Präsidentschaftsvorwahlen und Entschädigungsgesetz für Opfer der Proteste in Chile

Sebastián Sichel und Gabriel Boric treten am 21. November gegeneinander an. Neues Gesetz soll Straflosigkeit bei Polizeigewalt verhindern

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Boric bei der Stimmabgabe am 18. Juli
Boric bei der Stimmabgabe am 18. Juli

Santiago. In Chile sind die Kandidaten der Parteienbündnisse für die diesjährigen Präsidentschaftswahl gewählt worden. Für das rechtsgerichtete, regierende Parteienbündnis Chile Vamos setzte sich Sebastián Sichel von der Unabhängigen Partei durch. Ihr gehört auch Präsident Sebastian Piñera an, der nach zwei Amtszeiten nicht erneut kandidieren darf.

Sichel war zuvor unter Piñera Minister für Soziale Entwicklung und Familien gewesen und leitete zuletzt von Juni bis Dezember 2020 die staatliche Bank BancoEstado. In einem Vierkampf setzte sich Sichel gegen Joaquín Lavín, den Bürgermeister des Stadtteils Las Condes in Santiago, gegen Mario Desbordes, der bis Dezember 2020 Verteidigungsminister war, sowie gegen Ignacio Briones, Finanzminister bis Januar 2021, durch.

Auf Seiten der linken und progressiven Kräfte rechnet sich vor allem das Bündnis Apruebo Dignidad (Ich stimme für die Würde) Chancen auf einen Wahlsieg bei den Präsidentschaftswahlen am 21. November aus. Das Parteienbündnis bezeichnet sich selbst als "anti-neoliberale Einheit für ein neues Chile" und wurde im Vorfeld der Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung im Januar 2021 gegründet. Es besteht aus drei Parteien der Frente Amplio (Breite Front) sowie aus der Kommunistischen Partei (PC) und zwei weiteren Parteien des Wahlbündnisses Chile Digno (Würdiges Chile).

Überraschend deutlich mit 60,39 Prozent konnte sich der Abgeordnete der Region Magallanes, Gabriel Boric, von der Frente Amplio gegen den Bürgermeister des Hauptstadsbezirks Recoleta, Daniel Jadue von der PC durchsetzen. Im Vorfeld der Wahl hatte Jadue noch vorne gelegen. Der gratulierte auf Twitter seinem Kontrahenten Boric und sicherte ihm seine Unterstützung zu, "um die Veränderungen zu erreichen, die wir brauchen".

Boric, ehemaliger Präsident des Studierendenverbands FECH, gab sich in seiner ersten Rede als Kandidat kämpferisch und rief zur Einheit auf. "Die Verantwortung, Chile zu verändern, ist eine kollektive. Ich danke unserem Genossen Daniel Jadue, mit dem wir von heute Abend an und mit allen Kräften von Chile Digno zusammenarbeiten werden." Gleichzeitig appellierte er an alle noch unentschlossenen Menschen im Land, mit ihm in Kontakt zu treten, bei ihm würden sie auf einen Kandidaten mit offenen Türen treffen.

Der Apurebo Dignidad-Kandidat, der wesentlich mehr Stimmen benötigen wird als die in den Vorwahlen für sein Bündnis insgesamt abgegebenen 1.734.676 Stimmen, sieht sich indes von linken Kräften Kritik ausgesetzt. So stoßen seine Kommentare zu den sozialistischen Regierungen in Venezuela und Kuba immer wieder auf Ablehnung bei Internationalisten. Boric vertrat in der Vergangenheit wiederholt die Ansicht, dass es in beiden Ländern Menschenrechtsverletzungen gäbe und demokratische Prozesse unterdrückt würden. Zuletzt äußerte er im Rahmen einer Debatte der Vorwahlen seine Solidarität mit den jüngsten Demonstrationen auf Kuba.

Doch auch innenpolitisch steht er bei einigen Linken in der Kritik, da er im Rahmen der Proteste gegen die Regierung seit Oktober 2019 nicht entschieden genug gegen Präsident Piñera vorgegangen sei und während der Hochphase der Proteste einen "Burgfrieden" mit ihm geschlossen habe, berichtet das Nachrichtenportal Resumen Lationamericano. So habe er unter anderem für das "Anti-Barrikaden-Gesetz" gestimmt, das die Regierung gegen diejenigen durchsetzte, die immer wieder auf die Straßen gingen.

Für eben jene Protestierende könnte es in Zukunft einfacher werden, gegen die Regierung zivilrechtlich bei Verletzungen und Verstümmelungen vorzugehen. Die Abgeordnetenkammer stimmte mit 78 zu 59 Stimmen bei fünf Enthaltungen für das Gesetz. Demnach soll Opfern von Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit den Protesten seit Oktober 2019 eine Entschädigung durch den Staat gezahlt werden. Hierzu soll ein besonderes Verfahren eingeführt werden.

Das Gesetz sieht vor, dass die Entschädigungen in einem Verhältnis zur Schwere der Verletzung stehen. Eine Besonderheit stellt die Verantwortung des Staates für "moralische Schäden" dar, die nicht im Einzelnen bewiesen werden muss, sondern vermutet wird. Grundlage hierbei ist, "dass der Staat es versäumt hat, das Recht auf Leben und auf physische und psychische Unversehrtheit der Demonstrierenden oder derjenigen, die sich an Orten aufhielten, an denen soziale Demonstrationen stattfanden, zu schützen". Unter einem "Opfer" wird demnach jede Person verstanden, die individuell oder kollektiv physische oder psychische Verletzungen, Verstümmelungen, Folter, ungesetzlichen Zwang, Demütigungen oder sexuelle Gewalt erlitten hat oder die infolge von Handlungen oder Unterlassungen von Staatsbediensteten im Rahmen von Mobilisierungen der sozialen Revolte zu Tode kamen.

Befürworter des Gesetzes betonten in diesem Zusammenhang, dass derzeit von den ursprünglich 8.000 Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen 6.000 noch offen seien. Circa 50 Prozent der Verfahren würden eingestellt, ohne einen Verantwortlichen zu ermitteln oder eine Strafe auszusprechen. In zweiter Lesung muss das Gesetz noch im Senat verabschiedet werden.