Lateinamerika / Soziales

Mittelschicht in Lateinamerika wächst enorm

Laut Weltbank-Studie wächst Mittelschicht auf 153 Millionen. Ungleichheit und Bildungssystem verhindern gesellschaftliche Gerechtigkeit

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Weltbank-Studie "Wirtschaftliche Mobilität und Wachstum der Mittelschicht in Lateinamerika" (2013)
Weltbank-Studie "Wirtschaftliche Mobilität und Wachstum der Mittelschicht in Lateinamerika" (2013)

Washington/Caracas. Laut einer gemeinsamen Studie von Weltbank und der Entwicklungsbank für Lateinamerika (CAF) ist nach "Jahrzehnten der Stagnation" die lateinamerikanische Mittelschicht um 50 Prozent

von 103 Millionen (2003) auf 152 Millionen (2009) angewachsen. Die am vergangenen Mittwoch veröffentlichte Untersuchung "Wirtschaftliche Mobilität und Wachstum der Mittelschicht in Lateinamerika" analysiert die Entwicklung von Sozialstruktur und wirtschaftlicher Entwicklung nach der Jahrtausendwende auf der Grundlage offizieller Statistiken und eigener Studien.

Durch gestiegene Einkommen der Haushalte sei die soziale Ungleichheit "in den meisten Ländern" zurückgegangen. Der Anteil der armen Bevölkerung habe sich "bemerkenswert" von 44 auf 30 Prozent aller Lateinamerikaner verringert. "Daraus folgt, dass in Lateinamerika der Anteil der Bevölkerung aus der Mittelschicht heute mit dem der Bevölkerung in Armut auf gleichem Niveau ist", stellen die Wissenschaftler fest. Noch immer aber sei die Ungleichheit "inakzeptabel hoch", das Panorama würde "widersprüchliche Emotionen" hervorrufen. Unter den zehn ungleichsten Gesellschaften hinsichtlich der Einkommensverteilung befinden sich acht lateinamerikanische Länder. Doch sei "der Wandel nicht zu verneinen und zeigt in die richtige Richtung" so die Autoren der Studie.

"Denn die Gegenwart“, so die Studie weiter, "stehe im Gegensatz zur vorhergehenden Situation vor rund zehn Jahren, als der Anteil der Armen den der Mittelschicht fast um 2,5 Mal übertraf“. Zur Mittelschicht zählen laut der Untersuchung Personen mit einer "gewissen wirtschaftlichen Stabilität“ und der "Fähigkeit über einen Zeitraum von fünf Jahren bestimmte Unwägbarkeiten zu überstehen." Dies ist laut der Studie bei einer Person ab einer Tageskaufkraft von über zehn US-Dollar pro Tag der Fall. Die Obergrenze für die Mittelschichtszuordnung liegt bei 50 US-Dollar pro Tag. Eine vierköpfige Familie mit einem Jahreseinkommen zwischen 14.600 bis 73.000 US-Dollar wird von der Studie zur Mittelschicht gezählt.

Als "wichtigster Motor“ für das Anwachsen wird das "beschleunigte Wirtschaftswachstum des letzten Jahrzehnts" angeführt. Auch staatliche Sozialprogramme hätten die soziale Lage der Ärmsten mit verbessert. Allerdings würde das statistische Material darauf hinweisen, dass ein höheres Pro-Kopf-Einkommen mit 66 Prozent "die wichtigste Rolle bei der Armutsreduzierung spielt" und mit 74 Prozent zur Erweiterung der Mittelschicht beigetragen habe. Besonders für Frauen aber bliebe es weiterhin schwer, durch stärkere Beteiligung am Arbeitsmarkt ihre Einkommen zu verbessern.

Besonders kritisiert die Studie Lateinamerikas Bildungssystem, das als großes Hindernis für mehr gesellschaftliche Gerechtigkeit identifiziert wird. "Schüler aus privilegierten Haushalten konzentrieren sich in denselben Schulen, in denen sie exklusiven Zugang zu besserer Bildung, besserer Infrastruktur und besseren Lehrern haben", beklagt die Weltbank.

In Bolivien, einem der Länder des Kontinents, in denen in den 1990er Jahren Armut und Ungleichheit noch zugenommen hatten, haben im Studienzeitraum "rund 50 Prozent der Bevölkerung eine Bewegung nach oben gemacht", zitiert die Tageszeitung Los Tiempos den Chefökonom der Weltbank für Lateinamerika und die Karibik, Augusto de la Torre. Im Andenland habe sich "der Großteil von der Armut zur vulnerablen Schicht hin verbessert", so de la Torre bei der Vorstellung des Berichts. Als "vulnerabel" gilt laut Definition der Weltbank eine Person mit einem Tageseinkommen von vier bis zehn US-Dollar. Alles darunter gilt als arm.