Haiti / Politik

Gewaltwelle erschüttert Hauptstadt von Haiti

Offensichtlich Zusammenstöße zwischen Banden oder Kämpfe zwischen Banden und Sicherheitskräften. Arme Bevölkerung ohne Schutz

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Ein Student protestiert nach dem Mord an Dorval gegen Unsicherheit und Straflosigkeit. Foto: AlterPresse
Ein Student protestiert nach dem Mord an Dorval gegen Unsicherheit und Straflosigkeit. Foto: AlterPresse

Port-au-Prince. In der Hauptstadt Haitis ist es am Montag, 31. August zu einem Angriff bewaffneter Banden auf den Stadtteil Bel-Air gekommen. Bewaffnete, in zivil gekleidete Milizen schossen am Nachmittag um sich und zündeten mehrere Häuser an, während Flüchtende ins Kreuzfeuer gerieten. Eine Menschenmenge flüchtete daraufhin auf den Hauptplatz der Stadt beim Nationalpalast und bat die Polizei um Hilfe.

Nach Angaben von Augenzeugen hat die Polizei bei dem Angriff auf Bel-Air nicht eingegriffen. Der Angriff hat möglicherweise einer anderen Miliz gegolten. Nach Medienberichten soll es mehrere Tote und Verletzte gegeben haben. Noch am Abend waren Gewehrsalven zu hören. Viele Familien campieren nun aus Angst vor weiteren Übergriffen unter freiem Himmel.

Die Betroffenen beschuldigten Jimmy "Barbecue" Chérisier, den mutmaßlichen Anführer der Bande Delmas 6 sowie die G-9, einen erst kürzlich gegründeten Zusammenschluss einiger Banden. Am Vortag hatte es einen ähnlichen Angriff gegeben, bei denen nach Angaben von Hilfsorganisationen ebenfalls mehrere Menschen verletzt wurden. Auch dabei wurden Häuser in dem Viertel im Stadtzentrum angezündet. Bereits im November 2019 hatte es einen ähnlichen Angriff gegeben.

Bereits in den Tagen zuvor war die Sicherheitslage in der Hauptstadt zunehmend außer Kontrolle geraten. Für besondere Empörung sorgte der Mord am 64-Jährigen Anwalt Monferrier Dorval, der als einer der angesehensten Gelehrten Haitis galt. Er wurde am 28. August von Unbekannten vor seinem Haus erschossen. Am Vortag wurde der Unternehmer Michel Saieh in seinem Fahrzeug getötet. Der Anschlag mit 30 Schüssen ereignete sich mitten am Tag im Zentrum von Port-au-Prince. Am selben Tag wurde der Radiomoderator Frantz Adrien Bony erschossen.

In der Nacht zum 29. August starben zudem mindestens drei Menschen in den Vierteln Petion Ville und Bel-Air. Diese Morde gelten als Teil einer neuen Gewaltwelle und emblematisch für die um sich greifende Unsicherheit. Die Polizei hatte daher die höchste Alarmstufe ausgelöst. Dennoch kam es am 31. August zu dem Angriff.

Das Büro der Vereinten Nationen in Haiti (BINUH) zeigte sich besorgt über die Gewaltwelle, speziell in den marginalisierten Vierteln. Dem Büro zufolge starben zwischen Januar und Juni 159 Menschen, 92 wurden verletzt. Lokale Organisationen kommen jedoch auf deutlich höhere Zahlen. Das Kollektiv Défenseurs Plus spricht von 400 ermordeten Haitianerinnen und Haitianern im selben Zeitraum. Einige von ihnen wurden verbrannt oder geköpft.

Das Kollektiv machte Zusammenstöße zwischen Banden oder Kämpfe zwischen Banden und Sicherheitskräften für die Taten verantwortlich. "Diese andauernden Attentate, die alle sozialen Bereiche betreffen, sind die Konsequenz aus der Straflosigkeit, die das Land plagt, der Verantwortungslosigkeit der Behörden, der Passivität der Bürgerinnen und Bürger angesichts der institutionellen Instabilität und der politischen und sozioökonomischen Krisen, die das Land seit Jahren durchlebt", so das Kollektiv. Es beklagte den Anstieg von Exekutionen, Entführungen und Brandanschlägen in Stadtvierteln wie Grand Ravine, Tibwa, Carrefour und Cité Soleil und forderte den Staat zum Handeln auf.

Der umstrittene Präsident Jovenel Moïse verurteilte die Gewalt und versprach, die Gewaltspirale stoppen zu wollen. Bereits nach dem Mord an Dorval sprach er von einer "Maschinerie der Unsicherheit" sowie von "dunklen Kräften" und verfügte eine dreitägige Staatstrauer.

Während die Regierung beteuerte, die Sicherheit wieder herstellen zu wollen, vermuten Nichtregierungsorganisationen Allianzen mit dem Organisierten Verbrechen. Pierre Espérance, Sprecher des Netzwerks zur Verteidigung der Menschenrechte vermutete eine Unterstützung der Behörden für die Banden unter alias "Barbecue". Die Sicherheitskräfte nutzten die Banden, "um die marginalisierten Viertel zu kontrollieren", erklärte er.

Auch das Büro für Bürgerschutz (OPC) geht davon aus, dass die Banden Unterstützung erhalten. "Sie werden von einem Teil der Behörden geschützt, während die Bevölkerung sich selbst überlassen bleibt", erklärte etwa Renan Hédouville vom OPC. Soziale Organisationen zeigten sich von dem Zusammenschluss der bewaffneten Banden in der Hauptstadt alarmiert. Sie befürchten eine Stärkung des Organisierten Verbrechens und eine weitere Schwächung des Staates.