Bolivien / Politik

Wachsender Widerstand gegen Putsch in Bolivien, Morales ruft zum Dialog auf

Mit Volksversammlungen, Demonstrationen und Straßenblockaden fordern Tausende den Rücktritt der selbsternannten Präsidentin

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Die Parole bei der Großdemonstration in La Paz am Mittwoch lautete: "Añez, Rassistin, wir wollen deinen Rücktritt, das Volk will dich nicht" (Añez, racista, queremos tu renuncia, el pueblo no te quiere)
Die Parole bei der Großdemonstration in La Paz am Mittwoch lautete: "Añez, Rassistin, wir wollen deinen Rücktritt, das Volk will dich nicht" (Añez, racista, queremos tu renuncia, el pueblo no te quiere)

La Paz. Während der Widerstand gegen den erzwungenen Rücktritt von Boliviens Präsident Evo Morales zunimmt, hat die selbsternannte Übergangspräsidentin Jeanine Añez in ersten "Amtshandlungen" die Militärführung ausgewechselt und elf Minister ernannt.

Añez hatte sich zur Präsidentin erklärt, ohne dass das Parlament das Rücktrittsgesuch von Morales angenommen und entsprechend der Verfassung die oder den Vorsitzende(n) des Senats oder der Abgeordnetenkammer zur Übernahme der Amtsgeschäfte eingesetzt hatte, um innerhalb von 90 Tagen Neuwahlen einzuberufen. Als die beiden "grundlegenden Aufgaben" ihres Mandats bezeichnete sie die sofortige Aufhebung des Urteils des Verfassungsgerichts von 2017, das eine Wiederwahl von Amtsträgern ermöglicht (amerika21 berichtete). Damit soll eine erneute Kandidatur von Morales verhindert werden. Zudem sollen "transparente Wahlen in möglichst kurzer Zeit" durchgeführt werden, erklärte sie.

Unterdessen sorgen rassistische, inzwischen gelöschte Tweets von Añez weltweit für Empörung, auch die deutsche Tagesschau berichtete darüber. Sie hatte unter anderem die Neujahrsfeier der indigenen Aymara als "satanisch" bezeichnet und angemerkt: "Niemand kann Gott ersetzen!". Am 14. April 2013 schrieb sie: "Ich träume von einem Bolivien frei von teuflischen indigenen Riten, die Stadt ist nicht für Indios, sollen sie abhauen ins Hochland oder in den Chaco!"

Anhänger der Bewegung zum Sozialismus (MAS), soziale Bewegungen und Gewerkschaften protestieren seit Montag zunehmend in den Städten und auf dem Land mit Demonstrationen, Straßenblockaden und Volksversammlungen gegen den Putsch und die "Übergangspräsidentin" sowie gegen das repressive Vorgehen der Sicherheitskräfte. Bei einer Massendemonstration am Mittwoch in La Paz verlangten sie den Rücktritt der "Rassistin Añez". Die Forderung nach der Rückkehr von Morales und seinem Vize Álvaro García Linera wird lauter.

Die Vereinigung der Kleinbäuerinnen Bartolina Sisa hat ihre Ortsgruppen aufgerufen, "zur Verteidigung unserer Identität" Hauptstraßen zu sperren und so den Transport von Lebensmitteln zu blockieren. Die Landarbeitergewerkschaft von La Paz mobilisiert zu Kundgebungen auf den Plaza Murillo, den Hauptplatz der Stadt, an dem sich der Regierungssitz und das Parlament befinden und der seit Tagen von der Polizei abgesperrt ist. In El Alto im Departamento La Paz blockierten tausende Bewohner die Zugänge zur Stadt und hielten eine Volksversammlung unter freiem Himmel mit weiteren Tausenden Menschen ab. Dabei beschlossen sie, die selbsternannte Präsidentin nicht anzuerkennen. Nahezu täglich marschieren Tausende von El Alto nach La Paz.

Die Gewerkschaft der Kokabauern (Cocaleros) von Cochabamba hatte am Mittwoch die sozialen Organisationen im Land "zu einer entschlossenen Mobilisierung" aufgefordert und erklärt, solange auf den Straßen zu bleiben, "bis unser Bruder Evo Morales in die Präsidentschaft zurückkehrt, denn sein verfassungsmäßiges Mandat geht bis zum 22. Januar 2020". Der Exekutivsekretär der Einheitsgewerkschaft der Landarbeiter, Jhonny Pardo, teilte am Mittwoch mit, dass die Organisation Blockaden auf den Autobahnen von Cochabamba nach La Paz und Santa Cruz begonnen hat, "um die Respektierung der auf dem Land abgegebenen Stimmen einzufordern". Andrónico Rodríguez, Vizepräsident des Koordinierungsausschusses der sechs Gewerkschaften von Cochabamba, hatte ebenfalls erklärt, dass die Gewerkschafter ab Mittwoch gegen Añez auf die Straße gehen, um Morales wieder ins Amt zu bringen.

Immer wieder kommt es bei den Protesten zu heftigen Auseinandersetzungen mit Polizei und Militär, die seit Montag gemeinsam agieren. Nach Angaben der Ombudstelle wurden dabei allein am 11. und 12. November fünf Menschen getötet, vier starben an Schussverletzungen, einer wurde erstickt. In Montero, einer Stadt nördlich von Santa Cruz, wurde am Mittwoch ein 20-Jähriger bei Zusammenstößen erschossen. Ein weiterer Demonstrant soll in Yacapani von Sicherheitskräften getötet worden sein.

Inmitten massiver Proteste gegen den Putsch in El Alto und La Paz haben die Parlamentsabgeordneten der MAS, die seit den Wahlen 2014 in beiden Kammern eine Zweidrittelmehrheit innehaben, sich doch noch Zutritt zum Parlament verschaffen können. Am Tag zuvor waren sie von der Polizei mit Gewalt daran gehindert worden. Am Mittwochabend wurde das nötige Quorum erreicht, um eine reguläre Sitzung der Abgeordnetenkammer durchzuführen. Beschlossen wurde, die Parlamentssitzung, bei der Añez sich in ihrer Abwesenheit selbst ernannt hatte, nicht anzuerkennen. Sergio Choque wurde zum neuen Präsidenten der Kammer gewählt. Er kündigte ein Gesetzesprojekt an, das die Rückkehr der Streitkräfte in die Kasernen regelt und die Polizei anweist, die "öffentliche Ordnung auf friedliche Weise zu wahren". Choque erklärte zudem, er sei bereit, an einer abgestimmten Wahlagenda zu arbeiten. Zugleich bekräftigte er, Präsident Evo Morales sei Opfer eines Staatsstreichs geworden.

Am Donnerstagabend haben auch die Senatoren der MAS eine Sitzung durchgeführt, um die Funktionsfähigkeit des Parlaments wiederherzustellen. Mónica Eva Copa wurde zur neuen Senatspräsidentin gewählt.

Morales selbst hat indes bei einer Pressekonferenz in Mexiko, wo er Asyl erhalten hat, zum nationalen Dialog aufgerufen, um die Konfrontation in Bolivien zu beenden. Daran sollten "Bürger teilnehmen, Politiker, die Wahlen verloren haben, und soziale Bewegungen aus verschiedenen Bereichen". Die Vereinten Nationen, den Papst und "befreundete Länder Euorpas" bat er, diesen Dialog zu begleiten. Morales betonte, rechtlich sei er noch immer Präsident, da das Parlament seinen Rücktritt bislang nicht angenommen habe. Wenn das bolivianische Volk dies fordere, sei er bereit, nach Bolivien zurückzukehren um zur Befriedung des Landes beizutragen.

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres hat am Donnerstag den französischen Diplomaten Jean Arnault zum Sondergesandten für Bolivien ernannt. Arnault, der bereits nach La Paz abgereist ist, soll sich mit "allen Akteuren treffen". Die UNO wolle die Bemühungen um eine friedliche Lösung der Krise unterstützen und transparente, integrative und glaubwürdige Wahlen gewährleisten, sagte der Sprecher von Guterres, Stéphane Dujarric.