Chile / Politik

Regierung in Chile lässt wegen Corona Gefangene frei und begnadigt Diktaturverbrecher

Ältere Gefangene und Frauen mit Kindern kommen frei, politische Gefangene bleiben in Haft. Piñera entlässt mehrere Verbrecher der Pinochet-Diktatur

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Überfüllte Gefängnisse, wo teilweise nicht einmal die Versorgung mit Trinkwasser gesichert ist, sind die Regel in Chile
Überfüllte Gefängnisse, wo teilweise nicht einmal die Versorgung mit Trinkwasser gesichert ist, sind die Regel in Chile

Santiago. Nach einer langen Debatte ist in Chile das "Humanitäre Gesetz" verabschiedet worden. Es sieht vor, dass angesichts der sich ausbreitenden Corona-Pandemie ältere Gefangene aus dem Gefängnis entlassen werden. Von dem jetzt verabschiedeten Gesetz profitieren Männer über 65 und Frauen über 55 oder mit Kindern unter zwei Jahren. Die Gefangenen müssen mindestens die Hälfte ihrer Haftstrafe abgesessen haben. Diese letzte Voraussetzung gilt nicht für Gefangene, die älter als 75 Jahre alt sind. Voraussichtlich werden so knapp 1.700 Gefangene vorzeitig entlassen werden.

Die Debatte um die Verabschiedung war intensiv, weil in der ursprünglichen Fassung auch die Gefangenen im Sondergefängnis Punta Peuco davon profitiert hätten. In dieser oft als "Luxusgefängnis" bezeichneten Haftanstalt sitzen 122 Gefangene ein, die wegen Verbrechen während der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet (1973-1990) verurteilt wurden. Im Gegensatz zu den routinemäßig überfüllten Gefängnissen im chilenischen Normalvollzug, wo teilweise nicht einmal die Versorgung mit Trinkwasser gesichert ist, können die Gefangenen in Punta Peuco ihre Strafe in Zweibettzellen und mit medizinscher Versorgung durch Militärärzte verbüßen.

Vom "Humanitären Gesetz“, das am 16. April verabschiedet wurde, sind diese Gefangenen allerdings nicht betroffen. Ausgeschlossen von den Vorteilen des Gesetzes sind nämlich diejenigen, die wegen Verbrechen wie Menschenrechtsverletzungen verurteilt wurden. Dies wurde allerdings erst durch Interventionen der Opposition und von Nichtregierungsorganisationen, unter anderem von Angehörigen von Diktaturopfern verhindert. Auch Straftäter, die zum Beispiel wegen Elternmord, Femizid, Mord, Vergewaltigung, Sexualstraftaten an Minderjährigen, Menschenhandel mit Migranten oder Verbrechen der häuslichen Gewalt verurteilt wurden, kommen nicht frei.

Das Gesetz wurde bereits Ende 2018, also weit vor der Corona-Pandemie auf den Weg gebracht. Alicia Lira, Präsidentin der Gruppe der "Familien politischer Hingerichteter" (AFEP) erhob deswegen schwere Vorwürfe gegen die Regierung: "Was die Regierung sucht, ist die absolute Ablenkung mitten in einer Pandemie, um diese Menschen, die nicht gefährdet sind, zu befreien. Sie sind im Gegensatz zum Rest der Bevölkerung nicht in Lebensgefahr. Die Regierung hat politisch Mitleid mit ihnen, aber es stellt sich heraus, dass sie nie die geringste Geste von Menschlichkeit gezeigt haben, indem sie aufgedeckt haben, wo sich die Überreste der Tausenden von vermissten Gefangenen befinden". Die Vorwürfe sind berechtigt: Bereits am 11. April begnadigte Präsident Sebastián Piñera 17 wegen Verbrechen gegen die Menschheit Verurteilte und bereitet die Freilassung sechs weiterer vor.

Die Situation in den Gefängnissen Chiles dürfte sich durch die neuen Maßnahmen allerdings kaum entspannen.

Seit Beginn der Revolte im Oktober des vergangenen Jahres sind tausende, meist junge Demonstranten festgenommen worden und sitzen in Untersuchungshaft. Im Gefängnis Santiago 1 sind diese politischen Gefangenen am 6. April deswegen in den unbefristeten Hungerstreik getreten. In einem Kommuniqué fordern sie eine "Grundausstattung zur Verhinderung einer Ansteckung, da wir in unserem Zustand aufgrund der Überbelegung einem hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind".