ärztemangel.

In São Paulo hatte derweil ein Bündnis aus verschiedenen Gruppen zu einer Demonstration unter dem Motto "Ich verzichte auf die Weltmeisterschaft. Ich will Geld für Unterkunft, Gesundheit, Bildung und Transport mit Qualität“ aufgerufen. In dem Ankündigungstext bekräftigt das Bündnis, in dem auch die Movimento Passe Livre (MPL) und die Landlosenbewegung MST organisiert sind, die Forderung eines kostenfreien Transports und betont die Notwendigkeit der Ausweitung der Mobilisierung, "damit die Forderungen der Arbeiter und der Jugend von den Regierenden gehört werden".

Die von Präsidentin Dilma Rousseff bei einem Treffen mit Vertretern von sozialen Bewegungen in der vergangenen Woche vorgeschlagenen Reformpakete werden vom Bündnis stark kritisiert: "Dilma hat fünf Reformpakete für Brasilien vorgeschlagen. Wir glauben, dass diese Pakte nicht für die Arbeiter sind. Aus diesem Grund fordern die Organisationen der Arbeiter die Präsidentin auf, fünf Pakte zu bewilligen, die wirklich den Interessen der Mehrheit des brasilianischen Volkes entsprechen."

Das Bündnis stellt den Entwürfen der Präsidentin fünf eigene Reformpakete entgegen. Neben den Punkten Transport, Arbeit, Unterkunft, Bildung und Gesundheit stellt das Bündnis den Punkt gegen die Gewalt heraus, in welchem sie die Demilitarisierung der Polizei fordert. Nach den brutalen Übergriffen durch Polizeikräfte auf Demonstranten in den vergangenen Wochen werden die Stimmen für eine Demilitarisierung der brasilianischen Polizei immer lauter.

Gerade die Militärpolizei (PM) ist für ihre Brutalität bekannt und erlangte vor allem unrühmliche Berühmtheit durch Gewaltexzesse und Massaker, wie zum Beispiel im Jahr 1992 als Polizisten 111 Gefangene im Gefängnis von Carandiru in São Paulo exekutierten, oder im Jahre 1996 als Militärpolizisten 19 Teilnehmer einer Landlosen-Demonstration im Amazonasgebiet beim sogenannten Massaker von Eldorado dos Carajás erschossen.

Der Jura-Professor Túlio Vianna der Föderalen Universität von Minas Gerais (UFMG) bekräftigte am Montag bei einem öffentlichen Vortrag vor dem Museum der Modernen Kunst in São Paulo die Kritik am brasilianischen Polizeisystem: "Das Problem des Militarismus ist, dass er in seiner Logik Soldaten für den Krieg ausbildet. Die Logik eines Militärs ist es, einen Feind zu haben, den es zu besiegen gilt und um das zu erreichen, alles tun um diesen Feind auszulöschen". Weiter führte Vianna aus: "Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, die Demilitarisierung auf die Tagesordnung zu setzen. Die Militärpolizei war immer gewalttätig, immer gewalttätig gegen die Armen."

Soziale Bewegungen und Stadtteilorganisationen beklagen seit Jahren die Gewalt von Polizei und Spezialkräften gegen die ärmsten Bevölkerungsschichten. Erst am 24. Juni dieses Jahres wurden in Rio zehn Bewohner des Armenviertels Nova Holanda von Einsatzkräften der Spezialeinheit BOPE erschossen. Diese Woche zogen über 5.000 Menschen durch den Stadtteil, um der Toten des Massakers im Stadtteil Maré zu gedenken und gegen die unverhältnismäßigen Polizeieinsätze in Rio de Janeiros Peripherie zu demonstrieren. Menschenrechtsgruppen kritisieren, dass es in den Medien einen Aufschrei über die Gummigeschosse der Militärpolizei auf die Demonstrationen gegeben habe, die überwiegend von Angehörigen der brasilianischen Mittelschicht besucht wurden, während die Verwendung scharfer Munition in den Favelas von den gleichen Medien weitaus weniger kritisch betrachtet wird.

Schon im letzten Jahr hatte der Menschenrechtsrat der UNO Brasilien empfohlen, die Militärpolizei aufzulösen. Nachdem nun Bilder von schwer verletzen Demonstranten und Gewaltexzessen der Militärpolizei um die Welt gehen, wächst der politische Druck weiter. Auch die Nationale Menschenrechtsrechtskommission (CNDH) der brasilianischen Anwaltsvereininung unterstützt die Demilitarisierung der Polizei. "Die Gewalt der Polizei ist ein Erbe der Diktatur und die Militärpolizei hat noch nicht gelernt, mit der Demokratie zusammenzuleben", sagte Wadih Damous, Präsident der Vereinigung.