Uruguay / Politik

Regierung in Uruguay peitscht "Dringlichkeitsgesetz" im Eilverfahren durch

Paket mit 502 Einzelnormen von rechter Koalition durchgewunken. Wegen Corona-Maßnahmen kaum öffentliche Debatten und Proteste möglich

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Protest gegen das "Ley de Urgente Consideración" (LUC) in Uruguays Hauptstadt Montevideo
Protest gegen das "Ley de Urgente Consideración" (LUC) in Uruguays Hauptstadt Montevideo

Montevideo. Inmitten der Beschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie hat die Rechtskoalition in Uruguay ein “Dringlichkeitsgesetz" (Ley de Urgente Consideración, LUC) mit 502 Einzelnormen durchgesetzt. Kritiker bezeichnen das Vorgehen der Regierung und das Gesetzespaket als "verfassungswidrig, volksfeindlich, repressiv und rückschrittlich".

Die Verfassung erlaubt dem Parlament zwar, ein solches Gesetz in speziellen Ausnahmesituationen innerhalb von drei Monaten zu verabschieden, der Vorgang wurde bisher aber nur selten und nur für einzelne Gesetze in Anspruch genommen.

Nun wurde faktisch die gesamte Gesetzesproduktion einer Legislaturperiode – insgesamt 502 Gesetze – in drei Monaten durchgewunken.

Entsprechend war kaum Zeit, Experten zu hören, Diskussionen zu führen und die Bevölkerung umfassend zu informieren, erst recht nicht unter den Bedingungen der Kontaktbeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie .

Bereits im Wahlkampf hatte der seit 1. März 2020 amtierende Präsident Luis Lacalle Pou das Paket angekündigt, ohne genauer auf die Inhalte einzugehen. Die Petition, den Text des Projektes noch vor den Wahlen bekanntzugeben, hat er ignoriert.

Der Generalstaatsanwalt erklärte bereits Ende April, dass eine Reihe dieser Gesetze Verfassungsgrundsätze verletzen. Die Möglichkeit, zu einem Volksentscheid aufzurufen, wird indes in linken und sozialen Organisationen diskutiert.

Laut Verfassung dürfen nur einzelne Gesetze nacheinander als dringlich deklariert werden. Um dies zu umgehen, hat die Koalition über 40 Gesetze jeweils in eines zusammengepackt. Dennoch steht ein Richterspruch dazu bislang aus.

Die selbst von der neuen Regierung nach den Wahlen anerkannte, in jeder Hinsicht stabile Lage des Landes benötigt in keinem Bereich eine "Notlösung" oder "Dringlichkeitsmaßnahme".

Laut dem Abgeordneten Daniel Cacciani von der oppositionellen Frente Amplio (FA) bestehe die "Dringlichkeit" für die Regierung wohl darin, die Sache rasch über die Bühne zu bringen, bevor ihre Koalition auseinanderbricht: "Wenn man diese Initiative in einem Jahr debattieren würde, hätte sie keine parlamentarische Mehrheit."

Das Paket bringt Vorteile für die großen Exporteure, vor allem im Agrarsektor, und benachteiligt die vom Inlandsmarkt abhängigen kleinen und mittleren Unternehmen (70 Prozent der Arbeitsplätze). Die Arbeitnehmer sehen drastischen Lohnkürzungen und Einschränkungen ihrer Rechte entgegen. Die staatliche Ausbildungsförderung für Arbeitssuchende ist ganz gestrichen.

Internationale Kontrollstandards für Geldwäsche und Finanzmanöver werden gesenkt, Gewerkschaftsrechte sowie die Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt. Die traditionelle Autonomie des Erziehungssektors wird aufgelöst, der Staat greift in die universitären Freiheiten ein, verschärft die Strafen für minderjährige Täter, eliminiert Strafverkürzungen bei guter Führung, gibt Polizeibeamten explizit Rechtssicherheit zum Töten. Das Institut für Besiedlung zur Landvergabe an produzierende Bauernfamilien streicht die Verpflichtung zur Produktivität und macht den Weg frei für neuerlichen Spekulationsbesitz.

In Sachen Beschränkungen der Gewerkschaftsfreiheit betonte der FA-Senator Oscar Andrade, dass eine Reihe von Artikeln wortwörtlich aus den Zeiten der Diktatur übernommen wurden.

Im Artikel 11 des Gesetzespakets wird ein neues Delikt geschaffen, das auch die Pressefreiheit eindeutig einschränkt: "Wer die Polizeibehörde bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben oder anlässlich dieser Aufgaben behindert, beleidigt, Gegenstände wirft, bedroht oder mit Worten, Schriften oder Taten beleidigt, wird mit einer Haftstrafe von drei bis achtzehn Monaten bestraft."

Die Interamerikanische Presseorganisation wies darauf hin, dass hier ein neues “Kommunikationsdelikt” geschaffen wird, das die Freiheit der Meinungsäußerung und der Presse einschränkt, "ausgerechnet in einer Zeit, in der eine Kontroverse über den Missbrauch polizeilicher Gewalt auf der Welt besteht".

Ein weiteres brisantes Thema ist die Schaffung eines Geheimdienstes, der direkt dem Präsidenten unterstellt ist. Lacalle folgt damit dem Beispiel von Chiles Präsident Sebastian Piñera, der vor wenigen Monaten ein gleiches Gesetz im Eilverfahren inmitten der Pandemie durchbrachte.

Kritik gibt es an dem Paket aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft und von internationalen Organisationen; so von Experten der UNO, die wegen der Beschneidungen der Informationsfreiheit bzw. des Rechtes auf Zugang zu staatlichen Informationen ihre Besorgnis vortrugen; desgleichen von Vertretern der Internationalen Arbeitsorganisation wegen Problemen des Streik- und Demonstrationsrechts; oder von Staatsanwälten, die ihre Sorgen wegen Veränderungen im Prozess- und Strafrecht zum Ausdruck brachten. Vertreter der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) kritisierten Beschränkungen der freien Meinungsäußerung. Der Rektor der staatlichen Universität und die Leiter der Fakultäten äußerten sich ebenfalls kritisch. Sie durften allesamt nur 20 Minuten in den entsprechenden Kommissionen des Parlaments sprechen.

Die rechte Parteienkoalition, die im Wahlkampf das Thema der Menschenrechte und der bürgerlichen Freiheiten zu einem zentralen Thema machte und dafür unermüdlich Venezuela anprangerte, beschwert sich nun darüber, dass "ausländische Institutionen" die Argumente der Oppositionspartei Frente Amplio "diktierten", und lehnt die Argumente rundweg ab, die von der UNO und CIDH vorgetragen wurden.

Nicht durchgesetzt werden konnte die Privatisierung der Staatsbetriebe oder deren Nutzung durch private Konkurrenten. Hier waren die Meinungen auch innerhalb der Regierungskoalition geteilt. Das Plebiszit von 1995 gegen die Privatisierungen ist Verfassungsrecht.

Die Details der Paragraphen sind in der Bevölkerung kaum bekannt, kaum diskutierbar ‒ wer kann sich schon mit rund 500 Gesetzen gleichzeitig befassen? Die Bedingungen der Corona-Beschränkungen lähmen zudem den Widerstand auf den Straßen. Alles in allem müsse man das Vorgehen der Regierung als "gewaltfreien Putsch" unter Nutzung der parlamentarischen Mechanismen bezeichnen, so Kritiker.